OGH 4Ob205/21g

OGH4Ob205/21g25.1.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden und die Hofräte und Hofrätinnen Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, Dr. Kodek, MMag. Matzka sowie Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder 1. S* W*, geboren am * 2012, 2. M* W*, geboren am * 2014, über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand des Vaters Dr. M* W*, vertreten durch HOSP, HEGEN Rechtsanwaltspartnerschaft und über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter C* W*, vertreten durch Dr. Mag. Silvia Maus, Rechtsanwältin in Salzburg, gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 28. September 2021, GZ 21 R 144/21d‑212, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 26. August 2020, GZ 41 Ps 224/16k‑252 abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0040OB00205.21G.0125.000

 

Spruch:

Der Antrag des Vaters auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erstattung der Revisionsrekursbeantwortung wird bewilligt.

Dem Revisionsrekurs der Mutter wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

[1] S* und M* W* sind österreichische Staatsbürger und die ehelichen Kinder von C* und Dr. M* W*. Die Mutter ist Österreicherin, der Vater deutscher Staatsbürger. Bis 2016 lebten die Kinder in Salzburg (Stadt) zusammen mit ihren Eltern, denen die Obsorge gemeinsam zukam.

[2] Wegen schweren Betrugs befand sich die Mutter von Dezember 2016 bis April 2019 in (Untersuchungs‑ und Straf‑)Haft. Der Vater wurde als Mittäter zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt und war zwei Monate in Untersuchungshaft. Durch die Verhaftung der Mutter trennten sich die Eltern. Seit ihrer Haft wohnen S* und M* bei ihrer Halbschwester (einer weiteren Tochter der Mutter) in einer Wohnung in der Stadt Salzburg. Der Halbschwester wurde mit Beschluss vom 7. Juli 2017 die vorläufige Obsorge über die Kinder übertragen. Der Vater nimmt seit der Trennung Besuchskontakte mit den Kindern wahr und lebt seit August 2018 bei München. Seit Oktober 2018 findet kein Kontakt zum Vater statt. Die Kinder hatten zur Mutter während ihrer Inhaftierung Kontakt. Im April 2019 wurde die Mutter in den elektronisch überwachten Hausarrest (Fußfessel) überstellt. Sie zog daraufhin zu den Kindern und deren Halbschwester. Seit ihrer Enthaftung betreut die Mutter die Kinder hauptsächlich.

[3] Die Eltern begehren in wechselseitigen Anträgen, ihnen jeweils die alleinige Obsorge zu übertragen.

[4] Das Erstgericht hob mit seinem Beschluss vom 26. August 2020 die gemeinsame Obsorge der Eltern für die Kinder (endgültig) auf, entzog dem Vater die Obsorge (endgültig) und übertrug diese der Mutter, sodass die Mutter allein mit der Obsorge für die Minderjährigen betraut ist (Spruchpunkt 1). Bis zur Rechtskraft der Entscheidung wurde der Kinder- und Jugendhilfeträger Land Salzburg vorläufig mit der Obsorge für die Kinder betraut (Spruchpunkt 3). Der Halbschwester der Kinder wurde die vorläufige Obsorge für die Minderjährigen rechtskräftig entzogen (Spruchpunkt 2).

[5] Der vom Erstgericht festgestellte Sachverhalt wird wie folgt zusammengefasst:

Die Kinder haben ein hohes Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität. Sie benötigen Kontinuität und klare Strukturen mit eindeutigen und entwicklungsförderlichen Regeln. Derzeit sind die Minderjährigen in ihrem Erkundigungs- und Explorationsverhalten deutlich eingeschränkt. Es liegt ein Defizit wegen einer ausgeprägten Änderungsintoleranz vor.

[6] Bei den Eltern als auch bei der Halbschwester besteht eine große Bereitschaft, sich erzieherisch zu engagieren und eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Das Wohlbefinden der Minderjährigen ist für alle sehr wichtig.

[7] Die Halbschwester der Kinder ist nicht in der Lage, ihren Verpflichtungen gegenüber den Minderjährigen mit der notwendigen Stabilität und Konsistenz nachzukommen. Deren Erziehungsfähigkeit ist eingeschränkt.

[8] Die Mutter schenkt den Bedürfnissen der Kinder hohe Aufmerksamkeit. Sie ist in der Lage, die Grundbedürfnisse der Kinder (Nahrung, Kleidung, Wohnraum und Gesundheit) zu befriedigen. Ihre an sich sinnvolle Strategie, die Kinder auf jede neue Situation und jede kleine Veränderung gut vorzubereiten, hat jedoch Dimensionen erreicht, wo sich die Effekte ins Gegenteil verkehren. Alltägliche Situationen werden von den Kindern als potentielle Gefahr empfunden. Dies alles kann langfristig dazu führen, dass die Minderjährigen ihre gesamte Umwelt sukzessive als gefährlich und bedrohlich erleben und langfristig nur mehr das Zuhause und der Kontakt zur engsten Bezugsperson Sicherheit bietet. Die Mutter verstärkt das unsichere Bindungsverhalten der Kinder.

[9] Die Mutter hat eine Persönlichkeitsstörung des Clusters B. Zentrales Merkmal sind dabei Manipulationen. In ihrem Verhalten sind viele Merkmale einer Borderline‑Persönlichkeitsstörung zu finden. Diese Störung ist durch ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und den Affekten sowie eine deutliche selbstschädigende Impulsivität gekennzeichnet. Das ist mit einer deutlichen Einschränkung der Erziehungskompetenzen verbunden. Die hohe Instabilität in ihrem Verhalten hat massive Auswirkungen auf die Lebensbedingungen ihrer Kinder.

[10] Der Vater vermittelt den Kindern emotionale Wärme, Geborgenheit und Sicherheit. Es steht nicht fest, dass die Kinder während der Betreuung durch ihn geschädigt wurden. Der Vater ist gelassen, selbstbeherrscht, emotional stabil, wenig ehrgeizig, warmherzig und hilfsbereit. Hinweise auf eine psychische Störung, Defizite in der Impulskontrolle oder eine nicht hinreichend rationale Handlungssteuerung liegen nicht vor. Es liegt aber insoweit eine Einschränkung seiner Erziehungskompetenz vor, weil er allen Initiativen und Informationen der Mutter misstraut. Er versucht, die „wahren Absichten“ von Mutter und Halbschwester gegenüber Behörden offenzulegen und zu beweisen. Er ist dadurch zum Teil daran gehindert, die Bedürfnisse der beiden Minderjährigen in einem Ausmaß wahrzunehmen, wie es notwendig wäre. Ungeachtet dieser Einschränkungen ist er in der Lage, die Obsorge auszuüben.

[11] Die Erziehungskonzepte der Eltern unterscheiden sich. Zwischen dem Vater einerseits und der Mutter sowie der Halbschwester andererseits bestehen zahlreiche Konflikte. Im Verlauf des Verfahrens ist die Kooperationsbasis zur Gänze verloren gegangen. Eine Kooperation und Kommunikation zwischen den Eltern existiert derzeit nicht. Aufgrund dieser bestehenden Defizite und Konflikte ist es derzeit nicht möglich, Besuchskontakte zum Vater ohne Belastungen für die Minderjährigen zu organisieren und durchzuführen.

[12] Die Minderjährigen haben eine sehr enge Beziehung zur Mutter. Wenn der hauptsächliche Aufenthalt der Minderjährigen nicht mehr bei der Mutter wäre, wäre das kurzfristig eine extrem schwierige Situation für die Kinder. Ein Aufenthalt der Minderjährigen beim Vater würde einen Wechsel in den gewohnten Bedingungen, eine Unterbrechung der Kontinuität und auch eine deutliche Destabilisierung und Unsicherheit für die Minderjährigen nach sich ziehen. Nach einer gewissen Übergangsphase ist es möglich, dass die Minderjährigen wieder Vertrauen und Sicherheit gewinnen können. Wenn die Kinder in der neuen Umgebung stabile Lebensbedingungen und Unterstützung erhalten würden und Kontakt zu beiden Eltern gewährleistet wäre, wäre die Belastung bei einer grundlegenden Veränderung nur kurzfristig.

[13] Die vorläufige Übertragung der Obsorge an den Kinder- und Jugendhilfeträger hätte zur Folge, dass sich keiner der beiden Elternteile in Sicherheit wiegen könnte, sodass beide Parteien in diesem Prozess ihre Compliance hinreichend unter Beweis stellen müssten. Auf der Grundlage der dabei gewonnenen Erfahrungswerte mit der veränderten Situation und den dabei angestoßenen Prozessen wäre dann eine fundierte Entscheidung möglich, welche Varianten des Aufenthalts und der Besuchskontakte dem Kindeswohl am besten entsprächen. Einer Traumatisierung durch einen Ortswechsel steht eine Schädigung durch eine Dauerbelastung gegenüber, wenn zum Beispiel die Kinder in einer Situation leben, in der sie nicht Kontakt zu beiden Elternteilen haben können.

[14] In rechtlicher Hinsicht hob das Erstgericht die Kriterien zum Kindeswohl (§ 138 ABGB) hervor. Mangels Kooperation zwischen den Eltern sei eine gemeinsame Obsorge nicht möglich. Eine Übertragung der Obsorge an die Halbschwester sei aufgrund der Feststellungen nicht zu befürworten. Eine vorläufige Obsorge des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers mit Übergangsphase und ein nachfolgender Wechsel der Kinder zum Vater wäre mit einer massiven Belastung der Kinder verbunden. Das Erstgericht betonte den Kontinuitätsgrundsatz, zumal die Kinder seit 2019 mit der Mutter lebten und auch schon während der Haft Kontakt mit ihr gehabt hätten, während sie vom Vater bereits seit 2016 getrennt seien.

[15] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vaters Folge und änderte die Entscheidung (in Spruchpunkt 1) dahin ab, dass die gemeinsame Obsorge aufgehoben, der Mutter die Obsorge entzogen und diese auf den Vater übertragen werde.

[16] Es hob die eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Mutter hervor und die damit verbundenen massiven Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Kinder, während ein Wechsel zum Vater nur mit einer kurzfristigen Destabilisierung und Unsicherheit für die Minderjährigen verbunden sei und nach einer gewissen Übergangsphase die Minderjährigen wieder Vertrauen und Sicherheit gewinnen könnten. Angesichts der massiven Einschränkung der Erziehungseignung der Mutter könne dem grundsätzlich zu beachtenden Kontinuitätsgrundsatz nicht das vom Erstgericht beigemessene Gewicht zuerkannt werden. Eine Änderung von Pflegeplatz und -person sei hier angezeigt, weil sich die Verhältnisse seit der letzten Verfügung derart geändert hätten, dass eine Neuregelung im Interesse des Minderjährigen erforderlich sei.

[17] Das Rekursgericht berücksichtigte als Neuerung die vom Vater geltend gemachte „Entwicklung seit der Verhandlung vom 17. Juni 2020“. Das führte zur Beurteilung, dass im Hinblick auf die deutliche Einschränkung der Erziehungskompetenzen der Mutter eine Übertragung der Obsorge an den Vater, bei dem im Verfahren keine Einschränkungen seiner Erziehungsfähigkeit hervorgekommen seien, dem Kindeswohl besser entsprächen. Im Hinblick auf die massiven Erziehungsdefizite auf Seiten der Mutter müsse davon ausgegangen werden, dass ein Gefährdungstatbestand im Sinne des § 181 Abs 1 ABGB vorliege, sodass die Voraussetzungen des § 180 Abs 3 ABGB hier nicht mehr näher zu prüfen seien.

[18] Mangels erheblicher Rechtsfrage ließ das Rekursgericht den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu.

[19] Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter, der auf die Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung abzielt. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[20] Der Oberste Gerichtshof stellte dem Vater mit Beschluss vom 16. Dezember 2021 die Beantwortung des außerordentlichen Revisionsrekurses nach § 71 Abs 2 AußStrG frei. Der Beschluss wurde seinem anwaltlichen Vertreter elektronisch am 20. Dezember 2021 zugestellt. Erst am 10. Jänner 2020, also eine Woche nach Ablauf der 14‑tägigen Frist wurde eine Rechtsmittelbeantwortung erstattet, verbunden mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Zum Wiedereinsetzungsantrag:

[21] Bei Freistellung der Rechtsmittelbeantwortung ist ein Antrag auf Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Revisionsrekursbeantwortungsfrist unmittelbar beim Obersten Gerichtshof einzubringen (RS0111775; § 148 Abs 1 ZPO iVm § 21 und § 68 Abs 4 Z 2 AußStrG). Der Vater brachte daher den Wiedereinsetzungsantrag zutreffend beim Obersten Gerichtshof ein.

[22] Nach dem vom Vater zum Wiedereinsetzungsantrag vorgebrachten und urkundlich bescheinigten Sachverhalt wurde die Frist aufgrund einer Fehlleistung in der Kanzlei des anwaltlichen Vertreters des Vaters versäumt.

[23] Die Versäumung der Prozesshandlung beruht im Anlassfall bloß auf einen minderen Grad des Versehens im Sinne des § 146 Abs 1 ZPO (§ 21 AußStrG), sodass dem Wiedereinsetzungsantrag stattzugeben und dem Revisionsrekursverfahren auch die vom Vater in Verbindung mit dem Restitutionsantrag nachgeholte Rechtsmittelbeantwortung zugrundezulegen ist.

[24] Der Vater beantragt, den Revisionsrekurs der Mutter zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[25] Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[26] 1. Die Entscheidung, welchem Elternteil die Obsorge für das Kind übertragen werden soll, ist grundsätzlich eine Frage des Einzelfalls, der in der Regel keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG zuerkannt werden kann (RS0007101). Das setzt allerdings voraus, dass ausreichend auf das Kindeswohl Bedacht genommen wurde (RS0115719; RS0007101 [T8]; RS0097114 [T1, T18]). Die getroffenen Feststellungen lassen jedoch keine gesicherte Beurteilung zu, ob die Übertragung der alleinigen Obsorge auf den Vater dem Kindeswohl entspricht. Das gilt auch für die vom Erstgericht vorgenommene Betrauung der Mutter mit der alleinigen Obsorge.

[27] 2. Das Rekursgericht hat seine Entscheidung auf § 181 Abs 1 ABGB gestützt. Nach dieser Bestimmung hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Eine Verfügung, mit der die Obsorge entzogen wird, kommt dabei nur als ultima ratio in Betracht (vgl dazu RS0132193). Eine Obsorgeentziehung kann nur dann angemessen sein, wenn die Nachteile und Gefahren der Aufrechterhaltung der bisherigen Verhältnisse für das Kindeswohl eindeutig jene übersteigen, die mit dem Wechsel notwendigerweise einhergehen (8 Ob 7/14h).

[28] 3.1 Bei einer Obsorgeentscheidung handelt es sich um eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung. Diese kann zum einen nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf aktueller und ausreichender Sachverhaltsgrundlageberuht (RS0106312; vgl 5 Ob 97/21g zum Obsorgeentzug ohne Tatsachengrundlage). Zum anderen setzt ein Obsorgewechsel eine Zukunftsprognose über seinen Einfluss auf das Kind voraus (7 Ob 523/93; 10 Ob 25/00z; 5 Ob 103/10y; 8 Ob 7/14h; 8 Ob 49/17i; RS0048632).

[29] 3.2 Die Tatsachengrundlage, die Anlass für den Obsorgeentzug des Rekursgerichts im September 2021 war, stammt aus November 2019 (Befundaufnahme). Damit ist es zweifelhaft, ob eine aktuelle Gefahrenlage vorliegt (vgl 4 Ob 216/19x). Nach den Feststellungen liegen zwar Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit der Mutter vor. Es bleibt aber offen, ob die Erziehungsfähigkeit nur beeinträchtigt ist, aber mit unterstützenden Maßnahmen die Defizite kompensierbar wären, oder von Erziehungsunfähigkeit gesprochen werden muss (8 Ob 7/14h).

[30] 3.3 Das gemäß § 66 Abs 2 AußStrG im Revisionsrekursverfahren geltende Neuerungsverbot ist im Obsorgeverfahren aus Gründen des Kindeswohls insofern durchbrochen, als der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, auch dann berücksichtigen müsste, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind (RS0106312 [T1]).

[31] 3.4 Insoweit das Rekursgericht „die Entwicklung seit der Verhandlung vom 17. Juni 2020“ als Neuerung heranzieht, bleibt unklar, worin die Neuerungen konkret bestehen. Das Rekursgericht beschränkte sich darauf, das Vorbringen des Vaters als „beachtlich“ zu qualifizieren und darauf seine Beurteilung zu stützen, dass ein Wechsel zum Vater dem Kindeswohl eher entspricht. Die weiteren Ausführungen nehmen aber Bezug auf wörtliche Feststellungen des Erstgerichts bzw auf das damals schon vorgelegene Gutachten.

[32] 3.5 Die Mutter argumentiert im Revisionsrekurs damit, dass sie im regelmäßigen Kontakt mit dem Kindes- und Jugendhilfeträger stehe und von diesem intensiv betreut und engmaschig kontrolliert werde. Sie nehme auch regelmäßig Psychotherapie in Anspruch, um Erziehungsdefiziten erfolgreich begegnen zu können und ihren Kindern ein stabiles Umfeld zu bieten. Dies habe zu einer verbesserten Situation der Mutter und der Kinder geführt. Der Kinder- und Jugendhilfeträger als Obsorgeträger sah sich während des Beobachtungszeitraums von mehr als einem Jahr nicht veranlasst, zu intervenieren. Die Ausführungen finden Deckung insbesondere in einem Bericht des Kinder- und Jugendhilfeträgers vom 18. Oktober 2021.

[33] 3.6 Da hier die Einschränkungen und Defizite der Erziehungsfähigkeit der Mutter maßgeblich für die Beurteilung der Kindeswohlgefährdung durch das Rekursgericht waren, sich die laufende Unterstützung und Therapie der Mutter aber auf ihre Erziehungskompetenz (allenfalls) positiv auswirken könnten, wird das Erstgericht zu dieser Frage Feststellungen zu treffen haben. Dabei wird auch auf die Ausführungen in der Revisionsrekursbeantwortung, wonach sich keine Veränderung in den erzieherischen Defiziten der Mutter ergeben habe, Bedacht zu nehmen sein (siehe jüngst zu einer vergleichbaren Konstellation: 5 Ob 97/21g).

[34] 3.7 Die bisherigen Feststellungen können einen auf die Erziehungsdefizite der Mutter gestützten Gefährdungstatbestand (noch) nicht tragen, sodass die Rekursentscheidung jedenfalls nicht bestätigt werden kann. Die noch ungeklärte Situation hinsichtlich der Erziehungskompetenz der Mutter kann aber ebenso wenig zur Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung führen, sodass dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verbreiterung der Sachverhaltsgrundlage aufzutragen ist.

Dabei wird auch noch Folgendes zu berücksichtigen sein:

[35] 4. Grundsätzlich soll die gemeinsame Obsorge beider Eltern angestrebt werden.

[36] 4.1 Eine solche kommt aber nur dann in Frage, wenn ein Mindestmaß an Kooperationsbereitschaft vorhanden ist und beide Elternteile bereit und in der Lage sind, an der gemeinsamen Erfüllung der mit der Obsorge verbundenen Aufgaben mitzuwirken (RS0130248). Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Es ist von Bedeutung, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder ob zumindest in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet werden kann (RS0128812).

[37] 4.2 Aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen entspricht eine gemeinsame Obsorge wegen der nicht existierenden Kooperation und Kommunikation zwischen den Eltern derzeit nicht dem Kindeswohl.

[38] 5. Bei der zu treffenden Obsorgeentscheidung wird auch das Postulat der Erziehungskontinuität zu berücksichtigen sein.

[39] 5.1 Die Kinder leben seit Jahren bei der Mutter; ein Kontakt zum Vater hat seit Jahren nicht mehr stattgefunden. Die Änderung des hauptsächlichen Aufenthaltsorts des Kindes muss – um eine Neuregelung begründen zu können – bei Beurteilung des Kindeswohls in der Gesamtschau unter Berücksichtigung einer Zukunftsprognose so gewichtig sein, dass die Bedachtnahme auf die Erziehungskontinuität in den Hintergrund tritt (RS0047928 [T16]).

[40] 5.2 Zu berücksichtigen ist dabei auch die Nachhaltigkeit der mit dem Obsorge‑ und Ortswechsel verbundenen Belastungen der Kinder. Der gebotenen Gesamtschau steht im Anlassfall aber entgegen, dass jegliche Feststellungen zu den aktuellen Lebens- und Wohnverhältnissen des Vaters sowie zu den dortigen Unterstützungsmöglichkeiten für die Kinder fehlen. Das Rekursgericht hat zudem ausgeblendet, dass die Erziehungskompetenz des Vaters eingeschränkt ist.

[41] 5.3 Insoweit das Rekursgericht damit argumentiert, dass ein Obsorgewechsel zum Vater die Kinder nur kurzfristig belasten würde, deckt sich das nicht mit den Feststellungen. Demnach würde die Belastung für die Kinder wegen der grundlegenden Veränderung nur unter bestimmten Bedingungen kurzfristig sein. Es müsste zum einen gesichert sein, dass die Kinder in der neuen Umgebung stabile Lebensbedingungen und Unterstützung erhalten. Zum anderen müsste der Kontakt zu beiden Eltern gewährleistet sein. Damit ist nicht gesichert, ob die Belastung kurzfristig ist, weil die Kurzfristigkeit von Bedingungen abhängig gemacht wurde, die gar nicht geprüft wurden. Es muss damit die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass die dauerhafte Trennung von der Mutter eine besondere Belastung für die Kinder bedeutet.

[42] 6. Aus diesen Gründen sind die Beschlüsse der Vorinstanzen aufzuheben. Das Erstgericht wird nach Verfahrensergänzung im aufgezeigten Sinn seine neuerliche Entscheidung zu treffen haben.

[43] 7. Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger wurde mit dem (insoweit rechtskräftigen) erstgerichtlichen Beschluss „bis zur Rechtskraft der Entscheidung“ mit der vorläufigen Obsorge für die Kinder betraut. Damit ist eine endgültige (inhaltliche) Entscheidung über die Obsorge gemeint, die Betrauung erstreckt sich daher auch auf den folgenden Rechtsgang (vgl 4 Ob 110/20k).

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