Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluß des Rekursgerichtes aufgehoben und diesem eine neue Entscheidung aufgetragen.
Text
Begründung
Die am 15.Juli 1982 geborene Sonja W***** entstammt der am 6.6.1990 (zum zweiten Mal) geschiedenen Ehe des Erich und der Elisabeth W***** nunmehr wiederverehelichte S*****. Ein bereits während der aufrechten Ehe, jedoch nach Trennung der Ehegatten gestellter Antrag des Vaters auf Obsorgeübertragung wurde vom Erstgericht mit rechtskräftigem Beschluß vom 2.10.1989 abgewiesen und der Mutter die alleinige Obsorge über die mj. Sonja übertragen (ON 21). Das zweite in der Ehe (am 10.1.1986) geborene Kind Mario wurde mit Urteil des Bezirksgerichtes Herzogenburg vom 2.9.1991 zu 1 C 700/90-12 für nicht ehelich erklärt. Obwohl der Vater im Scheidungsvergleich mit der weiteren Obsorgeausübung über die mj. Sonja durch die Mutter einverstanden war (ON 24), stellte er in der Folge den Antrag, den Vergleich in diesem Punkt nicht zu genehmigen und ihm die Obsorge zu übertragen (ON 31). Die Mutter begehrt die Abweisung dieses Antrages (ON 43). Die mj. Sonja lebt mit ihrem Bruder Mario im Haushalt ihrer Mutter und deren Lebensgefährten.
Das Erstgericht entzog der Mutter die Obsorge und übertrug sie dem Vater. Es stellte fest:
Die mj. Sonja ist ein altersentsprechend entwickeltes, konkaktbereits, intellektuell durchschnittlich befähigtes Kind. Sie besucht derzeit mit gutem Erfolg die 4.Klasse Volksschule in Oberwölbling und ist in die Klassengemeinschaft gut integriert. In ihrer Freizeit lernt sie an einer Musikschule Klarinette, sie spielt auch Flöte, ministriert und besucht einen Turnkurs. Geprägt durch den heftigen familiären Konflikt läßt sie sich immer wieder zu divergierenden Äußerungen verleiten. Die Labilität in der Haltung gegenüber gewohnten Personen ist bezeichnend für ihr Erleben und Reagieren. Sonja hegt den mehrfach geäußerten Wunsch, beim Vater zu leben. Sie hat zu ihm eine ambivalente Beziehung, er ist erwünschte und bewunderte Bezugsperson, die Angst vor seiner Stärke wird aber geleugnet. Sonja ist zwar mit ihrer Mutter identifiziert, zeigt aber aggressive Tendenzen und eine oppositonielle Haltung ihr gegenüber, die sich in massiver Abwendung von der Mutter manifestiert; ihre Beziehung zur Mutter ist angstbesetzt. Positive Ereignisse im mütterlichen Milieu lösen bei ihr Freude aus. Alle paar Wochen erhält Sonja von ihrer Mutter leichte Ohrfeigen, die keine Verletzungsspuren hinterlassen. Anlaß für solche Züchtigungen ist des öfteren ein vorangegangener Streit mit ihrem Halbbruder Mario. Die Ablehnung Sonjas gegenüben der Mutter ist derzeit so groß, daß diese beim Kind kaum eine Chance hat, pädagogisch wirksam zu werden. Dies deshalb, weil sich aus der wissenschaftlichen Erfahrung ergibt, daß jener Elternteil die beste Möglichkeit für eine gedeihliche Erziehung des Kindes hat, welchem die meiste Zuneigung und das Vertrauen entgegengebracht wird, was im vorliegenden Fall der Vater ist. Aus kinderpsychologischer Sicht ist ein allfälliger Trennungsschmerz Marios durch einen Auszug Sonjas kein ausschlaggebendes Argument für einen Verbleib Sonjas bei der Mutter.
Der Vater lebt seit Jänner 1990 mit seiner Lebensgefährtin Anna B***** und deren beiden 11 bzw. 9 Jahre alten Kindern Daniela und Philipp in deren neugebautem Einfamilienhaus in ***** M*****. In dem geräumigen und gepflegten Haus steht eine Wohnfläche von ca. 200 m2 zur Verfügung, darunter zwei Kinderzimmer. Der Vater ist Fahrdienstleiter bei den Österreichischen Bundesbahnen in K*****, nebenbei hilft er seiner Lebensgefährtin in ihrer kleinen Landwirtschaft. Diese arbeitet halbtags auch als Heimarbeitskraft, sie finalisiert Tastaturen für Computer und medizinische Geräte. Ihre Beziehung zur mj. Sonja ist gut, die Minderjährige sieht in ihr eine Person, mit der sie sich aussprechen kann. Frau B***** ist eine pädagogisch geschickte, ruhige und einfügsame Frau, die in der Lage ist, Sonja während der beruflichen Abwesenheit des Vaters zu betreuen. Die Beziehung Sonjas zu den Kindern von Frau B***** ist gut, die beiden wollen die mj. Sonja gerne bei sich aufnehmen. Dieses gute Verhältnis kann für alle drei Kinder einen Gewinn in der personalen und sozialen Entfaltung nach sich ziehen. Vom väterlichen Haushalt aus besteht für die mj. Sonja die Möglichkeit, die Daniel Gran-Schule in St.Pölten zu besuchen, sie könnte dorthin in 15 Minuten gemeinsam mit den Kindern von Frau B***** mit dem Postbus fahren. Der Schulwechsel wäre für das Kind relativ leicht zu bewältigen, da die Zuteilung an das väterliche Milieu ihren Wünschen entspricht und sie sich recht leicht in eine neue Gemeinschaft eingliedern kann. Sonja befindet sich auf der Stufe der reifen Kindheit und hat dementsprechend im Zuge der Entwicklung die besten Chancen für die Bewältigung tiefgreifender Milieuänderungen. Die Mutter lebt in einer Mietwohnung in U*****, die aus Wohnküche, Kinderzimmer und Schlafzimmer besteht; der Bau eines eigenen Hauses ist geplant. Sie ist Hausfrau und kann die Kinder nach der Schule betreuen. Gelegentlich ist sie als Aushilfskellnerin bei einem Heurigen beschäftigt, wohin sie die Kinder dann nachmittags mitnimmt; abends paßt ihr Lebensgefährte auf die Kinder auf, fallweise seine Mutter. Der Lebensgefährte der Mutter ist gelernter Zimmerer, arbeitet jedoch als Tankwart an einer Tankstelle in K*****. Er wird von Sonja ebenfalls als "Papa" bezeichnet.
Sonja zieht den Vater massiv vor, sie idealisiert jedoch dabei das väterliche Milieu, während das mütterliche Milieu abgewertet wird. Aufgrund einer nicht gelösten ödipalen Situation kommt es zu den oben genannten Tendenzen Sonjas, sie fühlt sich von der Mutter zu wenig akzeptiert und versucht, den Vater gegen die Mutter auszuspielen, sie ist dabei auf materielle Vorteile bedacht. Von der Mutter und deren Lebensgefährten wird Sonja als egoistisch, herrschsüchtig, boshaft und erpresserisch gegenüber dem kleineren Bruder und mit ihren Aussagen als unglaubwürdig hingestellt. Im väterlichen Bereich wird sie hingegen als lieb, ehrlich, zugänglich, verständig und nachgiebig gegenüber dem Bruder beschrieben.
Rechtlich vertrat das Erstgericht die Auffassung, daß eine Obsorgeänderung nur unter den Voraussetzungen des § 176 ABGB, nämlich bei Gefährdung des Kindeswohles möglich sei. Tatsächlich sprächen aber besonders wichtige Gründe dafür, weil die Mutter als Erzieherin wesentlich problematischer als der Vater sei. Dazu komme, daß der Vater Sonja wohlwollend gegenüberstehe, was von der Mutter nicht behauptet werden könne. Keine Rolle für diese Entscheidung spielten Mißhandlungen durch die Mutter, da massive Folgen nicht erwiesen werden konnten.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter Folge und änderte diese Entscheidung in eine Abweisung des Antrages des Vaters auf Obsorgeübertragung ab. Eine Behandlung der Mängel- und Beweisrüge des Rekurses sei entbehrlich, weil keine Pflichtvernachlässigung der Mutter und sohin keine wichtigen Gründe für einen Obsorgewechsel vorlägen.
Rechtliche Beurteilung
Der gegen diese Entscheidung erhobene ao. Rekurs des Vaters ist zulässig und berechtigt.
Daß von den Vorinstanzen nicht über den Antrag auf Genehmigung bzw. Nichtgenehmigung des Scheidungsvergleiches abgesprochen worden ist, schadet nicht, weil die getroffenen Entscheidungen die einander entgegengesetzten Anträge der Eltern sachlich erledigten.
Zutreffend haben die Vorinstanzen erkannt, daß die Meinung des Kindes, bei welchem Elternteil es bleiben will, trotz der Bestimmung des § 178b ABGB keinen relevanten Einfluß auf die Entscheidung über die Obsorgeübertragung auszuüben hat (vgl. Pichler in Rummel ABGB2 § 178b Rz 6). Die Anhörung der Kinder dient dazu, daß der Richter die entscheidungswesentlichen Umstände auch aus deren Sicht und deren Empfindungen erkennen und ins klare setzen kann. So wichtig es auch für den Richter ist, sich von der Familie bzw. den Obsorgeverhältnissen ein Bild zu machen, so entspricht es doch gesicherter psychologischer Erkenntnis (Figtor, ÖA 1990, 7), daß die Befragung der Kinder nach ihrer Präferenz für den einen oder anderen Elternteil - abgesehen von der entscheidungspsycholgisch erklärbaren Unverläßlichkeit und fehlenden Signifikanz solcher Präferenzäußerungen - die befragten Kinder in hohem Maß überlastet und mit großer Wahrscheinlichkeit in schwere Loyalitätskonflikte, Schuldgefühle oder gar Vergeltungsängste stürzt, was deren künftige Beziehung zu beiden Elternteilen schwer belastet und die seelische Entwicklung der Kinder gefährden kann.
Die Obsorge darf nach ständiger Rechtsprechung (EFSlg. 62.864; SZ 51/136 uva; Pichler in Rummel ABGB2 § 177 Rz 2) nur dann auf den anderen Elternteil übertragen werden, wenn die Voraussetzungen des § 176 Abs.1 ABGB - also Gefährdung des Kindeswohles - gegeben sind, der Obsorgeberechtigte demnach die elterlichen Pflichten objektiv nicht erfüllt oder subjektiv gröblich vernachlässigt (vgl. SZ 53/142 uva; Pichler in Rummel ABGB2 § 176 Rz 1). Dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen, sodaß nur sichere Prognosen für eine erhebliche Förderung des Kindeswohls eine Änderung gestatten (EFSlg. 62.865 ua.). Vor allem dürfen Vorkehrungen im Sinne des § 176 ABGB nicht schon dann getroffen werden, wenn die Verhältnisse beim anderen Elternteil zwar an sich besser wären, die Pflege und Erziehung durch den Obsorgeberechtigten aber keinen Anlaß zur Besorgnis bieten (vgl. EFSlg. 51.284 ua). Dem Revisionsrekurswerber ist aber darin beizupflichten, daß körperliche Mißhandlungen, auch wenn sie keine sichtbaren Merkmale und Folgen nach sich ziehen, dem Kindeswohl entgegenstehen. Durch die körperliche Züchtigung der Kinder verstößt der obsorgeberechtigte Elternteil gegen das dem § 146a ABGB durch Art.I Z 5 KindRÄG angefügte, seit 1.7.1989 in Kraft befindliche Gewaltverbot, wonach die Anwendung von Gewalt und die Zufügung körperlichen und seelischen Leides unzulässig sind. Es ist damit jede unzumutbare, dem Kindeswohl abträgliche Behandlung untersagt. Das schließt nicht nur Körperverletzung und die Zufügung körperlicher Schmerzen ("gsunde Watschn" - vgl. Pernhaupt-Czermak, Die gesunde Ohrfeige macht krank [1980] 81 ff) aus, sondern auch jede sonstige die Menschwürde verletzende Behandlung, selbst wenn das Verhalten vom Kind im konkreten Fall nicht als "Leid" empfunden werden sollte (Schwimann in Schwimann, Praxiskommentar zum ABGB § 146a Rz 3). Ausdrückliche Absicht der zitierten Novellierung ist die gewaltfreie Erziehung. Die Zufügung von körperlichem und seelischem Leid sind rechtswidrige Erziehungsmethoden; ein nachhaltiger Verstoß gegen das Gewaltverbot des § 146a ABGB kann einen Obsorgewechsel rechtfertigen (vgl. JBl. 1992, 639 mwN). Von einmaligen Vorfällen, die eine Obsorgeentziehung nicht rechtfertigen könnten (vgl. ÖA 1990, 52), weil nicht zu befürchten ist, daß sie sich auch in Zukunft wiederholen werden, kann nach den Feststellungen des Erstgerichtes keine Rede sein. Auch die vom Erstgericht als äußerst beschränkt festgestellte Möglichkeit der Mutter, auf die mj. Sonja pädagogisch einwirken zu können, würde gerade im Zusammenhang mit einer rechtswidrigen Erziehungsmethode für einen Obsorgewechsel sprechen. Das Rekursgericht hat es jedoch unterlassen, die Beweis- und Mängelrüge der Mutter zu diesen Punkten (vgl. AS 228 f) zu behandeln, und dies damit begründet, daß es den festgestellten Sachverhalt rechtlich im Sinne einer Antragsabweisung würdige. Lagen aber die vom Erstgericht festgestellten Mißhandlungen vor und sind sie weiterhin zu befürchten, und sollte die Mutter wegen ihrer Ablehnung durch Sonja bei dem Kind tatsächlich keine Chance haben, pädagogisch wirksam zu werden, stünde die Entscheidung der zweiten Instanz mit der Gesetzeslage und der hiezu ergangenen Rechtsprechung nicht in Einklang. Die Rekursentscheidung war daher aufzuheben und dem Rekursgericht eine neue Entscheidung aufzutragen, in der es darzulegen haben wird, ob es tatsächlich davon ausgeht, daß der Mutter praktisch keine Möglichkeit offensteht, auf das Kind pädagogisch einzuwirken und daß die mj. Sonja alle paar Wochen von der Mutter Ohrfeigen erhält, und ob eine solche Vorgangsweise der Mutter auch in Zukunft zu erwarten ist oder nicht. Sollte dies, wie das Erstgericht festgestellt hat, der Fall sein, wäre raschest ein Obsorgewechsel zum Vater geboten. Dem Revisionsrekurs war daher Folge zu geben und die Rekursentscheidung aufzuheben.
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