OGH 2Ob206/09x

OGH2Ob206/09x28.1.2010

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. Gottfried L*****, vertreten durch Dr. Georg Santer, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei G***** AG, *****, vertreten durch Mag. Alexander Doerge, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens AZ 17 Cg 351/93x des Landesgerichts Innsbruck (Streitwert 78.051,26 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 21. Juli 2009, GZ 2 R 122/09x-100, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 5. März 2009, GZ 18 Cg 19/04z-96, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Die Revisionsbeantwortung wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Der Wiederaufnahmskläger (in der Folge nur: Kläger) wurde am 16. 8. 1988 bei einem Verkehrsunfall, im Zuge dessen er als Radfahrer von einem bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Pkw niedergestoßen wurde, ua am Kopf verletzt. Das Verschulden traf den Lenker des Pkws. Der Kläger erlitt eine Gehirnerschütterung und eine Hirnrindenquetschung, die zu neurologischen Störungen (Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen etc) führten. Diese lösten beim Kläger depressive Phasen aus. Zur Zeit des Unfalls war der Kläger selbständig erwerbstätiger Tourismusberater. Er war an einem geförderten Forschungsprojekt beteiligt, das ihm gleichzeitig die Grundlage für seine Habilitationsschrift bieten sollte. Diese wurde nie fertiggestellt.

Im Verfahren 17 Cg 507/88 des Landesgerichts Innsbruck (in der Folge: Vorprozess) begehrte der Kläger neben Schmerzengeld und dem Ersatz seines Sachschadens 90.000 S als Verdienstentgang, weil er ein für den Oktober 1988 vorgesehenes 5-tägiges Seminar („Zeitgemäße Unternehmensführung im Gastgewerbe") wegen der Verletzungsfolgen nicht leiten habe können.

Das Landesgericht Innsbruck erachtete in seinem - unbekämpft in Rechtskraft erwachsenen - Urteil vom 12. 9. 1991 ein Schmerzengeld von (ungekürzt) 200.000 S als gerechtfertigt und sprach dem Kläger ua den begehrten Verdienstentgang zu. Da weitere Folgen aus der Hinrindenverletzung nicht ausgeschlossen werden konnten, gab es auch dem Feststellungsbegehren des Klägers statt. Es gelangte aber auch zu der (damals für die Ausmittlung des Schmerzengelds bedeutsamen) Feststellung, dass die depressiven Zustände, „verbunden mit vom Kläger verspürter Schmerzbeeinträchtigung und Konzentrations- beeinträchtigung" ab dem Herbst 1989 nicht mehr auf den Unfall zurückzuführen, sondern nur noch in der „Persönlichkeitsstruktur" des Klägers begründet seien. Diese Feststellung stützte das damalige Prozessgericht auf ein nervenärztliches Sachverständigengutachten vom 25. 5. 1991. Davor hatte es bereits ein unfallchirurgisches Gutachten (vom 25. 7. 1989) und ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten (vom 29. 2. 1990) eingeholt.

Im Verfahren 17 Cg 351/93x des Landesgerichts Innsbruck (vormals 17 Cg 373/91; in der Folge: Hauptprozess) begehrte der Kläger mit der am 17. 12. 1991 eingebrachten Klage den Ersatz eines weiteren Verdienstentgangs von 1.200.000 S für den Zeitraum 1988 bis 1990 (1988: 100.000 S wegen weiterer nicht zustande gekommener Seminare; 1989: Verminderung der Umsatzsteigerung um 450.000 S; 1990: Umsatzeinbuße von 650.000 S). Er brachte vor, ohne den Unfall hätte er im Hinblick auf eine vorhersehbare Universitätslaufbahn mit seinem Institut für Unternehmens- und Tourismusforschung höhere Umsätze als bisher erzielt. Allein aus dem besagten Forschungsprojekt seien ihm mehr als 200.000 S entgangen.

In diesem Verfahren verlas das Erstgericht den Akt des Vorprozesses und wies den Antrag des Klägers auf Einholung eines neuropsychologischen Gutachtens ab. Schon damals stand der Kläger auf dem Standpunkt, dass die im Vorprozess erstatteten Gutachten nicht mehr „dem neuesten Stand der Medizin über die Folgen eines HWS- und Schädeltraumas" entsprächen.

Das Landesgericht Innsbruck sprach dem Kläger mit Urteil vom 28. 7. 1994 125.991,25 S sA zu und wies das auf 1.074.008,75 S lautende Mehrbegehren ab.

Der zugesprochene Betrag setzte sich zusammen aus den entgangenen Entgelten für Seminare und eine Studie im Zeitraum vom Unfallstag (16. 8. 1988) bis August/September 1989 in Gesamthöhe von 154.000 S, worauf Leistungen der AUVA von 28.008,75 S angerechnet wurden. Zur Kausalität der Unfallsfolgen übernahm das Erstgericht seine Feststellungen aus dem Vorprozess; nach dem August/September 1989 eingetretener Verdienstentgang sei nicht auf den Unfall zurückzuführen.

Dieses Urteil blieb in seinem stattgebenden Teil und hinsichtlich der Abweisung von 778.008,75 S unbekämpft.

Das Oberlandesgericht Innsbruck gab mit Berufungsurteil vom 10. 11. 1994 der gegen die Abweisung weiterer 296.000 S gerichteten Berufung des Klägers nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

In der Berufung hatte der Kläger das Berufungsinteresse dahin erläutert, dass er von dem für das Jahr 1989 geltend gemachten Betrag von 450.000 S die Versehrtenrente und den zugesprochenen Betrag in Abzug gebracht habe. Er rügte Feststellungsmängel im Zusammenhang mit Verdienstmöglichkeiten zu weiteren Seminaren und zum Verdienstentgang aus dem besagten Forschungsprojekt. Das Erstgericht hätte nach § 273 ZPO vorgehen können.

Das Berufungsgericht hielt den Argumenten des Klägers im Wesentlichen entgegen (Hervorhebungen durch den erkennenden Senat):

a) Das Forschungsprojekt sei bis Ende 1990 verlängert worden, trotzdem habe es der Kläger nicht zu Ende gebracht. Da der Kläger nach Ablauf von drei Monaten die Hälfte seiner Arbeitskraft und nach weiteren drei Monaten nahezu seine volle Arbeitskraft wiedererlangt habe, hätte ihm die Fertigstellung des Projekts spätestens im Frühjahr 1990 möglich sein müssen. Hätte er die Arbeiten an dem Projekt nicht aus offensichtlich anderen Gründen (als den Unfall) verzögert, wären ihm die (zurückgezahlten) restlichen Forschungsgelder zugeflossen.

b) Die Gespräche mit diversen (näher bezeichneten) Unternehmen seien zu wenig konkret gewesen, als dass sie sich zu einer definitiven Auftragserteilung entwickelt hätten. Ausreichende Feststellungen, welche zusätzlichen Seminare der Kläger noch abhalten hätte können, wären nur möglich gewesen, „wenn der Kläger konkret dargelegt hätte, wieviel Seminare zu welchem Honorar er einerseits vor, andererseits nach dem Unfall durchgeführt hat; daraus könnte auf einen allfälligen negativen Verlauf der Verdienstmöglichkeiten in der Zeit der unfallbedingten Behinderung geschlossen werden. Entsprechende Behauptungen und Beweisanbote wären dem Kläger auch ohne weiteres zumutbar gewesen, da er allein über entsprechende Unterlagen verfügt. Der Kläger beschränkte sich aber auf allgemeine Behauptungen, ein 'gefragter und beliebter Seminarleiter' zu sein, ohne dies durch eine entsprechend große Anzahl konkret ausgeführter Aufträge zu untermauern. Wären die genannten Behauptungen des Klägers richtig, hätte er spätestens im Jahr 1990 - nach Abklingen aller unfallbedingter Beschwerden - einen entsprechenden Gewinn erzielen müssen, der Rückschlüsse auf konkrete Verdienstmöglichkeiten im Jahre 1989 erlauben würde. Demgegenüber aber hat das Erstgericht unbekämpft festgestellt, dass der Kläger im Jahr 1990 lediglich einen Gewinn von 123.444,76 S erzielte, somit wesentlich weniger als in den Jahren 1988 und 1989. Bei dieser Sachlage besteht keine Möglichkeit, einen bereits dem Grunde nach nicht konkretisierbaren Verdienstentgang des Klägers im Jahre 1989 nach § 273 ZPO der Höhe nach festzusetzen".

Das Berufungsurteil wurde dem Klagevertreter am 7. 12. 1994 zugestellt. Von der Möglichkeit einer außerordentlichen Revision machte der Kläger keinen Gebrauch.

Der Kläger begehrt nunmehr mit der am 29. 12. 2003 beim Erstgericht überreichten Klage die Wiederaufnahme des Verfahrens 17 Cg 351/93x des Landesgerichts Innsbruck und die Aufhebung des darin ergangenen Urteils vom 28. 7. 1994 (erkennbar nur im Umfang des - gesamten - abweisenden Teils) sowie die (gänzliche) Stattgebung des in diesem Verfahren gestellten Klagebegehrens. Er stützte sich auf den Wiederaufnahmsgrund des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO und brachte vor, aus einem neuropsychologischen Sachverständigengutachten, das ihm seit 11. 12. 2003 zur Verfügung stehe, ergebe sich, dass die Leistungsbeeinträchtigung des Klägers eine unfallbedingte Dauerfolge sei. Das Gutachten beruhe auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnismethoden, die seit 1994 entwickelt worden und den Vorgutachtern noch nicht zur Verfügung gestanden seien.

Die beklagte Partei (der ursprünglich erstbeklagte Fahrzeughalter ist verstorben; das Verfahren wurde nur gegen den Haftpflichtversicherer fortgesetzt) wandte ein, die Abweisung des Klagebegehrens im Hauptverfahren gründe sich auf die in der damaligen Berufungsentscheidung dargelegten Umstände und nicht auf die Gutachten des Vorprozesses. Das neue Beweismittel stehe mit dem wiederaufzunehmenden Verfahren in keinem rechtlich beachtlichen Zusammenhang. Das nunmehrige Gutachten baue auch nicht auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden auf. Die Wiederaufnahmsklage sei überdies verfristet.

Das Erstgericht bewilligte die Wiederaufnahme und hob das im Verfahren 17 Cg 351/93x des Landesgerichts Innsbruck ergangene Urteil (ohne Einschränkung) auf.

Es traf Feststellungen zu den von den Vorgutachtern einerseits und dem neuropsychologischen Gutachter andererseits angewandten Untersuchungsmethoden. Letztere seien den Vorgutachtern noch nicht zur Verfügung gestanden. Seit dem Jahr 1993 habe sich die wissenschaftliche und angewandte klinische Neuropsychologie bedeutend weiterentwickelt. Es seien zahlreiche computergestützte Verfahren eingeführt und neue testpsychologische Untersuchungen validiert worden. Das vorgelegte Privatgutachten gründe sich auf neue wissenschaftliche Erkenntnismethoden, die zur Zeit des „Vorprozesses" noch nicht bekannt gewesen seien. Der Sachverständige habe darin „aus rein neurologischer Sicht" eine „kleinräumige diskrete Speicherminderung präfrontal links parasigattal" festgestellt. Es zeige sich weiters eine „stellenweise etwas geringere Aktivitätsverminderung im cortex frontobasal". Diese Erkenntnisse habe er - anders als die Vorgutachter - durch eine bildgebende Untersuchung erlangt.

Rechtlich folgerte es, der Kläger sei im Hauptprozess noch nicht in der Lage gewesen, jene MR- bzw testpsychologischen Befunde vorzulegen, auf die sich das neue Gutachten stütze. Diesem Gutachten könne die abstrakte Eignung, eine andere Beweiswürdigung im Hauptverfahren herbeizuführen, nicht abgesprochen werden.

Das von der beklagten Partei angerufene Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Es erörterte, die Berufungsentscheidung des Hauptprozesses habe ausschließlich den Verdienstentgang des Jahres 1989 betroffen. Die Abweisung des den Zeitraum von August/September 1989 bis Ende 1990 betreffenden Klagebegehrens gründe sich jedoch auf die Feststellungen zum zeitlichen Ausmaß der unfallskausalen Beeinträchtigungen des Klägers, deren Grundlage durch die Gutachten des Vorprozesses geschaffen worden sei. Das neuropsychologische Gutachten sei abstrakt geeignet, eine für den Kläger günstigere Entscheidung herbeizuführen. Da sich die wissenschaftliche und angewandte klinische Neuropsychologie seit dem Jahr 1993 bedeutend weiter entwickelt habe, könne die Frage auf sich beruhen, ob der Kläger im Hauptprozess die Abweisung seines auf die Einholung eines weiteren Gutachtens gerichteten Beweisantrags als Mangelhaftigkeit des Verfahrens rügen hätte müssen.

Gegen diese Berufungsentscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen dahin abzuändern, dass das Klagebegehren „zurück- bzw abgewiesen" werden möge. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil die Vorinstanzen von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu den bei der Prüfung eines neuen Beweismittels im Wiederaufnahmeverfahren zu beachtenden Kriterien abgewichen sind. Sie ist im Sinne des Eventualantrags auch berechtigt.

I. Die beklagte Partei erstattete eine Revisionsbeantwortung, die jedoch verspätet ist:

Der Beschluss des Obersten Gerichtshofs, mit dem die Beantwortung der Revision binnen vier Wochen freigestellt wurde, wurde der beklagten Partei am 30. 11. 2009 zugestellt. Die Frist endete daher (unter Berücksichtigung der verhandlungsfreien Zeit) am 11. 1. 2010. Die Revisionsbeantwortung wurde auf elektronischem Weg am 5. 1. 2010 beim Erstgericht eingebracht, langte aber erst am 14. 1. 2010 beim Obersten Gerichtshof ein. Die Revisionsbeantwortung ist im Fall des § 508a Abs 2 ZPO beim Revisionsgericht einzubringen (§ 507a Abs 3 Z 2 ZPO). Die Tage des Postlaufs bleiben nur dann iSd § 89 Abs 1 GOG außer Betracht, wenn die Sendung an das Gericht adressiert wurde, bei dem sie gesetzmäßig zu überreichen ist, andernfalls entscheidet nur der Tag ihres Einlangens beim zuständigen Gericht (RIS-Justiz RS0041608). Dies gilt auch in jenen Fällen, in denen die Eingabe im Weg des elektronischen Rechtsverkehrs eingebracht wurde (4 Ob 18/09i; 6 Ob 26/09f; RIS-Justiz RS0124533). Die Revisionsbeantwortung ist daher verspätet.

II. Die beklagte Partei verweist in ihrem Rechtsmittel abermals auf die Begründung der Berufungsentscheidung des Hauptprozesses sowie auf jene Rechtsprechung, wonach im Wiederaufnahmeverfahren nicht bloß die abstrakte Eignung der neuen Tatsachen und Beweismittel im Hinblick auf eine Änderung der im Hauptprozess ergangenen Entscheidung zu prüfen sei, sondern eine eingeschränkte Beweiswürdigung zu erfolgen habe. Danach sei das neuropsychologische Gutachten aber weder abstrakt noch konkret geeignet, eine für den Kläger günstigere Entscheidung herbeizuführen. Sie macht auch weiterhin geltend, dass die zehnjährige Frist des § 534 Abs 3 ZPO nicht gewahrt worden sei.

Hiezu wurde erwogen:

1. Die beklagte Partei hält das zweitinstanzliche Verfahren offenbar für mangelhaft, weil das Berufungsgericht den Inhalt eines Vorakts als unstrittig bezeichnet und ohne Beweiswiederholung auszugsweise wiedergegeben hat. Sie übersieht dabei, dass sie sich in ihrem Prozessvorbringen - ebenso wie der Kläger - auf den Inhalt der in erster Instanz auf Antrag beider Parteien verlesenen Akten des Vor- und des Hauptprozesses berufen hat. Die Akteninhalte sind somit, zumindest was den Gang des jeweiligen Verfahrens anlangt, tatsächlich als unstrittig anzusehen. Nach herrschender Rechtsprechung ist es prozessual unbedenklich, unstrittiges Parteivorbringen ohne weiteres der Entscheidung zugrundezulegen (§§ 266 f ZPO). Dies gilt auch für das Verfahren vor dem Revisionsgericht, weshalb zum besseren Verständnis dieser Entscheidung vor allem die wesentlichen Passagen der Entscheidungsgründe aus dem Berufungsurteil des Hauptprozesses wiedergegeben werden konnten (vgl 2 Ob 137/08y; 2 Ob 119/09b; RIS-Justiz RS0121557).

2. Die beklagte Partei meint, die zehnjährige Präklusivfrist des § 534 Abs 3 ZPO sei deshalb nicht gewahrt, weil die Vorgutachten aus dem schon im Jahr 1991 beendeten Vorprozess stammen würden. Dieser Auffassung ist angesichts des eindeutigen, auf die Rechtskraft der Entscheidung im wiederaufzunehmenden Verfahren (im Hauptprozess) abstellenden Gesetzeswortlauts nicht zu folgen (vgl § 534 Abs 2 Z 1: Rechtskraft der „angefochtenen Entscheidung"). Das im Hauptprozess ergangene Berufungsurteil wurde dem Kläger am 7. 12. 1994 zugestellt, sodass sich die am 29. 12. 2003 eingebrachte Wiederaufnahmsklage jedenfalls als rechtzeitig iSd § 534 Abs 3 ZPO erweist.

3. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist ein nachträglich beigebrachtes Gutachten keine neue Tatsache iSd § 530 Abs 1 Z 7 ZPO, wenn das Thema des Gutachtens bereits im Hauptprozess bekannt gewesen ist (2 Ob 230/06x; 2 Ob 184/08k mwN; RIS-Justiz RS0044834). Ebenso begründet es für sich allein nicht den Wiederaufnahmsgrund des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO, wenn sich aus späteren Tatumständen die Unrichtigkeit eines Gutachtens des im Hauptverfahren tätigen Sachverständigen ergeben soll (RIS-Justiz RS0044555). Dazu bedarf es vielmehr weiterer Umstände, etwa des Nachweises, dass eine behauptete Zwischenerhebung in Wahrheit nicht durchgeführt wurde oder neue wissenschaftliche Methoden entdeckt wurden, deren Anwendung im Hauptprozess zu anderen Ergebnissen hätte führen können (2 Ob 8/06z; 2 Ob 230/06x; 2 Ob 184/08k). Die Berufung auf neue Untersuchungsmethoden setzt hiebei voraus, dass diese im Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens noch nicht bekannt gewesen sind (2 Ob 184/08k mwN). Es wurde auch schon mehrfach die Ansicht vertreten, einem nachträglichen Gutachten könne die Eignung als Wiederaufnahmsgrund nicht abgesprochen werden, wenn das Gutachten des Hauptprozesses auf einer unzulänglichen Grundlage beruhte, die durch das neue Gutachten richtiggestellt oder vervollständigt wird (2 Ob 230/06x mwN).

Im vorliegenden Fall ist aufgrund der erstinstanzlichen Feststellungen davon auszugehen, dass das vom Kläger vorgelegte neue Gutachten auf neuen (dh seit Ende des Hauptprozesses entwickelten) wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen beruht. Jedenfalls aber stützt es sich auf Befunde, die den Sachverständigen im Vorprozess noch nicht zur Verfügung standen und vom Kläger auch im Hauptprozess noch nicht vorgelegt werden konnten.

4. Die neuen Tatsachen und Beweismittel, auf die sich eine Wiederaufnahmsklage stützt, müssen nicht unmittelbar auf die rechtliche Beurteilung von Einfluss sein. Es genügt vielmehr, dass sie geeignet sind, eine wesentliche Änderung der Beweiswürdigung herbeizuführen (RIS-Justiz RS0044411, RS0044510).

Bereits im Vorprüfungsverfahren (§ 538 ZPO) ist abstrakt zu prüfen, ob die als Wiederaufnahmsgrund nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO geltend gemachten Umstände ersichtlich von vornherein keinen Einfluss auf die Entscheidung in der Hauptsache haben können. Trifft Letzteres zu, ist die Wiederaufnahmsklage unschlüssig und - in jeder Lage des Verfahrens (§ 543 ZPO) - mit Beschluss zurückzuweisen (vgl 2 Ob 249/98a, 2 Ob 8/06z; 7 Ob 65/09y; uva).

5. Ist die Zulässigkeit und Schlüssigkeit der Klage zu bejahen, sind im Wiederaufnahmeverfahren die neuen Beweismittel über ihre abstrakte Eignung zur Herbeiführung einer Änderung der im Hauptprozess ergangenen Entscheidung hinaus im Wege einer eingeschränkten Beweiswürdigung dahin zu prüfen, ob ihre Nichtberücksichtigung im Hauptprozess gegen die materielle Wahrheitsfindung und die Vollständigkeit der Urteilsgrundlage verstößt, bzw ob sie geeignet war, die Beweiswürdigung im Hauptprozess konkret zu beeinflussen (2 Ob 249/98a mwN; 1 Ob 215/08m; RIS-Justiz RS0044510, RS0044687). Dabei ist zu untersuchen, ob dem betreffenden Beweismittel die konkrete Eignung zukommt, allenfalls eine für den Kläger günstigere Entscheidung in der Hauptsache herbeizuführen (1 Ob 215/08m mwN; vgl auch 7 Ob 65/09y; RIS-Justiz RS0044678), worüber es entsprechender Feststellungen durch die Vorinstanzen bedarf (vgl SZ 54/191; 3 Ob 312/05m; 6 Ob 77/06a). Nur die endgültige, in der Zusammenschau mit den Beweisergebnissen des Hauptprozesses vorzunehmende Beweiswürdigung bleibt im Regelfall dem Hauptprozess vorbehalten, falls dessen Wiederaufnahme bewilligt wird (7 Ob 65/09y; RIS-Justiz RS0044678).

6. Die auf die Berufungsentscheidung des Hauptprozesses bezogenen Revisionsausführungen der beklagten Partei betreffen ihrem Inhalt nach (nur) die abstrakte Eignung des neuen Gutachtens, eine Änderung der Beweiswürdigung herbeizuführen: Da das Klagebegehren mangels ausreichenden Vorbringens abgewiesen worden sei, komme es auf die Frage der Unfallskausalität nicht an.

Diese Argumentation vernachlässigt, dass - worauf schon das Berufungsgericht zutreffend hingewiesen hat - die damalige Berufungsentscheidung nur einen Teil des Klagebegehrens betraf. Sie übersieht aber auch, dass sich die eingangs wiedergegebene Begründung zu beiden damals strittigen Themenkreisen (Forschungsprojekt; Seminare) auch auf die Feststellungen zur Wiedererlangung der vollen Arbeitskraft des Klägers ab einem bestimmten Zeitpunkt stützte. Insoweit kann demnach dem neuen Gutachten die abstrakte Eignung, ein günstigeres Ergebnis für den Kläger herbeizuführen, nicht abgesprochen werden.

7. Die Prüfung der konkreten Eignung zur Herbeiführung einer anderen Beweiswürdigung setzt eine inhaltliche Befassung mit dem Gutachten voraus. Diese ist in erster Instanz höchstens ansatzweise erfolgt. Beide Vorinstanzen betonen aber bloß die abstrakte Eignung des Gutachtens, eine für den Kläger günstigere Beweiswürdigung herbeizuführen. Das Erstgericht hat im Rahmen seiner Beweiswürdigung zwar ausgeführt, dass schwerwiegendere Unfallfolgen, als ursprünglich angenommen, nun nicht mehr ausgeschlossen werden könnten. Auch diese Aussage bezieht sich aber nur auf die nicht mehr vergleichbaren neuen Untersuchungsmethoden, ohne auf das Ergebnis des neuen Gutachtens einzugehen.

Ansonsten geben die Feststellungen der Vorinstanzen keinen Anhaltspunkt dafür, ob und wie sich das neue Gutachten auf die Beweiswürdigung des Hauptprozesses konkret auswirken könnte. Die Urteile der Vorinstanzen sind somit aufzuheben, weil die „eingeschränkte Beweiswürdigung" des neuen Gutachtens im Hinblick auf seine konkrete Eignung, im Hauptprozess eine für den Kläger günstigere Beweiswürdigung herbeizuführen, bisher unterblieben ist.

Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren die dargelegte Rechtslage mit den Parteien zu erörtern und darüber zu befinden haben, ob die im Wiederaufnahmeverfahren eingeholten Gutachten angesichts der bisherigen Äußerungen der Sachverständigen (vgl etwa AS 253 und 343: „rein theoretisch") bereits eine taugliche Grundlage für die erforderliche Beweiswürdigung darstellen, oder ob diese noch zu ergänzen ist. Bei der neuerlichen Entscheidung wird ferner zu beachten sein, dass sich das Wiederaufnahmebegehren erkennbar nur auf den abweisenden Teil der Urteile des Vorprozesses bezieht (vgl RIS-Justiz RS0120215).

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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