European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0140OS00123.14S.1201.000
Spruch:
Die Grundrechtsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Gründe:
In der im Verfahren gegen Daniel I***** und einen anderen Angeklagten wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 Z 2 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 30 Hv 22/14p des Landesgerichts Ried im Innkreis, (auch) am 16. Juli 2014 durchgeführten Hauptverhandlung wurde John S***** als (Tat-)Zeuge vernommen und verweigerte trotz Belehrung nach „§§ 154 Abs 1 und Abs 2, 161 Abs 1 und Abs 2, 248 Abs 1 und 93 Abs 2 und Abs 4 StPO“ mit der Begründung die Aussage, er sei von der Justiz im Stich gelassen worden und nehme auch eine mehrmonatige Freiheitsstrafe in Kauf (ON 45 S 25 f), nachdem er bereits in einem Schreiben an das Gericht vom 4. Juli 2014 angekündigt hatte, nicht als Zeuge auszusagen (ON 44a).
Über Antrag der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft fasste der Einzelrichter daraufhin den Beschluss auf Verhängung einer Beugehaft in der Dauer von drei Wochen über den Genannten (§ 154 Abs 2 iVm §§ 248 Abs 1 erster Satz, § 93 Abs 2 und Abs 4 StPO; ON 45 S 26). Die Hauptverhandlung wurde ‑ nach Vernehmung weiterer Zeugen ‑ sodann (unter anderem) zur neuerlichen Ladung des Zeugen John S***** „nach Verbüßung dessen Beugehaft“ auf unbestimmte Zeit vertagt (ON 45 S 35).
Eine ‑ entsprechend der Rechtsmittelbelehrung in der dem Zeugen in der Folge zugestellten Beschlussausfertigung (ON 46 S 3) ‑ gegen den vorgenannten Beschluss erhobene Beschwerde des John S***** (ON 47) wies das Oberlandesgericht Linz mit Beschluss vom 9. September 2014, AZ 7 Bs 140/14h, ‑ im Wesentlichen zufolge fehlender Beschwerdelegitimation eines Zeugen gegen in der Hauptverhandlung verkündete Beschlüsse, so auch gegen einen solchen auf Verhängung einer Beugehaft ‑ als unzulässig zurück und wies in der Begründung darauf hin, dass derartige Entscheidungen nur mit Grundrechtsbeschwerde oder Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes angefochten werden könnten (ON 52).
Mit Entscheidung vom selben Tag, AZ 7 Bs 141/14f, gab das Oberlandesgericht (unter anderem) der Beschwerde des Genannten gegen den Beschluss des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 7. August 2014, GZ 30 Hv 22/14p‑48, mit dem sein ‑ gleichzeitig mit der Ausführung des Rechtsmittels gegen die Verhängung der Beugehaft gestellter ‑ Antrag auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers „in dieser Angelegenheit“ (ON 47) abgewiesen worden war, nicht Folge, weil ein Zeuge „keinen Anspruch auf Verfahrenshilfe“ habe (ON 53).
Nach Zustellung dieser beiden Beschlüsse samt Belehrung, dass eine Grundrechtsbeschwerde gegen den Beschluss auf Verhängung von Beugehaft binnen 14 Tagen einzubringen sei, wofür allerdings die Unterschrift eines Verteidigers erforderlich sei, „weshalb hiefür wohl Verfahrenshilfe zu beantragen wäre“ (ON 1 S 11), wurde John S***** schließlich ‑ antragsgemäß (ON 57) ‑ ein Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben (ON 1 S 17) und diesem Kopien der bezughabenden Aktenteile, so auch eine Ausfertigung des Beschlusses des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 16. Juli 2014, GZ 30 Hv 22/14p-46, am 14. Oktober 2014 zugestellt (ON 58).
Mit ‑ nicht rechtskräftigem ‑ Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 6. November 2014, das auch einen Freispruch enthält, wurden die Angeklagten Daniel I***** und Zeya Y***** im Verfahren AZ 30 Hv 22/14p jeweils der Vergehen der Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu Freiheitsstrafen verurteilt, nachdem der Zeuge John S***** in der Hauptverhandlung am selben Tag neuerlich die Aussage verweigert hatte.
Der Genannte wird seit dem 15. September 2013 zum Vollzug einer mit Urteil des Landesgerichts Wels vom 20. Dezember 2013, GZ 12 Hv 166/13b‑77, über ihn verhängten fünfzehnmonatigen Freiheitsstrafe in Strafhaft angehalten. Die Beugehaft wurde bislang nicht vollzogen, deren Vollzug auch nicht angeordnet.
Die am 21. Oktober 2014 vom Verteidiger des John S***** eingebrachte Grundrechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 16. Juli 2014, GZ 30 Hv 22/14p-46, erweist sich ‑ unabhängig von der Frage ihrer Rechtzeitigkeit ‑ schon mangels funktionaler Grundrechtsrelevanz der angefochtenen Entscheidung als unzulässig.
Rechtliche Beurteilung
Vorauszuschicken ist:
Nach § 248 Abs 1 StPO ist bei der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen in der Hauptverhandlung grundsätzlich nach den für Vernehmungen im Ermittlungsverfahren geltenden Bestimmungen vorzugehen. Das Gericht ist daher ‑ unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit (§§ 5 Abs 3, 93 Abs 1 und 4 [„in wichtigen Fällen“]) ‑ ermächtigt, Zeugen, die unberechtigt die Aussage verweigern, durch Beugemittel (§ 93 Abs 4 StPO) anzuhalten, ihrer Aussageverpflichtung (§ 154 Abs 2 StPO) nachzukommen.
Wie das Oberlandesgericht Linz bereits richtig festgestellt hat, ist eine in der Hauptverhandlung getroffene Entscheidung solchen Inhalts ‑ ungeachtet ihrer gesetzlichen Bezeichnung als „Beschluss“ ‑ prozessleitender Natur und somit als prozessleitende Verfügung grundsätzlich nicht selbständig anfechtbar. Für Zeugen kann zudem aus der (ungeachtet § 87
StPO vom Gesetzgeber mittels Neuregelung [BGBl I 2007/93] geschaffenen) expliziten Ausnahmeregelung des § 243 Abs 1
StPO geschlossen werden, dass ihnen in allen anderen Belangen in der Hauptverhandlung kein Beschwerderecht zukommt (vgl Danek , WK‑StPO § 238 Rz 14 ff; RIS‑Justiz RS0125788
, RS0125707).
Gegen eine in der Hauptverhandlung erfolgte ‑ mit einem Eingriff in das Grundrecht auf persönliche Freiheit nach Art 5 MRK verbundene ‑ Verhängung von Beugehaft (§ 154 Abs 2 iVm §§ 248 Abs 1 erster Satz, § 93 Abs 2 und Abs 4 StPO) steht dem Betroffenen demnach kein Instanzenzug offen (§ 1 Abs 1 GRBG), vielmehr grundsätzlich unmittelbar dagegen gerichtete Grundrechtsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof zu (vgl zur grundsätzlichen Zulässigkeit einer Grundrechtsbeschwerde im Zusammenhang mit der Verhängung einer Beugehaft auch RIS‑Justiz RS0060991, RS0122464, RS0061004; Kier in WK² GRBG § 1 Rz 7, 17, 32).
Gegenstand der Grundrechtsbeschwerde (vgl §§ 1 und 2 GRBG) sind jedoch nur Entscheidungen und Verfügungen, die in das (von Art 5 MRK und dem BundesverfassungsG über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl 1988/684 garantierte) Grundrecht auf (persönliche) Freiheit effektiv eingreifen, denen also funktionale Grundrechtsrelevanz zukommt (
RIS‑Justiz
RS0114093 [T1 und T2]). Beschwerdegegenstand kann demnach nur ein richterlicher Akt sein, der für eine Freiheitsbeschränkung im Sinn einer Festnahme oder Anhaltung ursächlich war, sei es auch nur in der Weise, dass eine gesetzlich gebotene Beendigung der Freiheitsentziehung zu spät veranlasst wurde (RIS‑Justiz RS0061094; zur Unzulässigkeit von Grundrechtsbeschwerden in Zusammenhang mit einem nicht effektuierten Haft- oder Vorführbefehl RIS‑Justiz RS0114093, RS0111222, RS0106274, 11 Os 79/04; zum Ganzen Kier in WK² GRBG § 1 Rz 8 ff mit zahlreichen Beispielen aus der Rechtsprechung).
Vorliegend wurde die verhängte Beugehaft ‑ wie bereits ausgeführt ‑ bis zur Urteilsfällung in dem Verfahren, in welchem der Beschwerdeführer die Zeugenaussage verweigert hatte, nicht vollzogen.
Anders als Ordnungsstrafen (§ 233 Abs 3 StPO) oder Geldstrafen im Sinn des § 242 Abs 3 StPO, die eine Sanktion für vorangegangenen Ungehorsam oder pflichtwidriges Verhalten in der Vergangenheit darstellen, dienen Beugemittel alleine der Erzwingung künftigen pflichtgemäßen Verhaltens (hier ‑ wie dargelegt ‑ der Ablegung einer Zeugenaussage; § 154 Abs 2, §§ 248 Abs 1 erster Satz StPO) und stellen daher keine „Strafen“ im eigentlichen Sinn dar. Dem steht der Wortlaut des (mit „Zwangsgewalt und Beugemittel“ überschrieben) § 93 StPO nicht entgegen, dessen Abs 2 einerseits den Zweck des Einsatzes der Beugemittel eindeutig festlegt, andererseits in Abs 4 missverständlich (vgl demgegenüber §§ 143 Abs 2 und 160 StPO idF vor BGBl I 2004/19 [„Beugehaft“]) von „Freiheitsstrafe“ spricht) (vgl Lässig, WK‑StPO § 90 Rz 3 [unter Bezugnahme auf die explizite Differenzierung von „in diesem Gesetz angedrohten Freiheitsstrafen“ und Beugehaft in § 90 Abs 3 StPO]; Tipold/Zerbes, WK‑StPO § 111 Rz 10; Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 173 Rz 60b; S. Mayer, Commentar § 159 und 160 Rz 2, 6 f, 74 f;
Lohsing/Serini,Österreichisches Strafprozessrecht4 284; vgl auch RIS‑Justiz RS0096335; zur vergleichbaren Haft nach § 354 Abs 1 EO: Klicka in Angst² § 354 Rz 20; zur ebenfalls vergleichbaren deutschen Rechtslage: HK‑StPO5 ‑ Gercke § 70 Rn 8; Ignor/Bertheau in
Löwe-Rosenberg, GK-StPO26 § 70 Rn 14; SK‑StPO4/Rogall § 70 Rn 2).
Aus dem fehlenden Strafcharakter aber folgt, dass eine Anwendung von Beugehaft ‑ abgesehen vom Erreichen der gesetzlich bestimmten Höchstdauer (§ 93 Abs 4 StPO) oder nicht mehr gegebener Verhältnismäßigkeit (§ 93 Abs 1 StPO) der Haft ‑ auch nicht mehr in Frage kommt, sobald der Betroffene seine Pflicht erfüllt hat oder die Voraussetzungen für ihre Verhängung aus anderen Gründen nicht mehr vorliegen. Davon ist im Falle der (unberechtigten) Aussageverweigerung jedenfalls dann auszugehen, wenn die Aussage, die erzwungen werden soll ‑ etwa im Hinblick auf andere Beweismittel ‑ entbehrlich ist oder das Verfahren (beispielsweise durch Einstellung) beendet wird; im Hauptverfahren demnach auch dann, wenn ‑ wie hier ‑ das Beweisverfahren geschlossen und ein ‑ wenn auch nicht rechtskräftiges ‑ Urteil gefällt wurde, weil die Zeugenaussage danach nicht mehr mit Wirksamkeit für das Verfahren erster Instanz abgelegt werden kann (vgl § 258 Abs 1 StPO) und damit der legitime Zweck einer Aussageerzwingung weggefallen ist (vgl erneut S. Mayer, Commentar §§ 159 und 160 Rz 75, 77 ff;
Lohsing/Serini,Österreichisches Strafprozessrecht4 284; zur ‑ den gleichen Zweck verwirklichenden ‑ Beugehaft im Zivilrecht nach § 325 ZPO, welche Bestimmung ausdrücklich anordnet, dass die Haft nicht über den „Zeitpunkt des Prozesses in der Instanz“ verlängert werden darf: Frauenberger in Fasching/Konecny² § 325 Rz 3; zur Rechtslage in Deutschland KK7 ‑ Senge § 70 Rn 8f; HK‑StPO5 ‑ Gercke § 70 Rn 11; Ignor/Bertheau in
Löwe‑Rosenberg, GK‑StPO26 § 70 Rn 17; SK‑StPO4/Rogall § 70 Rn 29). Sobald solcherart die Voraussetzungen für die Maßnahme nicht mehr vorliegen, ist selbst eine bereits verhängte Beugehaft nicht mehr zu vollziehen, eine bereits begonnene Beugehaft aufzuheben (
Lohsing/Serini,Österreichisches Strafprozessrecht4 284; so auch Mayerhofer/Salzmann, StPO6 § 93 Anm 3).
Solange sich ein Zeuge (wie hier) in Strafhaft befindet, steht der Anwendung einer Beugehaft im Übrigen das für (in Grundrechte eingreifende) strafprozessuale Zwangsmaßnahmen allgemein in § 5 Abs 2 StPO („ziehlführend“) normierte Erfordernis der Effektivität (vgl dazu Wiederin, WK‑StPO § 5 Rz 88) entgegen.
Da somit die ‑ wie dargelegt bis zum Schluss des Beweisverfahrens erster Instanz ‑ nicht effektuierte Entscheidung über die Verhängung einer dreiwöchigen Beugehaft, deren Vollzug nach dem Vorgesagten auch nicht mehr in Betracht kommt, in das Grundrecht nach Art 5 MRK nicht eingreift, macht die Grundrechtsbeschwerde eine Grundrechtsverletzung gar nicht geltend. Sie war daher ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) zurückzuweisen.
Dem steht ‑ wie der Vollständigkeit halber anzumerken bleibt ‑ nicht entgegen, dass nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs eine Grundrechtsbeschwerde gegen eine noch nicht durch Festnahme vollzogene Haftfortsetzungsentscheidung des Oberlandesgerichts (aufgrund einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Enthaftung, § 176 Abs 5 iVm § 174 Abs 4 zweiter Satz StPO) zulässig ist (RIS‑Justiz
RS0116263; Kier in WK² GRBG § 1 Rz 8 mwN), ohne dass es darauf ankäme, ob und wann die Festnahmeanordnung tatsächlich vollzogen werden kann (11 Os 80/09p). Diesfalls wird nämlich die Fortsetzung der Untersuchungshaft durch den kassatorischen Beschluss des Oberlandesgerichts nach ursprünglicher Enthaftung abschließend effektuiert, weil durch die nachfolgende Festnahme der Wille des Oberlandesgerichts auf Freiheitsentziehung umzusetzen ist, während der Vollzug einer verhängten Beugehaft zur Erzwingung der Erfüllung einer Aussageverpflichtung durch einen Zeugen ‑ wie dargelegt ‑ nach Beendigung des Verfahrens, in dem die Aussage abgelegt werden sollte, (aus rechtlichen Gründen) unter keinen Umständen in Betracht kommt.
Die Frage der Zulässigkeit von Grundrechtsbeschwerden nach Wegfall einer bereits erlittenen Freiheitsentziehung (vgl dazu Kier in WK² GRBG § 1 Rz 9 f mwN) stellt sich vorliegend nicht, weil der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren niemals in Haft war.
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