OGH 2Ob230/06x

OGH2Ob230/06x26.4.2007

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Veith, Dr. Grohmann und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Marijana C*****, vertreten durch Mag. Markus Lechner, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei V*****-AG, *****, vertreten durch Mag. Michael Tinzl und andere Rechtsanwälte in Innsbruck, sowie die Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei G***** AG (zuvor: I***** AG), *****, vertreten durch Dr. Michael Goller, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens 8 Cg 28/03y des Landesgerichtes Innsbruck (Streitwert EUR 9.000,--), über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Rekursgericht vom 14. Juni 2006, GZ 1 R 136/06v-5, womit infolge Rekurses der klagenden Partei der Beschluss des Landesgerichtes Innsbruck vom 4. Mai 2006, GZ 8 Cg 71/06a-2, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

1. Die Bezeichnung der Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei wird auf "G***** AG" berichtigt.

2. Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung über die Wiederaufnahmsklage unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die Kosten der Rechtsmittelverfahren sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Zu 1.:

Nach der am 1. 7. 2004 von den Hauptversammlungen beider Gesellschaften beschlossenen und am 1. 9. 2004 zu FN ***** und FN ***** im Firmenbuch eingetragenen Verschmelzung der übertragenden I***** AG mit der aufnehmenden G***** AG wurde diese gemäß § 219 Z 1 iVm § 225a Abs 3 AktG Gesamtrechtsnachfolgerin der aufgenommenen Aktiengesellschaft. Die Bezeichnung der Nebenintervenientin war daher in analoger Anwendung des § 235 Abs 5 ZPO von Amts wegen zu berichtigen (vgl 5 Ob 58/06z).

Zu 2.:

Die Wiederaufnahmsklägerin (in der Folge nur: Klägerin) wurde am 21. 12. 2001 bei einem Verkehrsunfall als Insassin des von ihrem Ehemann gelenkten und gehaltenen und bei der wiederaufnahmsbeklagten (in der Folge nur: beklagten) Partei haftpflichtversicherten PKWs verletzt. Sie begehrte im Verfahren 8 Cg 28/03y des Landesgerichtes Innsbruck nach Erhalt zweier Teilzahlungen von insgesamt EUR 6.000,-- zuletzt noch ein restliches Schmerzengeld von EUR 9.000,-- samt Anhang sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Partei für alle künftigen Schäden aus dem Verkehrsunfall.

Das Landesgericht Innsbruck gab mit Urteil vom 5. 2. 2004 dem Leistungsbegehren mit einem Teilbetrag sowie dem Feststellungsbegehren zur Gänze statt. Das Leistungsmehrbegehren wurde abgewiesen.

Das von beiden Parteien angerufene Oberlandesgericht Innsbruck änderte dieses Urteil hinsichtlich der Entscheidung über das Feststellungsbegehren mit Teilurteil vom 29. 6. 2004 dahin ab, dass es die Haftung der beklagten Partei mit den Höchstbeträgen des § 15 EKHG begrenzte und das Feststellungsmehrbegehren abwies. Die Entscheidung über das Leistungsbegehren wurde aufgehoben. Mit Endurteil vom 15. 11. 2004 wies das Landesgericht Innsbruck das Zahlungsbegehren zur Gänze ab. Es stellte fest, dass die Klägerin bei dem Verkehrsunfall eine „erstgradige Zerrungsverletzung der Halswirbelsäule und eine leichtgradige Prellung der Lendenwirbelsäule" erlitten habe. Eine neurologische Ausfallssymptomatik sei nicht erwiesen. Abgesehen von einer Parese des nervus extensor halluxis longus habe keine weitere Auffälligkeit bestanden. Der Verdacht auf inkomplette Kaudaläsion habe sich nicht erhärtet. Zum Stichtag der persönlichen Untersuchung der Klägerin durch den Sachverständigen am 4. 12. 2003 sei noch eine geringgradige Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule sowie eine mäßiggradige Bewegungseinschränkung der Lendenwirbelsäule vorhanden gewesen. Das Schmerzsyndrom, welches sich bei der Klägerin offensichtlich entwickelt habe, sei als eigenständiges Krankheitsgeschehen aufzufassen und nicht unfallskausal.

Das Landesgericht Innsbruck gründete diese Feststellungen auf das psychiatrisch-neurologische Gutachten eines von ihm bestellten Sachverständigen, der sich neben weiteren Vorbefunden auf das Ergebnis einer feinbildgebenden Untersuchung (Kernspintomografie) stützte, die nach dem in der unfallchirurgischen Klinik Innsbruck geäußerten Verdacht auf Vorliegen einer Kaudaläsion (Läsion der aus dem Rückenmark im Lumbalbereich auftretenden Nervenfasern) durchgeführt worden war.

Der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung der Klägerin gab das Oberlandesgericht Innsbruck nicht Folge.

Die Klägerin begehrt nunmehr mit der am 13. 4. 2006 beim Erstgericht überreichten Klage die Wiederaufnahme des Verfahrens 8 Cg 28/03y des Landesgerichtes Innsbruck und die Aufhebung des darin ergangenen Endurteiles mit der Begründung, das im Hauptprozess erstattete Sachverständigengutachten habe auf einer unzulänglichen Grundlage beruht. Der Sachverständige habe keine eigenen feinbildgebenden Untersuchungen angeordnet, sondern lediglich die bereits vorhandenen Befunde der behandelnden Universitätsklinik und Ärzte übernommen. Damals seien bei der Klägerin aber nur traditionelle Kernspintomografien durchgeführt worden, bei der sich der Körper in natürlicher Haltung befinde. Am 13. und 14. 2. 2006 habe sich die Klägerin einer funktionellen Kernspintomografie unterzogen, bei welcher der Körper in Extremposition gedreht und gespannt werde. Aus dem am 20. 3. 2006 zugestellten Befund ergebe sich, dass für die Instabilität im Funktionsverhalten des Kopf-Gelenksverbandes nur das Unfallgeschehen vom 21. 12. 2001 in Frage komme. Es sei der Teileinriss eines Bandes (ligamentum apicis dentis) festgestellt worden, ebenso der Umstand, dass bei Extrembewegungen Druck auf das Rückenmark der Klägerin ausgeübt werde, wodurch die schon vom Sachverständigen des Hauptprozesses beschriebenen Symptome ausgelöst bzw verstärkt werden würden. Daraus sei abzuleiten, dass die von der Klägerin behaupteten klinischen Symptome, insbesondere das Schmerzsyndrom unfallskausal seien. Hätte der Sachverständige im Hauptprozess eine funktionelle Kernspintomografie angeordnet, wäre der Klägerin der Beweis der Unfallskausalität ihrer Beschwerden gelungen. Dieser Sachverhalt verwirkliche einen Wiederaufnahmsgrund. Das Erstgericht wies die Wiederaufnahmsklage im Vorprüfungsverfahren a limine zurück. Die Klägerin habe nicht dargelegt, dass sie den nunmehr vorgelegten Befundbericht nicht schon im Hauptprozess erlangen hätte können oder dass er auf einer neuen Untersuchungsmethode beruhe.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach zunächst aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Die Klägerin habe in der Wiederaufnahmsklage keinerlei Tatsachenbehauptungen aufgestellt, warum ihr nicht bereits im Hauptprozess die Einholung eines Privatgutachtens über die Ergebnisse einer funktionellen Kernspintomografie oder die Stellung eines Beweisantrages zur Durchführung einer solchen Untersuchung möglich gewesen sei. Es fehle somit an jeder Behauptung, wonach die Geltendmachung des als Wiederaufnahmsgrund angeführten Beweismittels im Hauptprozess ohne Verschulden der Klägerin unmöglich gewesen sei. Über Antrag der Klägerin änderte das Rekursgericht den Ausspruch über die Unzulässigkeit des Revisionsrekurses dahin ab, dass der Revisionsrekurs doch zulässig sei. Im Hinblick auf die Entscheidung 9 Ob 7/05b könnten die Behauptungen der Klägerin ausreichend sein. Die Klägerin bekämpft den zweitinstanzlichen Beschluss mit Revisionsrekurs, mit dem sie die ersatzlose Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen und die Anordnung der Fortführung des gesetzlichen Verfahrens begehrt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und auch berechtigt. Die Klägerin macht geltend, die Unvollständigkeit der Entscheidungsgrundlage im Hauptprozess sei nicht ihrer Sphäre zuzurechnen, sondern ausschließlich jener des Sachverständigen, von dem die Kenntnis der zur Erstellung eines verlässlichen Gutachtens notwendigen Untersuchungsmethoden zu erwarten gewesen sei. Es bedürfe daher keiner detaillierteren Behauptungen in der Wiederaufnahmsklage, warum die Klägerin nicht schon im Vorprozess die Durchführung einer funktionellen Kernspintomografie beantragt habe.

Hiezu wurde erwogen:

Nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO berechtigen nur solche neue Tatsachen und Beweismittel zur Wiederaufnahmsklage, deren Vorbringen und Benützung im früheren Verfahren eine der Partei günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde. Die neuen Tatsachen oder Beweismittel, auf die ein solches Wiederaufnahmsbegehren gestützt wird, müssen sich nicht unmittelbar auf die rechtliche Beurteilung auswirken; es genügt, wenn sie geeignet sind, eine wesentliche Änderung der Beweiswürdigung herbeizuführen, wobei auch neue Hilfstatsachen, aus denen Schlüsse auf eine Haupttatsache gezogen werden können, in Betracht kommen (10 ObS 169/03f = SZ 2003/76; 2 Ob 8/06z; RIS-Justiz RS0044411, RS0044510).

Dieser Wiederaufnahmsgrund soll der materiellen Wahrheit in jenen Fällen zum Durchbruch verhelfen, in denen die tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen (der Urteilstatbestand) unrichtig oder unvollständig waren (10 ObS 169/03f; 9 Ob 7/05b; 8 Ob 52/05p). Ein nachträglich beigebrachtes Gutachten ist keine neue Tatsache im Sinne des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO, wenn das Thema des Gutachtens bereits im Hauptprozess bekannt gewesen ist (10 ObS 169/03f; 9 Ob 7/05b; 8 Ob 52/05p; RIS-Justiz RS0044834). Eine Wiederaufnahmsklage kann daher nicht mit Erfolg darauf gestützt werden, dass ein anderer Sachverständiger später ein vom Gutachten des Hauptprozesses abweichendes Gutachten erstattet hat (10 ObS 151/06p mwN). Dazu bedürfte es weiterer Umstände, etwa des Nachweises, dass eine behauptete Zwischenerhebung in Wahrheit nicht durchgeführt wurde, oder neue wissenschaftliche Methoden entdeckt wurden, deren Anwendung im Hauptverfahren zu anderen Erkenntnissen hätte führen können (2 Ob 8/06z mwN; 10 ObS 104/06a; 10 ObS 151/06p). In seiner jüngeren Rechtsprechung hat der Oberste Gerichtshof aber auch mehrfach die Ansicht vertreten, einem nachträglichen Gutachten könne die Eignung als Wiederaufnahmsgrund nicht (von vornherein) abgesprochen werden, wenn das Gutachten des Hauptprozesses auf einer unzulänglichen Grundlage beruhte, die durch das neue Gutachten richtig gestellt oder vervollständigt wird (vgl 10 ObS 23/03k; 10 ObS 169/03f; 9 Ob 7/05b; E. Kodek in Rechberger, ZPO3 § 530 Rz 15 aE; Jelinek in Fasching/Konecny2 IV/1 § 530 Rz 154).

Im Sinne dieser Rechtsprechung hat auch die Klägerin ihr Wiederaufnahmebegehren auf die Behauptung gestützt, dass der Sachverständige im Hauptprozess das Gutachten auf unzulänglicher Grundlage erstattet habe. Dieses ging von den Ergebnissen der Vorbefunde aus, wonach - von einer unbedeutenden Ausnahme abgesehen - keine neurologischen Auffälligkeiten bestanden hätten. Die erst nach Beendigung des Hauptprozesses durchgeführte Untersuchung im „Zentrum für funktionelle Kernspintomografie" in München ergab nun zusätzliche Erkenntnisse über das Funktionsverhalten des Kopf-Gelenksverbandes der Klägerin, die dem Sachverständigen des Hauptprozesses offenkundig nicht zur Verfügung standen. Es kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass diese Erkenntnisse, etwa über das Vorliegen einer Bandverletzung im Bereich der Halswirbelsäule und bewegungsabhängige Druckausübung auf das Rückenmark, im Hauptprozess zu einer dem Prozessstandpunkt der Klägerin günstigeren Beurteilung des Schmerzgeschehens, insbesondere der Unfallskausalität des „Schmerzsyndroms" geführt hätten. Die Klägerin hat demnach in der Wiederaufnahmsklage einen abstrakt geeigneten Wiederaufnahmsgrund geltend gemacht.

An dieses Zwischenergebnis knüpft sich die Prüfung der Frage, ob sich schon aus der Klage ergibt, dass die Klägerin nicht ohne ihr Verschulden außerstande war, die neuen Tatsachen und das neue Beweismittel vor Schluss der mündlichen Verhandlung des Hauptprozesses geltend zu machen (§ 530 Abs 2 ZPO):

Im Wiederaufnahmeverfahren trägt der Kläger die Behauptungs- und Beweislast für den Mangel seines Verschuldens im Sinne des § 530 Abs 2 ZPO (vgl 1 Ob 194/06w mwN; RIS-Justiz RS0044633; E. Kodek aaO Rz 16; Jelinek aaO Rz 219). Stammt ein Umstand, der belegen soll, dass ein Gutachten im wiederaufzunehmenden Verfahren auf einer unvollständigen Entscheidungsgrundlage beruht, aus der Sphäre des Klägers, so hat er auch zu behaupten und zu beweisen, weshalb er dieses Beweismittel nicht schon früher benützen konnte (vgl 3 Ob 186/04f). Ob den Kläger ein solches Verschulden trifft, ist zwar an sich nicht im Vorprüfungsverfahren zu klären (RIS-Justiz RS0044639). Die Wiederaufnahmsklage ist aber bereits im Vorprüfungsverfahren zurückzuweisen, wenn sich das Verschulden des Klägers aus den als richtig angenommenen Tatsachenbehauptungen in der Klage ergibt oder wenn der Klage jede Behauptung fehlt, dass die Geltendmachung des als Wiederaufnahmsgrund angeführten Beweismittels im Vorprozess ohne Verschulden unmöglich war (3 Ob 204/04b; 8 Ob 141/06p; RIS-Justiz RS0044558).

Im vorliegenden Fall hat die Klägerin in der Wiederaufnahmsklage vorgebracht, dass sie am 13. und 14. 2. 2006 im „Zentrum für funktionelle Kernspintomografie" in München untersucht worden sei. Dieses Vorbringen inkludiert die Behauptung, dass ihr der Befund über das Untersuchungsergebnis im Hauptprozess noch nicht zur Verfügung stand. Des weiteren hat sie in der Klage vorgebracht, der Sachverständige des Hauptprozesses habe es verabsäumt, eine funktionelle Kernspintomografie anzuordnen, weshalb seine Beurteilungsgrundlage unvollständig geblieben sei; vor der nunmehrigen Untersuchung in München seien bei ihr nur „traditionelle" Kernspintomografien durchgeführt worden. Dieses Vorbringen ist bei lebensnaher Betrachtung dahin zu verstehen, dass sie als medizinische Laiin erst jetzt von einer anderen Untersuchungsart erfahren hat. Damit hat sie aber entgegen der Ansicht der Vorinstanzen ausreichende Behauptungen zum Fehlen ihres Verschuldens aufgestellt. Die Beschlüsse der Vorinstanzen sind daher aufzuheben und ist dem Erstgericht die Einleitung des gesetzmäßigen Verfahrens über die Wiederaufnahmsklage unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufzutragen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 ZPO.

Stichworte