OGH 9Ob7/05b

OGH9Ob7/05b6.4.2005

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling, Dr. Hradil, Dr. Hopf und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Waltraud G*****, Angestellte, *****, vertreten durch Dr. Günter Niebauer und Dr. Karl Schaumüller, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Dr. H***** K*****, Facharzt, *****, vertreten durch Dr. Herbert Salficky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens GZ 24 Cg 42/02a des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien (Streitwert EUR 91.000 sA), über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien als Rekursgericht vom 23. November 2004, GZ 14 R 178/04f-5, womit der Beschluss des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 31. August 2004, GZ 24 Cg 97/04t-2, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung über die Wiederaufnahmsklage unter Abstandnahme von gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die Kosten der Rechtsmittelverfahren sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Im Verfahren GZ 24 Cg 42/02a des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien begehrte die Wiederaufnahmsklägerin (im Folgenden nur Klägerin genannt) die Zahlung von Schadenersatz und die Feststellung der Haftung des Beklagten für zukünftige Schäden aus den Operationen vom 21. 4. 1995 und 18. 5. 1995. Sie habe sich einer Bandscheibenbehandlung unterzogen, sei jedoch nur unzureichend über die Möglichkeiten verschiedener Behandlungen aufgeklärt worden. Lege artis hätte statt der am 21. 4. 1995 durchgeführten Laserdisektomie eine offene Disektomie durchgeführt werden müssen, worin ein eklatanter Behandlungsfehler des Beklagten gelegen sei. Erst fünf Wochen nach der ersten Operation und damit verspätet sei eine offene Bandscheibenoperation vorgenommen worden. Als Folge der unsachgemäßen Behandlung könne die Klägerin den Vorfuß links nicht mehr ausreichend anheben.

Der Beklagte berief sich im wiederaufzunehmenden Verfahren darauf, dass die von ihm empfohlene Operation medizinisch indiziert und auch ordnungsgemäß durchgeführt worden sei.

Das Erstgericht wies im Verfahren, dessen Wiederaufnahme begehrt wird, das Klagebegehren ab. Gestützt auf ein orthopädisches Sachverständigengutachten traf es die Feststellungen, dass entsprechend einer vom Beklagten richtig gestellten Diagnose bei der Klägerin ein Bandscheibenvorfall zwischen dem 4. und 5. Lendenwirbel vorgelegen habe. Je nach der Art des Bandscheibenvorfalls würden verschiedene Operationsmethoden angewendet, nämlich eine offene Operation, die Chemonukleolyse, die endoskopische Fräsmethode sowie die Lasermethode. Bei letztgenannter wird ein Laserstrahl auf das vorgetretene Bandscheibengewebe gerichtet, um dieses aufzulösen (zu verschmelzen). Da der Magnetresonanzbefund vom 18. 4. 1995 ausdrücklich beschrieben habe, dass kein Hinweis auf einen freien Nukleus-Sequester bestanden habe, sei bei der Klägerin jede der vier Operationsmethoden grundsätzlich zulässig gewesen. Sowohl die Operation als auch die gewählte Lasermethode seien daher lege artis erfolgt. Bei der Teillähmung des linken Fusses habe es sich um eine typische Operationsfolge gehandelt. Die Folgeoperation sei weder verspätet noch entgegen der ärztlichen Kunst erfolgt.

Das Berufungsgericht erachtete die Feststellungen des Erstgerichtes hinsichtlich der Indikation der angewendeten Lasermethode und deren sachgerechter Durchführung für unbedenklich und verneinte einen diesbezüglichen Verfahrensmangel, sodass die Frage der Erstoperation aufgrund des gegebenen Sachverhalts abschließend entschieden war. Lediglich hinsichtlich einer allfälligen Verspätung der zweiten Operation erachtete das Berufungsgericht die Feststellungen für noch nicht ausreichend bzw das Verfahren für ergänzungsbedürftig und hob deshalb das Ersturteil auf. Auftragsgemäß holte das Erstgericht ein weiteres Gutachten, diesmal aus dem Fachgebiet der Neurologie, ein (ON 56). Darin gelangte der Sachverständige zum Kalkül, dass der MRT-Befund vom 18. 4. 1995, welcher der Erstoperation zugrundegelegt worden sei, bereits darüber Aufschluss gegeben habe, dass nicht nur eine Vorwölbung des Bandscheibenkerns vorgelegen habe, sondern eine Teilsequestrierung eingetreten gewesen sei. Dabei habe sich ein Teil des Bandscheibenkernes schon so gelöst, dass nach einer Verdampfung und Schrumpfung des Bandscheibeninneren mittels Laserbehandlung der seuqestrierte Teil nicht mehr zurück in den Bandscheibenraum habe gebracht werden können. Folglich sei die Laseroperation nicht zielführend gewesen.

Mit ihrer Wiederaufnahmeklage vom 20. 8. 2004 begehrt die Klägerin die Aufhebung des Ersturteils und des Aufhebungsbeschlusses. Im Hinblick auf die Teilerledigung durch das Berufungsgericht sei ein neuerliches Aufrollen des Teilbereichs „Erstoperation" vor dem Erstgericht nicht möglich. Erst durch das neurologische Gutachten sei die Klägerin zur Kenntnis gelangt, dass bereits aus einem MRT-Befund vom 18. 4. 1995 hervorgegangen sei, dass ein freier Sequester aus dem Bandscheibenniveau nach unten geglitten sei, dessen Reposition mittels Lasermethode nicht möglich gewesen sei.

Das Erstgericht wies die Wiederaufnahmeklage im Vorprüfungsverfahren nach § 538 ZPO zurück, weil aus der Klage kein tauglicher Wiedereinsetzungsgrund hervorgehe. Ein neues Sachverständigengutachten rechtfertige für sich allein genommen eine Wiederaufnahme nicht. Aus der Klage gingen aber weder eine Unvollständigkeit der Begutachtungsgrundlagen der ersten Sachverständigen noch eine neue Methode hervor. Der MRT-Befund sei dem Erstgutachten im Übrigen bereits zugrundegelegen.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss mit einer im wesentlich gleichlautenden Rechtsauffassung.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Klägerin ist zulässig, weil sich insbesondere aus jüngerer Rechtsprechung (10 ObS 169/03f) Aspekte ergeben, welche eine weniger enge Betrachtung betreffend die Unvollständigkeit von Grundlagen eines Gutachtens angezeigt sein lassen. Der Revisionsrekurs ist auch berechtigt.

Der von der Klägerin eingeschlagene Weg der Wiederaufnahmeklage ist grundsätzlich zulässig. Vom Berufungsgericht in einem Aufhebungsbeschluss abschließend erledigte Streitpunkte können nämlich im fortgesetzten Verfahren nicht neu aufgerollt werden. Auch wurden hier keine Tatsachen geltend gemacht, die erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung im ersten Rechtsgang entstanden sind und daher neu vorgebracht werden könnten (RIS-Justiz RS0042458, insbesondere [T 5]).

Die Vorinstanzen gehen zunächst richtig von der Judikatur aus, nach der ein nachträglich beigebrachtes ärztliches Gutachten keine neue Tatsache ist, wenn das Thema des Gutachtens bereits im Hauptprozess bekannt gewesen ist und ein neues Gutachten ohne Hinzutreten weitere Umstände auch kein neues Beweismittel abgibt (RIS-Justiz RS0044834). Die später hervorgekommene Tatumstände, die die Unrichtigkeit eines eingeholten Gutachtens oder aber die mangelnde Eignung eines beigezogenen Sachverständigen indizieren, sind für sich allein kein tauglicher Wiederaufnahmsgrund (RIS-Justiz RS0044555).

Der von der Klägerin geltend gemachte Wiederaufnahmegrund der neuen Tatsachen und Beweismittel (§ 530 Abs 1 Z 7 ZPO) soll der materiellen Wahrheit grundsätzlich in jenen Fällen zum Durchbruch verhelfen, in denen die tatsächliche Entscheidungsgrundlage (Urteilstatbestand) unrichtig oder unvollständig waren (10 ObS 169/93f mwN). Wie schon dargelegt, ist ein nachträglich beigebrachtes Gutachten keine neue Tatsache, wenn das Thema des Gutachtens bereits im Hauptprozess bekannt war. Die gegenteilige Ansicht hätte nämlich zur Folge, dass Prozesse in denen ein Sachverständigenbeweis beantragt hätte werden können, wiederaufgenommen werden müssten, wenn die unterlegene Partei nachträglich ein ihrem Standpunkt günstiges Gutachten vorlegen kann, aber auch Prozesse in welchen ein Sachverständigenbeweis bereits durchgeführt wurde, wiederaufgenommen werden müssten, wenn die unterlegene Partei ein Gutachten vorlegt, das von dem des bestellten Sachverständigen abweicht (10 ObS 169/03f).

Beruht ein im Hauptprozess erstattetes Sachverständigengutachten jedoch auf einer unzulänglichen Grundlage, war somit die Entscheidungsgrundlage noch nicht vollständig, kann auch einem nachträglich erstatteten Gutachten, durch welches die Urteilsgrundlage vervollständigt wird, die Eignung als Wiederaufnahmsgrund nicht von vornherein abgesprochen werden. In der schon erwähnten Entscheidung 10 ObS 169/03f wurde eine solche unvollständige Grundlage eines Sachverständigengutachtens darin gesehen, dass ein als Zeuge vernommener Arzt seine Aussage später widerrufen und das Gutachten - auch - auf dieser Aussage aufgebaut hatte. Der hier vorliegende Fall ist vergleichbar: Der Sachverständige des Hauptverfahrens wies darauf hin, dass bei Abtrennung eines Teils der Bandscheibe (Sequester) die - hier zunächst nicht gewählte - offene Operationsmethode die richtige sei (AS 153 des Hauptaktes). Er erwähnte zwar, dass ihm „zusätzlich zum Gerichtsakt ein MRT (vier Folien) vom 18. 4. 1995" vorgelegt worden sei (AS 147 des Hauptaktes), schloss aber offensichtlich nur aus der zusammenfassenden Fremdbefundung, dass kein Hinweis auf einen freien Nukleus-Sequester bestanden habe (AS 153 des Hauptaktes). Daraus könnte abgeleitet werden, dass der Sachverständige selbst keine Befundung der Bilder vorgenommen, sondern nur die Kurz-Resümee-Beurteilung aus Beilage ./A herangezogen hat. Darin könnte aber eine Unvollständigkeit seiner Beurteilungsgrundlage liegen, welche, wie schon erwähnt, mit Wiederaufnahmsklage geltend gemacht werden könnte. Dem Vorbringen der Klägerin in ihrer Wiederaufnahmsklage kann gerade noch entnommen werden, dass sie sich auch auf eine solche Unvollständigkeit stützen will. Der Wiederaufnahmsklage kann somit die Geltendmachung eines abstrakt geeigneten Wiederaufnahmegrundes nicht abgesprochen werden.

Der Kostenvorbehalt gründet auf § 52 ZPO.

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