AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §18 Abs5
BFA-VG §19
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1a
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:I407.2269620.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. Stefan MUMELTER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA Tunesien, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle West vom 14.03.2023, Zl. XXXX , zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein tunesischer Staatsangehöriger, reiste illegal ins Bundesgebiet ein und stellte am 07.02.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dazu wurde er am darauffolgenden Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Zu seinen Fluchtgründen führte er dabei aus, er wolle in Österreich arbeiten und seine Familie unterstützen. Weitere Gründe einer Asylantragstellung habe er nicht.
2. Am 07.03.2023 erfolgte die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, im Folgenden als belangte Behörde oder BFA bezeichnet. Im Wesentlichen führte er dabei aus, er habe einen Traum, den er verwirklichen wolle, nämlich ein Musikstudio zu eröffnen. In Tunesien sei das nicht möglich. Er wolle in Würde leben und als einfacher Mensch leben und arbeiten. Die wirtschaftliche Lage in Tunesien sei schlecht, es gebe keine Veränderungen und bleibe das Land bei den alten Traditionen.
3. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 14.03.2023 wurde der zuvor genannte Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Tunesien abgewiesen (Spruchpunkt II.). Zugleich wurde dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Tunesien zulässig sei (Spruchpunkt V.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.) und ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt VII.).
4. Gegen diesen Bescheid richtet sich Beschwerde vom 30.03.2023. Im Wesentlichen wurde dabei ausgeführt, der Beschwerdeführer könne sich in Tunesien nicht frei entfalten und habe er dort keine Freiheiten. Er könne seine beruflichen Ziele nicht verfolgen und wolle er zudem frei entscheiden können, wie er seine Sexualität auslebe. Er wolle dabei nicht an den strengen alten Traditionen seines Heimatlandes festhalten und als freier Mensch leben. Die belangte Behörde sei auf die persönliche Situation des Beschwerdeführers nicht näher eingegangen und habe keine weiteren Ermittlungen zu seinen existenziellen Bedenken getroffen. Auch die Länderfeststellungen seien unvollständig und hinsichtlich der konkreten Situation des Beschwerdeführers unzureichend. Bei einer Abschiebung würde der Beschwerdeführer in eine existentielle und aussichtslose Notlage geraten.
5. Mit Schriftsatz vom 31.03.2023, in der Außenstelle eingelangt am 04.04.2023, legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Der volljährige, ledige und kinderlose Beschwerdeführer arabischer Volksgruppenzugehörigkeit ist ein Staatsangehöriger Tunesiens. Er gehört der sunnitisch-muslimischen Glaubensgemeinschaft an, praktiziert seinen Glauben jedoch nicht aktiv. Seine Identität steht nicht fest.
Er ist gesund und fällt nicht unter die Risikogruppe gemäß der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz über die Definition der allgemeinen COVID-19-Risikogruppe (COVID-19-Risikogruppe-Verordnung), BGBl. II Nr. 203/2020. Der Beschwerdeführer ist sowohl arbeitsfähig als auch arbeitswillig.
Er stammt aus Tunesien und lebte zuletzt bis zu seiner Ausreise im Februar 2021 in Tunis, von wo aus er legal per Flugzeug in die Türkei ausreiste. Von dort aus erreichte er Griechenland, wo er im Juni 2022 auch erkennungsdienstlich behandelt wurde. Über Albanien, Serbien und Ungarn gelangte er schließlich nach Österreich, wo er am 07.02.2023 einen Asylantrag stellte und seit 14.02.2023 mit einer knapp vierzehntägigen Unterbrechung auch durchgehend melderechtlich erfasst ist.
In Tunesien erwarb er seinen Maturabschluss und studierte im Anschluss daran für die Dauer von drei Jahren Computerwissenschaften. Schließlich war er als Musikproduzent, Vorarbeiter, Buchhalter und in Griechenland auch in der Gastronomie tätig. Aufgrund seiner Schulausbildung sowie aufgrund seiner bisherigen Tätigkeiten hat der Beschwerdeführer die Chance, auch hinkünftig am tunesischen Arbeitsmarkt unterzukommen. In Tunesien sind nach wie vor die Eltern des Beschwerdeführers sowie zumindest eine Schwester aufhältig, wobei er mit seiner Familie auch in Kontakt steht. Weder im Bundesgebiet, noch in einem sonstigen EU-Staat verfügt der Beschwerdeführer über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte, ein Familienleben in Österreich führt er nicht.
Der Beschwerdeführer bezieht keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Insgesamt konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer außergewöhnlichen Integration des Beschwerdeführers in Österreich festgestellt werden.
Strafgerichtlich ist er unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtmotiven und der individuellen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer wurde in seinem Herkunftsland Tunesien weder aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe noch aufgrund seiner politischen Gesinnung verfolgt. Er hat seinen Herkunftsstaat ausschließlich aus wirtschaftlichen Erwägungen verlassen.
Einer Abschiebung des Beschwerdeführers aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich stehen keine Umstände entgegen. Er verfügt über keine sonstige Aufenthaltsberechtigung. Im Falle seiner Rückkehr nach Tunesien droht ihm weder die reale Gefahr der Folter, noch unmenschliche Bestrafung, unmenschliche Behandlung oder die Todesstrafe. Weder wird ihm seine Lebensgrundlage gänzlich entzogen oder ist er einer wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt, noch besteht für ihn in Tunesien die reale Gefahr einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes.
1.3. Zu den Feststellungen zur Lage in Tunesien
Bei Tunesien handelt es sich um einen sicheren Herkunftsstaat nach § 1 Z 11 der Herkunftsstaaten-Verordnung.
Die aktuelle Situation im Herkunftsstaat (Stand 12.01.2023) des Beschwerdeführers stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:
1.3.1. COVID-19
Seit 1.12.2022 sind in Tunesien sämtliche COVID-19-Beschränkungen für Reisende aus dem Ausland aufgehoben (BMEIA 12.12.2022; vgl. AA 12.12.2022); unabhängig vom jeweiligen Impfstatus (AA 12.12.2022). Die Pflicht zur Vorlage eines PCR-Tests und eines Impfnachweises entfällt (BMEIA 12.12.2022; vgl. AA 12.12.2022). Personen, die COVID-19-Symptome zeigen, müssen einen Mund-Nasen-Schutz tragen (AA 12.12.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (12.12.2022): Tunesien: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tunesien-node/tunesiensicherheit/219024 , Zugriff 12.12.2022
BMEIA - Bundesministerium Europäische und Internationale Angelegenheiten [Österreich] (12.12.2022): Reiseinformationen Tunesien, http://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/ , Zugriff 12.12.2022
1.3.2. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Tunesien ist nach wie vor angespannt, geprägt von täglichen Sicherheitsoperationen von Militär und Polizei und Meldungen über vereitelte Anschläge. Das Risiko von terroristischen Anschlägen ist weiterhin gegeben, es ist aber eine Verringerung in den letzten Jahren feststellbar. Das Jahr 2015 bildete mit drei großen Anschlägen einen Höhepunkt. Gefahr geht dabei vorwiegend von Rückkehrern aus v. a. Libyen aus. Die Terrorismusbekämpfung und die Sicherheit an den Grenzen gehören weiterhin zu den wichtigsten Prioritäten der tunesischen Regierung. Die tunesischen Behörden haben eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um Terrorzellen zu zerschlagen, insbesondere wurde die Präsenz der Sicherheitskräfte im Land erhöht. Die Zahl der Terroranschläge in Tunesien ist in der Folge in den letzten Jahren zurückgegangen, da sich die Sicherheitsstrukturen des Landes erheblich verbessert haben. Seit dem Messerangriff auf eine Patrouille der Nationalgarde in Sousse im September 2020 gab es keinen nennenswerten terroristischen Vorfall mehr in einem größeren tunesischen Ballungsraum (STDOK 17.3.2022).
Die von den bisherigen Regierungen angestrebte Verbesserung der Sicherheitslage im Inneren und der Kampf gegen den Terrorismus bleiben trotz vermehrter Anstrengungen und zahlreichen Verhaftungs- und Durchsuchungsaktionen weiter eine Herausforderung. Die Sicherheitslage ist in der Stadt und in der Region um Ben Guerdane nahe der libyschen Grenze besonders angespannt. Mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz in diesen Regionen ist zu rechnen (AA 29.4.2022).
Laut österreichischem Außenministerium gilt (für österreichische Staatsbürger) eine partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5) für die Saharagebiete, das Grenzgebiet zu Algerien und die westlichen Landesteile. Reisewarnungen bestehen für die Region südlich der Orte Tozeur – Douz – Ksar Ghilane – Tataouine – Zarzis. Mit gewaltsamen Aktionen terroristischer Organisationen ist zu rechnen. Das militärische Sperrgebiet an der Grenze zu Algerien in der Nähe des Berges Chaambi ist teilweise vermint und kann von den Sicherheitskräften kurzfristig ausgedehnt werden. Im Westen des Landes ist mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz zu rechnen; es finden bewaffnete Auseinandersetzungen mit Terroristengruppen statt (BMEIA 12.12.2022). Die Behörden haben insbesondere die Präsenz der Sicherheitskräfte im Land erhöht, vor allem in den Touristenorten (EDA 12.12.2022; vgl. BMEIA 12.12.2022).
Im Juni 2022 wurden zwei Sicherheitskräfte bei einem Messerangriff im Zentrum von Tunis verletzt und bereits im Jänner kam es zu einem Messerangriff in einem Tram bei Tunis (EDA 12.12.2022).
Der nach der Attentatsserie von 2015 verhängte Ausnahmezustand ist nach wie vor in Kraft, wird regelmäßig verlängert und gilt im ganzen Land. Er gewährt den Sicherheitsbehörden einen erweiterten Handlungsspielraum, der von der Zivilgesellschaft kritisch beobachtet wird (ÖB 10.2022; vgl. FH 24.2.2022). Die Behörden verfügen somit über eine weitreichende Erlaubnis, die Bewegungsfreiheit von Einzelpersonen einzuschränken, und Tausende von Menschen sind von solchen Verfügungen betroffen (FH 24.2.2022).
Die angespannte Wirtschaftslage verbunden mit sozialen Problemen führt nicht nur vermehrt zu spontanen Demonstrationen, sondern auch gewalttätigen Ausschreitungen, die einen Armeeeinsatz erforderlich machen. Demonstrationen und Proteste können sich spontan und unerwartet entwickeln. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften können dabei nicht ausgeschlossen werden (AA 29.4.2022; vgl. BMEIA 12.12.2022). Ferner informiert das österreichische Außenministerium, das zum 10. Jahrestag der tunesischen Revolution mit vermehrten Unruhen im ganzen Land zu rechnen ist (BMEIA 12.12.2022). So fanden sich am Sonntag [8.5.2022] im Epizentrum der großen Proteste, im Zeichen jener Kundgebungen, die 2011 den ehemaligen Staatschef Zine El Abidine Ben Ali stürzten, Hunderte Tunesier und demonstrierten zur Unterstützung von Präsident Kaïs Saïed und seiner seit Juli 2021 getroffenen Maßnahmen, die von Kritikern als Staatsstreich bezeichnet wurden. Die Kundgebung fand auf der zentralen Bourguiba-Allee in der Hauptstadt statt (France 24 8.5.2022; vgl. BAMF 9.5.2022). Am 15.10.2022 demonstrierten Tausende Menschen in Tunis (AJ 15.10.2022; vgl. France24 15.10.2022). Die Demonstranten forderten den Rücktritt von Präsident Kaïs Saïed und protestierten auch gegen die hohen Lebenshaltungskosten im Land (France24 15.10.2022). Anhänger der Ennahdha-Partei und der Freien Verfassungspartei hielten am Samstag in benachbarten Gebieten der Hauptstadt Tunis parallele Kundgebungen ab und warfen Präsident Kaïs Saïed Misswirtschaft und einen antidemokratischen Putsch vor (AJ 15.10.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (12.12.2022): Tunesien: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tunesien-node/tunesiensicherheit/219024?view =, Zugriff 12.12.2022
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.4.2022): Tunesien - Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: März 2022), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23675904&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dsrch%2ESearchCache%26cacheId%3D1094784449 , Zugriff 7.6.2022
AJ - Al Jazeera (15.10.2022): Tunisian protesters denounce ‘coup’, demand president steps down, https://www.aljazeera.com/news/2022/10/15/tunisian-protesters-denounce-coup-demand-presidents-removal , Zugriff 30.11.2022
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (9.5.2022): Briefing Notes: Tunesien: Unterstützung für den Staatspräsidenten, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683355/1094994/1094995/1095013/13446325/23477053/23675610/-/Deutschland._Bundesamt_f%C3%Bcr_Migration_und_Fl%C3%Bcchtlinge%2C_Briefing_Notes%2C_KW19%2C_09.05.2022_%28deutsch%29.pdf?nodeid=23675611&vernum=-2 , Zugriff 9.11.2022
BMEIA - Bundesministerium Europäische und Internationale Angelegenheiten [Österreich] (12.12.2022): Reiseinformationen Tunesien, http://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/ , Zugriff 12.12.2022
EDA - Eidgenössisches Department für Auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (12.12.2022): Reisehinweise für Tunesien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-information/tunesien/reisehinweise-tunesien.html#par_textimage ₀, Zugriff 12.12.2022
FH - Freedom House (24.2.2022): Freedom in the World 2022 - Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2068830.htm , Zugriff 13.4.2022
France24 (15.10.2022): Des milliers de Tunisiens manifestent contre le président Kaïs Saïed et la crise économique, https://www.france24.com/fr/afrique/20221015-des-milliers-de-tunisiens-manifestent-contre-le-pr%C3%A9sident-ka%C3%Afs-sa%C3%Afed-et-la-crise-%C3%A9conomique , Zugriff 30.11.2022
France 24 (8.5.2022):Hundreds rally in support of Tunisian President Saied, https://www.france24.com/en/africa/20220508-hundreds-rally-in-support-of-tunisian-president-saied , Zugriff 10.5.2022
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 29.12.2022
Reuters (29.1.2022): Tunisia thwarts alleged terrorist attack targeting tourist areas (29.1.2022), https://www.reuters.com/world/africa/tunisia-thwarts-alleged-terrorist-attack-targeting-tourist-areas-2022-01-28/ , Zugriff 6.5.2022
STDOK - Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (17.3.2022): Themenbericht intern: Nordafrika - Terrorismus in Ägypten, Libyen, Marokko und Tunesien, Quelle liegt bei der Staatendokumentation auf
1.3.3. Rechtsschutz / Justizwesen
Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor (BS 2022; vgl. FH 24.2.2022, USDOS 12.4.2022). Im Allgemeinen respektiert die Regierung die richterliche Unabhängigkeit auch in der Praxis (BS 2022; vgl. USDOS 12.4.2022). Die Justizreform war und ist eine der wichtigsten Säulen des tunesischen Transitionsprozesses (ÖB 10.2022; vgl. FH 24.2.2022). Sie schreitet seit der Revolution aber nur langsam voran (FH 24.2.2022; vgl. ÖB 10.2022, FH 24.2.2022). Das Programm zur Unterstützung der Justizreform (PARJ) dessen Finanzierungsvereinbarung den Reformprozess der Regierung erleichtern und die Rechtsstaatlichkeit in Tunesien stärken sollte, ist zum Stillstand gekommen. Zwischen den Prinzipien der Verfassung und den Gesetzen, die in Tunesien tatsächlich in Kraft sind, gibt es noch große Diskrepanzen (ÖB 10.2022).
Auch weiterhin finden sich zahlreiche Richter aus der Ben-Ali-Ära auf der Richterbank und aufeinanderfolgende Regierungen versuchen regelmäßig, Gerichte zu manipulieren. Mit den 2016 verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde der Oberste Justizrat eingesetzt, der für die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Justiz und die Ernennung der Richter des Verfassungsgerichts zuständig ist. Die Ratsmitglieder wurden in diesem Jahr von Tausenden von Juristen gewählt. In einem Bericht des Direktors für den Nahen Osten und Nordafrika der Internationalen Juristenkommission vom Dezember 2021 wird den tunesischen Behörden jedoch vorgeworfen, dass sie es versäumt haben, Reformen zur Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz und zur Ermächtigung des Obersten Justizrats zu verabschieden, wie dies in früheren Gesetzen zur Übergangsjustiz vorgesehen war (FH 24.2.2022).
Seit der Verabschiedung der Verfassung im Jahr 2014 ist es den verschiedenen Parlamenten nicht gelungen, das Verfassungsgericht einzurichten, ein wichtiges unabhängiges Justizorgan, das für die Einhaltung der Verfassung sorgen und die Rechtmäßigkeit von Dekreten und Gesetzen prüfen soll (HRW 13.1.2022; vgl. AA 29.4.2022). Es existiert nur ein provisorisches Verfassungsgericht, das bis zur Suspendierung der Verfassung über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzesentwürfen wachte (AA 29.4.2022). Die Bemühungen des Parlaments, die Einrichtung des Gerichts voranzutreiben, wurden im April 2021 von Präsident Saïed zurückgewiesen, was die politische Pattsituation zwischen Exekutive und Legislative weiter verschärfte. Das Fehlen eines Verfassungsgerichts erschwerte die Debatte über die Verfassungsmäßigkeit von Saïeds Notstandsmaßnahmen (FH 24.2.2022; vgl. HRW 13.1.2022). Insgesamt bleibt die Harmonisierung der gesamten bestehenden Rechtsordnung mit der neuen Verfassung eine anhaltende gesetzgeberische Herausforderung (AA 29.4.2022)
Dem Justizsystem mangelt es an Effizienz und Unabhängigkeit; lange Verfahrensdauer, mangelnde Beachtung der Prozedere und Kapazität haben einen Vertrauensverlust in der Bevölkerung zur Folge. Die heikle Sanierung in Richtung einer unabhängigen und professionellen Justiz ist dringend geboten, um Korruption und Steuerflucht effizient zu bekämpfen. Das Fehlen eines Verfassungsgerichtshofs wird auch international angeprangert (ÖB 10.2022).
Vom 5.2.2022 auf den 6.2.2022 gab Präsident Kaïs Saïed die Auflösung des Obersten Justizrates (Conseil supérieur de la magistrature, CSM) bekannt. Dem CSM wird vorgeworfen, er sei korrupt und habe die Ermittlungen u. a. zum Attentat auf den linken Aktivisten Chokri Belaïd im Jahr 2013 erheblich verschleppt. Am 6.2.2022 jährte sich der Todestag des Aktivisten zum neunten Mal, zu seinem Gedenken fanden Demonstrationen statt. Der aus 45 Mitgliedern bestehende Rat war im Jahr 2016 geschaffen worden, um die Unabhängigkeit der Justiz zu überwachen. Saïed kündigte an, den Justizrat neu zu begründen und zu organisieren (BAMF 7.2.2022). Am 13.2.2022 erließ Präsident Kaïs Saïed ein Dekret, mit dem eine neue Justizaufsicht eingerichtet und das am 6.2.2022 von ihm aufgelöste Gremium des Obersten Rates der Justiz ersetzt werden soll. Dem Dekret zufolge kann der Präsident die Auswahl, Ernennung, Beförderungen und Versetzung von Richterinnen und Richtern innerhalb der neuen Justizaufsicht kontrollieren, was ihm zusätzliche Befugnisse zur Kontrolle der obersten Justizbehörde des Landes einräumt (BAMF 14.2.2022; vgl. EPRS 29.3.2022).
Präsident Saïed verkündete am 1.6.2022 per Dekret die Entlassung von insgesamt 57 Richtern, denen Korruption, Schutz von terroristischen Organisationen und sexualisierte Gewalt vorgeworfen wird. Schon zuvor kam es zu Streiks von Richtern, sodass Gerichtssäle im gesamten Land geschlossen wurden. Am 4.6.2022 verurteilten die Gewerkschaften die fortgesetzte Einmischung des Präsidenten in die Justiz (BAMF 13.6.2022). Die neue im August 2022 in Kraft getretene Verfassung stellt einen weiteren Schritt des Präsidenten Richtung Autoritarismus dar. Darüber hinaus untersagt die Verfassung Richtern zu streiken und schränkt damit ihr Recht auf friedliche Versammlung und Protest erheblich ein (ÖB 10.2022).
Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist gesetzlich verankert, und die unabhängige Justiz setzt dieses Recht im Allgemeinen durch, obwohl sich Angeklagte darüber beschweren, dass die Behörden die gesetzlichen Bestimmungen über die Gerichtsverfahren nicht konsequent befolgen. Vor zivilen Gerichten haben Angeklagte das Recht auf die Unschuldsvermutung. Sie haben auch das Recht, einen Anwalt zu konsultieren oder auf öffentliche Kosten einen Anwalt stellen zu lassen, Zeugen und Beweise vorzulegen und Urteile gegen sie anzufechten. Das Gesetz schreibt vor, dass Angeklagte unverzüglich und detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe informiert werden müssen, gegebenenfalls mit freier Auslegung. Sie müssen auch ausreichend Zeit und Gelegenheit erhalten, ihre Verteidigung vorzubereiten, und dürfen nicht gezwungen werden, auszusagen oder Schuld zu bekennen (USDOS 12.4.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.4.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: März 2022), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23675904&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dsrch%2ESearchCache%26cacheId%3D1094784449 , Zugriff 7.6.2022
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (13.6.2022): Briefing Notes, Tunesien, Entlassung zahlreicher rechtsprechender Personen – Protest gegen Einmischung in Justiz, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683355/1094994/1094995/1095013/13446325/23477053/23696289/-/Deutschland._Bundesamt_f%C3%Bcr_Migration_und_Fl%C3%Bcchtlinge%2C_Briefing_Notes%2C_KW24%2C_13.06.2022_%28deutsch%29.pdf?nodeid=23696713&vernum=-2 , Zugriff 12.12.2022
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (14.2.2022): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw07-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=4 , Zugriff 11.5.2022
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (7.2.2022): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw06-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 11.5.2022
BS - Bertelsmann Stiftung (2022): Tunesien Country Report 2022, https://bti-project.org/de/reports/country-report/TUN , Zugriff 13.4.2022
EPRS - European Parlament (29.3.2022): Tunisia: Political situation ahead of the constitutional referendum, https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/ATAG/2022/729346/EPRS_ATA(2022)729346_EN.pdf , Zugriff 12.5.2022
FH - Freedom House (24.2.2022): Freedom in the World 2022 - Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2068830.htm , Zugriff 13.4.2022
HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2066567.html , Zugriff 13.4.2022
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 29.12.2022
USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2071185.html , Zugriff 20.4.2022
1.3.4. Folter und unmenschliche Behandlung
Artikel 23 der tunesischen Verfassung vom 26.1.2014 garantiert den Schutz der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit, verbietet seelische oder körperliche Folter und schließt eine Verjährung des Verbrechens der Folter aus. Mit der Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe am 29.6.2011 hat sich Tunesien zur Einrichtung eines nationalen Präventionsmechanismus verpflichtet. Eine innerstaatliche gesetzliche Grundlage wurde 2013 geschaffen. 2016 schließlich wählte das Parlament die Mitglieder der neuen Nationalen Instanz zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung. Zu ihren Hauptaufgaben gehören unangemeldete Besuche an allen Orten des Freiheitsentzugs, das Entgegennehmen und Weiterleiten von Beschwerden an die Justizbehörden sowie die Abgabe von Empfehlungen zur Behebung von Missständen (AA 29.4.2022). Im Juni 2011 ist Tunesien als erster nordafrikanischer Staat auch dem Fakultativprotokoll zur UN-Anti-Folter-Konvention beigetreten, das vorsieht, dass durch Besuche und Kontrollen nationaler und internationaler Gremien in Gefängnissen und Anstalten der Schutz vor Folter verstärkt wird (ÖB 10.2022).
Zur Überwachung des verfassungsmäßig verankerten Verbots der Folter wurde 2015 die Instance Nationale de Prévention de la Torture - INPT – eingerichtet, welche jüngst wieder bestätigt hat, dass für Folter keine Verjährung gilt. Im Oktober 2020 hat die INPT den unter Artikel 230 immer noch legalisierten Anal-Test bei Verdacht auf Homosexualität als Akt der Folter deklariert (ÖB 10.2022).
Regelmäßig erhobene Foltervorwürfe insbesondere in Polizeihaft lassen auf das Überleben alter Gewohnheit in den Rängen der Sicherheitskräfte schließen und bleiben häufig straflos. Immer noch führen Fälle von Missbrauch und Folter in Polizei- und Militärgewahrsam zum Tode (ÖB 10.2022). Gemäß der INPT fanden die meisten der gemeldeten Misshandlungen unmittelbar nach der Festnahme in Polizeigewahrsam statt. Die INPT hat im Jahr 2020 einen Bericht für den Zeitraum 2016-20 veröffentlicht (USDOS 12.4.2022). NGOs kritisierten die Regierung für ihre Zurückhaltung bei der Untersuchung von Foltervorwürfen und den Anschein der Straffreiheit für Täter. Im Juni 2021 behauptete der Präsident der INPT, dass die Justiz in Fällen von Folter oder Misshandlung nie ein endgültiges Urteil verkünden und dass solche Fälle stattdessen im Allgemeinen als "übermäßige Gewaltanwendung" behandelt werden. Die unabhängige tunesische Organisation gegen Folter (OCTT) erhielt im Jahr 2021 Fotos und Videoaufnahmen über Folter eines Insassen im Mornaguia-Gefängnis, der in weiterer Folge an seinen Verletzungen verstarb. Das OCTT informierte die INPT über den Fall und forderte ein gerichtsmedizinisches Gutachten zur Feststellung der Todesursache an. Die Regierung gab keine öffentlichen Erklärungen zu diesem Fall ab (USDOS 12.4.2022).
Die Polizei sieht sich seit Langem mit Vorwürfen konfrontiert, wonach Beamte ungestraft Zivilisten und Inhaftierte misshandeln. Die Polizeigewerkschaften haben sich gegen Reformbemühungen gewehrt, die auf eine Problemlösung abzielen. Im Jahr 2021 wurden mehrere öffentlichkeitswirksame Fälle von Misshandlungen und Schikanen durch die Polizei auf Video aufgezeichnet. Diese Ereignisse lösten große Proteste gegen Polizeigewalt aus, die wiederum von den Einsatzkräften unterdrückt wurden (FH 24.2.2022).
Obwohl das Gesetz solche Praktiken verbietet, kommt es laut Berichten von nationalen und internationalen Organisationen zu schweren körperlichen Misshandlungen durch die Polizei (USDOS 12.4.2022). Im Jahr 2021 gingen die Sicherheitskräfte in mehreren Teilen des Landes weiterhin mit Gewalt gegen Proteste vor. Im Jänner schlug die Polizei in mehreren Städten Demonstranten und nahm Hunderte von ihnen fest, darunter viele Minderjährige. Bei Zusammenstößen mit der Polizei in der Stadt Sbeitla kam ein junger Mann ums Leben. Mindestens zwei weitere Männer starben in Sfax und Sidi Hassine bei Zusammenstößen mit der Polizei (HRW 13.1.2022).
Zwar sind die Bedingungen, die nach 2011 zu einer Zunahme der terroristischen Aktivitäten in Tunesien geführt haben, im Jahr 2021 nicht mehr gegeben, doch hat Tunesien seinen Erfolg bei der Terrorismusbekämpfung auch durch schwerwiegende repressive Maßnahmen erkauft. Der seit Jahren geltende sicherheitspolitische Ausnahmezustand in Tunesien hat es den Sicherheitskräften ermöglicht, ohne richterliche Genehmigung Razzien durchzuführen und gegen Verdächtige de facto Reiseverbote zu verhängen. Darüber hinaus haben Menschenrechtsorganisationen die Behörden beschuldigt, Gefangene in Gefängnissen und Haftanstalten zu foltern und zu misshandeln. Tausende dieser Gefangenen sollen in den kommenden Jahren freigelassen werden, wobei eine erfolgreiche Rehabilitation und Wiedereingliederung in die tunesische Gesellschaft fraglich ist (JF 13.8.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.4.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: März 2022), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23675904&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dsrch%2ESearchCache%26cacheId%3D1094784449 , Zugriff 7.6.2022
FH - Freedom House (24.2.2022): Freedom in the World 2022 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2068830.html , Zugriff 13.4.2022
JF - Jamestown Foundation (13.8.2021): Tunisia’s Tense Political Situation and Consequences for Counterterrorism; Terrorism Monitor Volume: 19 Issue: 16, https://www.ecoi.net/en/document/2058727.html , Zugriff 7.10.2021
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 29.12.2022
USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2071185.htm , Zugriff 20.4.2022
1.3.5. Allgemeine Menschenrechtslage
Die vormalige tunesische Verfassung vom 26.1.2014 enthielt umfangreiche Garantien bürgerlicher und politischer sowie wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Grundrechte. Tunesien hat die meisten Konventionen der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechte einschließlich der entsprechenden Zusatzprotokolle ratifiziert. Vereinzelt noch bestehende Vorbehalte wurden 2011 größtenteils zurückgezogen (AA 29.4.2022). Seit der Verabschiedung der Verfassung im Jahr 2014 ist es den aufeinanderfolgenden Parlamenten nicht gelungen, das Verfassungsgericht einzurichten, ein wichtiges unabhängiges Justizorgan, das die Einhaltung der Verfassung gewährleisten soll (HRW 13.1.2022).
Am 17.8.2022 trat eine neue Verfassung in Kraft, die nach dem Referendum am 25.7.2022 von den Wählern angenommen worden war. Die Verfassung spricht Präsident Kaïs Saïed zunehmend autoritäre Entscheidungskraft zu, schränkt die Gewaltentrennung substanziell ein und wurde so gut wie im Alleingang vom Präsidenten erstellt. Der Vorgang zeichnete sich durch Intransparenz und Missachtung des Rechts der Öffentlichkeit, Informationen darüber einzuholen, aus. Die Einschränkungen bei der Durchsetzung von Menschenrechten seit dem Ausrufen des Ausnahmezustands als Antwort auf die Terroranschläge 2015 werden nun durch die neue Verfassung weiter vertieft. Die Verfassung beinhaltet zwar unterschiedlichste Menschenrechtsbestimmungen im Kapitel „Rechte und Freiheiten“, hat jedoch jegliche Referenz zu universellen Menschenrechten in der Präambel verloren und schränkt die institutionelle Garantie für Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Menschenrechte im Vergleich zur Verfassung von 2014 erheblich ein. Die neue Verfassung räumt dem Präsidenten weitreichende Notstandsbefugnisse ohne den erforderlichen Kontrollmechanismus ein, die zur Beschneidung der Menschenrechte und zur Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit genutzt werden können. Darüber hinaus untergräbt die neue Verfassung die Garantien für die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts, einer wichtigen Institution für den Schutz der Menschenrechte, und schränkt dessen Mandat ein, indem sie ihm die Kontrolle über die Verfassungsmäßigkeit der Verlängerung des Ausnahmezustands entzieht. Die Rechte auf persönliche Freiheit, auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sind aufgrund von Verlängerungen des Ausnahmezustands teilweise noch immer eingeschränkt. Der Tatbestand der "Gefährdung der öffentlichen Moral" gilt weiterhin, ebenso wie immer wieder Fälle von Folter angeprangert werden. Zudem fehlt ein verfassungsrechtliches Höchstgericht (ÖB 10.2022).
Gesetzlich sind Meinungs- und Pressefreiheit gewährleistet, und die Regierung respektiert diese Rechte im Allgemeinen, wiewohl es weiterhin Restriktionen gibt (USDOS 12.4.2022; vgl. FH 24.2.2022) - v. a. nach der Verhängung außergewöhnlicher Maßnahmen durch Präsident Saïed am 25.7.2021 (USDOS 12.4.2022). In Tunesien sind Presse- und Informationsfreiheit unbestreitbare Errungenschaften der neuen, 2014 verabschiedeten Verfassung (RSF 3.5.2022; vgl. AA 19.2.2021, FH 24.2.2022). Im Vergleich zu den weitreichenden Einschränkungen von Meinungs- und Pressefreiheit vor der Revolution 2011 haben sich die Bedingungen für unabhängige Medienberichterstattung in den letzten Jahren zwar grundlegend verbessert, jedoch bleiben sie weiterhin verbesserungsfähig. Es wurden wichtige rechtliche Grundlagen zum Schutz der freien Presse geschaffen und offizielle und informelle Strukturen, die zur Unterdrückung freier Meinungsäußerung eingesetzt wurden, größtenteils abgeschafft. Die Medien berichten - in unterschiedlicher Qualität - frei und offen (AA 19.2.2021; vgl. FH 24.2.2022). Viele unabhängige Medien, darunter mehrere Online-Nachrichtenseiten, sind seit der Revolution von 2011 entstanden, und Befürworter der Pressefreiheit haben ihre Besorgnis über die erhebliche politische Einflussnahme auf eine Reihe großer privater Medienunternehmen zum Ausdruck gebracht (FH 24.2.2022).
Einschränkungen finden sich z.B. in Bezug auf sicherheitsrelevante Themen. Seit den Ausweitungen der Antiterrormaßnahmen hat sich diese Tendenz verstärkt. Journalisten und Blogger, die Kritik an Sicherheitskräften üben, müssen mit Strafen rechnen (AA 19.2.2021). Mit der Verlängerung des Ausnahmezustands um weitere sechs Monate, verfügten nun auch die Sicherheitskräfte über erweiterte Befugnisse, was unter anderem zur Einschränkung der Pressefreiheit führt (BAMF 11.1.2021). In den letzten Jahren verzeichnet Tunesien einen leichten Rückgang hinsichtlich besagter Freiheiten. Während der COVID-19-Krise wurden verstärkt Blogger und Journalisten bedroht, festgenommen und öffentlich bloßgestellt (ÖB 10.2022). Am 5.5.2022 protestierten Journalisten in Tunis gegen die zunehmende Repression der Presse durch staatliche Stellen. In der von Reporter ohne Grenzen veröffentlichen Rangliste für Pressefreiheit fiel Tunesien von Platz 73 (2021) auf Platz 94 (2022) zurück (BAMF 9.5.2022; vgl. RSF 3.5.2022).
Nach der Machtergreifung von Präsident Kaïs Saïed am 25.7.2021, der den Ausnahmezustand verhängte, sind ernste Bedenken aufgekommen (RSF 3.5.2022). Verschiedene Quellen wie u.a. RSF und die tunesische Journalismusgewerkschaft SNJT berichteten am 15.10.2021, dass es nach der Entmachtung des Parlaments sowie des früheren Regierungschefs mehrfach zu Übergriffen auf Journalisten durch Polizei und Demonstranten gekommen ist (BAMF 18.10.2021).
Menschenorganisationen bringen ihre tiefe Besorgnis über das am 13.9.2022 erlassene Gesetzesdekret Nr. 54 von 2022 zum Ausdruck, mit dem Straftaten im Zusammenhang mit Informations- und Kommunikationssystemen bekämpft werden sollen. Die Bestimmungen des Gesetzes verstoßen gegen die Artikel 37, 38 und 55 der tunesischen Verfassung sowie gegen Artikel 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, den Tunesien ratifiziert hat (Article 19 21.9.2022). Obwohl das Dekret Strafen vorsieht, enthält es keine Definition der in Paragraf 24 genannten "Fake News" und "Gerüchte". Da die Sicherheitsdienste und Staatsanwälte das Dekret nach eigenem Gutdünken auslegen können, kann es mitunter zur Legitimierung von Angriffen auf die Pressefreiheit sowie das Recht, zu informieren und informiert zu werden, verwendet werden. Es kann zudem dazu benutzt werden, Journalismus zu kriminalisieren, das Recht der Journalisten auf die Vertraulichkeit ihrer Quellen infrage zu stellen und viele der internationalen Verpflichtungen des tunesischen Staates zu untergraben. Laut Gesetz kann ein Verstoß gegen Paragraf 24 in Tunesien strafrechtlich verfolgt werden, selbst wenn er im Ausland begangen wurde. Die Nationale Union der tunesischen Journalisten (SNJT) hat die Rücknahme des Dekrets mit der Begründung gefordert, dass es gegen die tunesische Verfassung, die internationalen Verpflichtungen Tunesiens im Bereich der Menschenrechte und der Pressefreiheit sowie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Strafen verstößt (RSF 20.9.2022).
Im September 2022, demonstrierten Journalisten gegen das als Präsidialdekret erlassene Mediengesetz. Diesem zufolge kann die Verbreitung von falschen Informationen oder Gerüchten im Internet mit Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren geahndet werden. Werden angeblich unwahre Behauptungen gegen staatliche Repräsentanten verbreitet, kann die Haftstrafe sogar auf zehn Jahre steigen (DW 20.9.2022). Das vom Staatspräsidenten am 16.9.2022 neu erlassene Gesetz stößt auf scharfe Kritik. Definitionen von Gerüchten sowie Fake News sind im Erlass nicht enthalten. Kritische Stimmen befürchten eine starke (Selbst-) Zensur, ebenso weitere Repressionen gegenüber Journalisten (BAMF 26.9.2022). Zudem sehen Journalisten auch einen drastischen Einschnitt der Meinungsfreiheit. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird durch vage und repressive Gesetze eingeschränkt. Das Dekret erinnere an die Gesetze, mit denen der 2011 gestürzte Langzeit-Herrscher Zine al-Abidine Ben Ali gegen Andersdenkende vorgegangen sei (DW 20.9.2022). Die Organisation von Journalisten ohne Grenzen verzeichnete ebenfalls eine Verschlechterung der Pressefreiheit und Sicherheit von Journalisten im letzten Jahr (ÖB 10.2022). Am 15.11.2022 wurden nach Angabe mehrerer Medienberichte Ermittlungen gegen einen Journalisten wegen eines kritischen Berichts zur bisherigen Bilanz der Premierministerin Najla Bouden Romdhane eingeleitet. Der Chefredakteur der Online-Website Business News ist somit der erste Journalist, gegen den aufgrund des im September 2022 erlassenen Gesetzes gegen Falschinformation ein Verfahren eingeleitet wurde (BAMF 21.11.2022). Neben Journalisten wurden auch politische Blogger aufgrund von Beleidigungs- und Verleumdungsgesetzen strafrechtlich verfolgt (FH 24.2.2022).
Aktivisten äußerten sich besorgt über die staatlichen Interferenzen in den Medien und die Konzentration des Medienbesitzes in den Händen einiger weniger politischer Parteien oder Familien. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden das Strafgesetzbuch und die Militärgerichtsbarkeit dazu genutzt, um gegen Journalisten, Rechtsanwälten und Aktivisten der Zivilgesellschaft vorzugehen (USDOS 12.4.2022). Journalisten sind im Zusammenhang mit ihrer Arbeit zunehmendem Druck und Einschüchterung durch Regierungsbeamte ausgesetzt. Sicherheitskräfte schlossen das Büro des katarischen Nachrichtendienstes Al-Jazeera in Tunis am Tag, nachdem Saïed im Juli 2021 seine außergewöhnlichen Befugnisse erklärt hatte. Reporter ohne Grenzen stellte in den Tagen vor Saïeds Ankündigung einer neuen Regierung mehrere Fälle von Belästigung und Inhaftierung von Journalisten fest. Das Nationale Syndikat tunesischer Journalisten (SNJT) protestierte gegen den Trend, Journalisten und Aktivisten an Militärgerichte zu verweisen. Reporter, die über die Sicherheitskräfte oder Proteste berichten, sind besonders anfällig für Belästigungen, körperliche Misshandlungen und Festnahmen (FH 24.2.2022). Am 26.7.2021 veröffentlichte die SNJT eine Erklärung, in der sie Präsident Saïed aufforderte, die Pressefreiheit zu schützen, nachdem berichtet wurde, dass Sicherheitsbeamte in die Zentrale von Al-Jazeera in Tunis eindrangen und die Mitarbeiter des Büros aufforderten das Gebäude zu verlassen. Im Dezember 2021 blieben die Büros von Al-Jazeera weiterhin geschlossen, und die Lizenz wurde nicht erneuert; die Journalisten arbeiteten weiterhin vom Hauptsitz des SNJT aus (USDOS 12.4.2022). Das Büro der Al-Jazeera war unter der Begründung bestürmt worden, dass dem Islamismus zu viel Raum gegeben wird (BAMF 18.10.2021).
Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird durch vage und repressive Gesetze eingeschränkt (AI 29.3.2022).
Zivilisten werden immer noch vor Militärgerichte gestellt, insbesondere wegen Verleumdung der Armee. Zu den Personen, die im Jahr 2021 vor Militärgerichte gestellt wurden, gehörten Gesetzgeber, Geschäftsleute, Journalisten und Blogger (FH 24.2.2022). Ab Juli 2021 ermittelte und verfolgte die Militärjustiz mindestens zehn Zivilisten, darunter vier wegen Kritik an Präsident Saïed, was eine erhebliche Zunahme gegenüber den Vorjahren darstellt (AI 29.3.2022). Im Jahr 2022 wurden bereits mindestens zehn Zivilisten vor das Militärgericht gestellt. Auch Regierungsmitglieder gerieten zunehmend ins Visier des Militärgerichts. Diese Praxis verstößt gegen die Grundsätze eines ordnungsgemäßen Verfahrens in demokratischen Gesellschaften (ÖB 10.2022). Der seit Ende 2015 verhängte Ausnahmezustand mit erweiterten Befugnissen für Sicherheitskräfte wurde mehrfach verlängert und gilt landesweit fort (AA 15.11.2022). Das hat der Polizei weitreichende Befugnisse zur Verhaftung und Inhaftierung von Personen unter sicherheits- oder terrorismusbezogenen Anschuldigungen eingeräumt, und es kam im Laufe des Jahres 2021 zu willkürlichen Verhaftungen. Zivilisten werden immer noch vor Militärgerichte gestellt, insbesondere wegen Verleumdung der Armee. Zu den Personen, die im Jahr 2021 vor Militärgerichte gestellt wurden, gehörten Gesetzgeber, Geschäftsleute, Journalisten und Blogger (FH 24.2.2022).
Die Verfassung garantiert das Recht auf friedliche Versammlungen und Demonstrationen (FH 24.2.2022; vgl. AA 29.4.2022); allerdings schränkt die Regierung diese aus Gründen der öffentlichen Gesundheit, der öffentlichen Ordnung oder wegen bürokratischer Verzögerungen bei der Erteilung von Genehmigungen, ein (USDOS 12.4.2022). Trotz häufiger Verbote öffentlicher Versammlungen im Rahmen der Covid-19-Maßnahmen der Regierung kam es das ganze Jahr über zu Protesten, bei denen es häufig um sozioökonomische Rechte ging. Während der Demonstrationswelle im Jänner nahm die Polizei mehr als 1.500 Personen fest. Seit dem 25.7.2021 hat zwar die Anzahl politischer Proteste gegen die Politik des Staatspräsidenten zugenommen; bislang sind diese allerdings auf einem niedrigen Niveau und auf die Hauptstadt Tunis begrenzt. Landesweit kommt es regelmäßig zu Protesten gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Zu Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit kommt es immer wieder; seit 2020 meist begründet mit der COVID-19-Pandemie. Ein unverhältnismäßiger Einsatz polizeilicher Mittel war vor allem bei Jugendprotesten im Jänner und Feber 2021 festzustellen (AA 29.4.2022). Die landesweiten Proteste am 15.1.2021 wurden mit exzessiver Gewalt durch die Sicherheitskräfte unterdrückt. Polizeibeamte haben demnach Demonstranten verprügelt, Hunderte von ihnen, darunter viele Minderjährige, verhaftet, übermäßig viel Tränengas zur Auflösung der Proteste eingesetzt und Journalisten angegriffen (HRW 13.1.2022).
Trotz Versammlungsverbotes demonstrierten hunderte Menschen aufgrund steigender COVID-19-Fälle am 14.1.2022 in Tunis. Die Polizei ging mit Tränengas und Wasserwerfern sowie Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor. Dutzende Menschen wurden verhaftet. Zudem wurden mehrere Journalisten von der Polizei z. T. gewaltsam an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert. Am 14.1.2022 jährte sich der Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali zum elften Mal (BAMF 17.1.2022).
Vereinigungsfreiheit ist gesetzlich gewährleistet (USDOS 12.4.2022; vgl. AA 29.4.2022), jedoch wird diese nicht immer von der Regierung respektiert (USDOS 12.4.2022). Das 2011 liberalisierte Vereinsrecht (Dekret 88) basiert auf dem Grundsatz der bloßen Erklärung der Vereinsgründung gegenüber dem Generalsekretariat der Regierung. Gleichwohl enthält das Vereinsrecht Möglichkeiten der Sanktionierung von nicht-rechtstreuen sowie verfassungswidrigen Vereinigungen. Der Präsident hatte am 24.2.2021 angekündigt, das Dekret 88 durch eine wesentlich restriktivere NGO-Gesetzgebung ersetzen zu wollen - u. a. um die ausländische Finanzierung zu unterbinden (AA 29.4.2022). Mehrere NGOs berichteten von Behinderungen bei der Registrierung von Vereinen, etwa durch unnötige bürokratische Hürden und manchmal aus politischen Gründen (USDOS 12.4.2022).
Die primäre Behörde der Regierung zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen und zum Kampf gegen Bedrohungen der Menschenrechte ist das Justizministerium. Das Ministerium versagt allerdings dabei, Fälle von Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Innerhalb des Präsidentenbüros ist der Hohe Ausschuss für Menschenrechte und Grundfreiheiten eine von der Regierung finanzierte Agentur, die mit der Überwachung der Menschenrechte und der Beratung des Präsidenten betraut ist. Die Wahrheits- und Würdekommission (IVD) wurde 2014 gegründet, um schwere Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen (FH 24.2.2022).
Anfang 2018 stimmte das Parlament gegen eine Verlängerung des Mandats der Kommission. Diese legte ihren Abschlussbericht im März 2019 vor und veröffentlichte ihn offiziell im Juni 2020. Sie stützte sich dabei auf mehr als 62.000 Beschwerden, die tunesische Bürger wegen Menschenrechtsverletzungen gegen den Staat eingereicht hatten. Tunesische Gerichte prüften zum Jahresende 69 Anklagen und 131 Überweisungen der IVD (FH 24.2.2022). Allerdings hat die Regierung bis November 2020 noch keinen Aktionsplan vorgelegt, der laut Gesetz innerhalb eines Jahres nach Veröffentlichung des Berichts veröffentlicht werden müsste. Auf eine Erklärung der zivilgesellschaftlichen Koalition für Übergangsjustiz aus dem Jahr 2020, in der die Regierung und der Oberste Justizrat aufgefordert wurden, sich mit den Herausforderungen zu befassen, mit denen die spezialisierten Strafgerichte (SCC) konfrontiert sind, die eingerichtet wurden, um die vom IVD überwiesenen Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Finanzverbrechen zu beurteilen, gab es keine offizielle Antwort. Zu diesen Problemen gehörten die Weigerung der Polizeigewerkschaften, mit den Obersten Strafgerichten bei der Zustellung von Vorladungen und anderen Ersuchen zusammenzuarbeiten, die regelmäßige Rotation der Richter der Obersten Strafgerichte und der Teilzeitstatus der Richter. Bis zum Jahresende wurde keiner der 204 Fälle, die an die (SCC) verwiesen wurden und in denen mehr als 1.100 Opfer von Übergriffen zwischen 1955 und 2013 betroffen waren, gelöst (USDOS 12.4.2022).
Die Empfehlungen der IVD zur Umsetzung wichtiger institutioneller Reformen bleiben unerfüllt (HRW 13.1.2022; vgl. ÖB 10.2022). Nichtsdestotrotz war sie eine relevante Instanz bei der Sichtbarmachung der Rolle der ehemaligen Präsidenten sowie anderer hochrangiger Beamten bei Folter, willkürlichen Inhaftierung und vielen anderen Misshandlungen. Am 31.12.2021 endete das Mandat der Kommission (ÖB 10.2022).
Quellen:
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1.3.6. Todesstrafe
Das tunesische Strafgesetzbuch von 1913 sieht in seiner geltenden Fassung die Todesstrafe für Mord, Vergewaltigung mit Todesfolge sowie Landesverrat vor (AA 29.4.2022). Neue Straftatbestände, für die eine Sanktionierung mit der Todesstrafe vorgesehen ist, wurden durch das am 7.8.2015 in Kraft getretene Gesetz gegen Terrorismus und Geldwäsche geschaffen (AA 29.4.2022; vgl. ÖB 10.2022). Eine verfassungsrechtliche oder gesetzliche Aufhebung der Todesstrafe wurde in der Phase des demokratischen Übergangs seit 2011 diskutiert, fand jedoch im Parlament keine Mehrheit (AA 29.4.2022). Tunesien hat zwar den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR-International Covenant on Civil and Political Rights) noch nicht unterschrieben, jedoch war es im November 2012 gemeinsam mit Algerien das einzige arabische Land, welches sich in der UN-GV für das Moratorium gegen die Todesstrafe ausgesprochen hat. Trotz Art. 20 der Verfassung (Recht auf Leben) und trotz des Moratoriums gegen die Vollstreckung der Todesstrafe haben die tunesischen Gerichte allein 2019 47 Angeklagte zum Tode verurteilt (ÖB 10.2022). Allerdings haben die Behörden seit 1991 keine Hinrichtung mehr vollstreckt (FH 24.2.2022; vgl. AI 29.3.2022, ÖB 10.2022). Präsident Kaïes Saïed sprach sich im Oktober 2020 für den Beibehalt der Todesstrafe aus, was zu entsprechenden Protesten in der Zivilgesellschaft führte. Die Todesstrafe ist auch in der neuen 2022 implementierten Verfassung enthalten (ÖB 10.2022).
Quellen:
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ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 29.12.2022
1.3.7. Religionsfreiheit
98-99 % der Bevölkerung sind Muslime – mehr oder weniger praktizierend. Die meisten sind Sunniten. Neben Muslimen leben in Tunesien rund 25.000 Christen (zum Großteil Katholiken), wobei die Gemeinden zum Großteil aus ausländischen Bürgern bestehen, und 1.500 Juden (CIA 2.12.2022; vgl. USDOS 12.4.2022, AA 29.4.2022). Des Weiteren gibt es noch Schiiten und Baha’i (CIA 2.12.2022; vgl. USDOS 2.6.2022). Bis zur Revolution im Jänner 2011 konnte der Islam über die Befolgung der grundlegenden muslimischen Riten hinaus kaum gesellschaftliche und politische Aktivitäten entfalten. Außerhalb der Gebetszeiten blieben die Moscheen geschlossen. Zudem wurden die Freitagspredigten sowie alle religiösen Gemeinschaften vom Staat überwacht. Mit der Revolution ist der Islam im gesellschaftlichen und politischen Leben des Landes allmählich immer sichtbarer geworden (AA 29.4.2022).
Der Islam ist offizielle Religion Tunesiens und der Staatspräsident muss laut Verfassung Muslim sein (USDOS 2.6.2022). Artikel 6 der tunesischen Verfassung garantiert die Religions- und Glaubensfreiheit (NMFA 1.12.2021; vgl. AA 29.4.2022). Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird in Tunesien mit gewissen Einschränkungen gewährt (AA 29.4.2022). Die Verfassung reflektiert das herrschende Gleichgewicht zwischen religiösem und säkularem Lager in Gesellschaft und Politik: Der Islam ist als Religion des Landes anerkannt, aber die islamische Scharia wurde nicht in der Verfassung verankert. Ein ziviler Staat ist die Grundlage der Verfassung, in der ausdrücklich auf die universellen Menschenrechte Bezug genommen wird (AA 29.4.2022; vgl. USDOS 2.6.2022).
Juden und Christen werden als gleichberechtigte Bürger akzeptiert (BS 2022). Im April 2021 kam es Berichten zufolge während des Pessachfestes zu Übergriffen und zu Belästigungen von Juden durch Sicherheitskräfte (USDOS 12.4.2022; vgl. USDOS 2.6.2022).
Es ist rechtlich möglich, vom Islam zum Christentum zu konvertieren. Missionierung und das Verteilen religiösen Materials sind der katholischen Kirche jedoch verboten (AA 29.4.2022). Es gibt erheblichen gesellschaftlichen Druck gegen die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion (USDOS 2.6.2022). Tunesische Konvertiten (einige Hundert im Land) werden innerhalb ihres sozialen und familiären Umfelds zwar zunächst häufig geächtet, mittelfristig aber gesellschaftlich wieder akzeptiert und integriert (AA 29.4.2022); Konvertiten werden häufig schikaniert und diskriminiert (FH 24.2.2022; vgl. NMFA 1.12.2021).
Mit der neuen Verfassung von 2022 kam es zu einigen Änderungen. Dabei wurde beispielsweise Tunesien nicht mehr, als ein Staat dessen Religion der Islam ist genannt, sondern als zugehörig zu einer Umma, deren Religion der Islam ist. Zur Erklärung, die Umma ist die Weltgemeinschaft der Muslime. Mit der Adaption der neuen Verfassung wurde Tunesien nach Syrien zum zweiten laizistischen Staat der islamischen Welt. Dieser Bezug auf die Religion und die Ziele des Islams in der Verfassung, gepaart mit der Streichung des Hinweises auf den zivilen Charakter des Staates stellen eine Gefahr für die Freiheiten dar, argumentieren viele NGOs (ÖB 10.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.4.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: März 2022), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23675904&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dsrch%2ESearchCache%26cacheId%3D1094784449 , Zugriff 7.6.2022
BS - Bertelsmann Stiftung (2022): Tunesien Country Report 2022, https://bti-project.org/de/reports/country-report/TUN , Zugriff 13.4.2022
CIA - Central Intelligence Agency [USA] (2.12.2022): The World Factbook - Tunisia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/tunisia/ , Zugriff 12.12.2022
FH - Freedom House (24.2.2022): Freedom in the World 2022 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2068830.html , Zugriff 13.4.2022
NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [NL] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Tunesië, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068198/kort-thematisch-ambtsbericht-tunesie-december-2021.pdf , Zugriff 21.4.2022
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 29.12.2022
USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2071185.html , Zugriff 20.4.2022
USDOS - US Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2074048.htm , Zugriff 14.6.2022
1.3.8. Bewegungsfreiheit
Das Gesetz gewährleistet Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes, Auslandsreisen (USDOS 12.4.2022; vgl. FH 24.2.2022), Emigration sowie Wiedereinbürgerung. Die Regierung respektiert im Allgemeinen diese Rechte auch in der Praxis (USDOS 12.4.2022). Mit Inkrafttreten der neuen Verfassung bleiben wichtige bürgerliche, politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte, die schon in der Verfassung 2014 enthalten waren, erhalten. Darunter fällt auch die Bewegungsfreiheit (AI 19.8.2022).
Am 24.7.2021 verlängerte Präsident Saïed den Ausnahmezustand, der seit seiner Verhängung im Jahr 2015 nach einer Reihe von Terroranschlägen fast ununterbrochen verlängert worden war (HRW 13.1.2022). Ferner genehmigte Präsident Saïed, nach dem 25.7.2021, Berichten zufolge die Anwendung von Reiseverboten für Personen mit anhängigen Gerichtsverfahren und die Regierung schloss im Laufe des Jahres aufgrund von COVID-19-Bedenken vorübergehend ihre Grenze zu Libyen (USDOS 12.4.2022).
Im Jahr 2017 verabschiedete der Gesetzgeber Maßnahmen, die die Behörden verpflichten, strengere Verfahren zu durchlaufen, um Reiseverbote zu erlassen oder Pässe einzuziehen. Allerdings haben die Behörden im Rahmen des Ausnahmezustands weitreichende Befugnisse, die Bewegungsfreiheit von Personen einzuschränken, ohne formale Anklagen zu erheben. Die Bewegungsfreiheit wird seit 2020 auch durch COVID-19-Maßnahmen behindert, wobei einige Einschränkungen vom Militär durchgesetzt werden. Unabhängig davon kritisieren Menschenrechtsgruppen die nach der Machtübernahme des Präsidenten im Juli 2021 verhängten Reiseverbote als willkürliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Die Behörden verfügen somit über eine weitreichende Erlaubnis, die Bewegungsfreiheit von Einzelpersonen einzuschränken, und Tausende von Menschen sind von solchen Verfügungen betroffen (FH 24.2.2022). Zivilgesellschaftliche Gruppen berichteten, dass das Innenministerium weiterhin Reisen einiger Personen unter Verwendung der informellen Reiseverbotsliste des Innenministeriums, bekannt als „S17“-Beobachtungsliste, einschränkt (USDOS 12.4.2022).
Am 25.7.2021 hat Staatspräsident Saïed, unter Berufung auf den Notstands-Artikel 80 der tunesischen Verfassung, die Regierungsgeschäfte übernommen (AA 29.4.2022); und es kam weiters zur Suspendierung des Parlaments und der parlamentarischen Immunität und einige Gesetzgeber und politische Persönlichkeiten waren repressiven Maßnahmen wie Reiseverboten, Inhaftierung und Hausarrest ausgesetzt (FH 24.2.2022). Zudem haben die tunesischen Behörden ohne Begründung und ohne richterliche Anordnung rechtswidrige und willkürliche Reiseverbote gegen Personen verhängt und damit deren Recht auf Bewegungsfreiheit eklatant verletzt (AI 26.8.2021). Ab August 2021 untersagte die Flughafenpolizei willkürlich mindestens 50 Tunesiern die Ausreise, ohne einen Gerichtsbeschluss, einen Zeitrahmen oder eine Erklärung zu liefern (AI 29.3.2022; vgl. AI 26.8.2021). Betroffen waren Richter, hohe Staatsbedienstete und Beamte, Geschäftsleute und ein Parlamentarier (AI 26.8.2021 vgl. USDOS 12.4.2022). Nach tunesischem Recht können nur Justizbehörden Reiseverbote anordnen (AI 29.3.2022; vgl. AI 26.8.2021, USDOS 12.4.2022). Zudem schreibt das tunesische Gesetz Nr. 75-40 vor, dass die Verbote begründet werden und die Betroffenen informiert werden müssen, ferner haben diese auch das Recht die Entscheidung anzufechten (AI 26.8.2021; vgl. USDOS 12.4.2022).
Präsident Saïed erklärte am 16.8.2021, die Verbote seien Teil der Bemühungen, Personen, die der Korruption verdächtigt werden oder ein Sicherheitsrisiko darstellen, an der Flucht aus dem Land zu hindern (AI 29.3.2022; vgl. AI 26.8.2021). Ende 2021 wurde diese Praxis eingestellt, nachdem der Präsident die Sicherheitskräfte aufgefordert hatte, diese Verbote nicht ohne richterliche Anordnung zu verhängen. Zwischen Juli und Oktober 2021 stellten die Behörden mindestens elf Personen unter Hausarrest, in einigen Fällen ohne eine klare Erklärung. Alle Anordnungen wurden bis Ende des Jahres aufgehoben (AI 29.3.2022).
Einer Flucht innerhalb Tunesiens werden durch die geringe Größe des Landes enge Grenzen gesetzt. Ein Verlassen besonders gefährdeter Gebiete in den Grenzregionen ist grundsätzlich möglich (AA 29.4.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.4.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: März 2022), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23675904&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dsrch%2ESearchCache%26cacheId%3D1094784449 , Zugriff 7.6.2022
AI - Amnesty International (19.8.2022): Tunisia: Adoption of new constitution must not institutionalize erosion of human rights, https://www.ecoi.net/en/file/local/2077744/MDE3059252022ENGLISH.pdf , Zugriff 7.12.2022
AI - Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; The State of the World's Human Rights; Tunisia 2021, https://www.ecoi.net/en/document/2070284.html , Zugriff 13.4.2022
AI - Amnesty International (26.8.2021): Tunisia: President must lift arbitrary travel bans, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/08/tunisia-president-must-lift-arbitrary-travel-bans/?utm_source=annual_report&utm_medium=epub&utm_campaign=2021&utm_term=english , Zugriff 29.4.2022
FH - Freedom House (24.2.2022): Freedom in the World 2022 - Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2068830.html , Zugriff 13.4.2022
HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2066567.html , Zugriff 13.4.2022
USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2071185.html , Zugriff 20.4.2022
1.3.9. Grundversorgung und Wirtschaft
Elf Jahre nach der Jasminrevolution konnten die hohen Erwartungen hinsichtlich eines besseren und gerechteren Lebens in wirtschaftlicher Hinsicht nicht realisiert werden. Großen Fortschritten im Bereich Meinungsfreiheit und Parteienvielfalt stehen eine schwere Wirtschaftsrezession und eine Verarmung weiter Bevölkerungsschichten gegenüber. Keiner der zahlreichen Regierungen seit 2011 ist es gelungen, substanzielle und für die Bevölkerung spürbare Verbesserungen ihrer Lebensumstände herbeizuführen; das Gegenteil war der Fall. Auslöser der Jasminrevolution von 2011 waren Armut, sozialer Ausschluss, Ungerechtigkeit und Mangel an Perspektiven. Elf Jahre später hat sich die Lage keineswegs verbessert, es haben sich die Lebensumstände für viele Tunesier zum Teil dramatisch verschlechtert und die Korruption alle Lebensbereiche erfasst (ÖB 10.2022). Tunesien erlebt derzeit einen Zustand des Aufruhrs und der Spannungen, da die meisten Preise für Grundnahrungsmittel von den Märkten ausgegangen sind, insbesondere Zucker und Speiseöl. Parallel dazu heizten die hohen Preise und die steigenden Steuern und Treibstoffkosten, parallel zur verspäteten Zahlung der Gehälter, die Situation an (MW 11.3.2022). Waren die Herausforderungen in wirtschaftlicher, sozialer, moralischer und kultureller Hinsicht bereits bisher enorm, sind sie nun seit Ausbruch der COVID-19-Krise Mitte März 2020 nochmals um ein Vielfaches angewachsen (ÖB 10.2022).
Für Tunesien sind die negativen Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine heute schon deutlich spürbar. Der Weltmarktpreis für Weichweizen steigt, und Tunesien muss dafür schon wesentlich mehr Devisen bereitstellen. Andererseits sind im Jahresverlauf hunderttausende Touristen aus Russland und der Ukraine ausgeblieben, die als spendierfreudige Kundschaft bekannt waren (WKO 21.9.2022). Die Inflation ist nach einem kurzzeitigen Rückgang wieder gestiegen (GTAI 12.1.2022). Die Inflationsschätzung der tunesischen Zentralbank für 2022 kam bei 6,8 % zu liegen; die aktuelle Tendenz lässt jedoch zweistellige Werte erwarten (WKO 21.9.2022).
Gemäß Weltbankstatistiken leben mehr als 2,5 Mio. Tunesier (bei einer Bevölkerung von 12 Mio.) unter der Armutsgrenze. Allein aufgrund der COVID-19-Krise kamen über 600.000 dazu. Somit ist deren Zahl von 15,5 % vor der Krise auf 21 % angestiegen. Es bestehen regional große Unterschiede. In einigen Regionen im Landesinneren beträgt der Armutsanteile über 50 %. Die Regierung lässt den Ärmsten unregelmäßig – von der Weltbank finanzierte – direkte Unterstützungen zukommen, ohne allerdings die zugrundeliegenden Ursachen zu bekämpfen. Ein flächendeckendes direktes Unterstützungsprogramm für bedürftige Familien ist in Ausarbeitung und soll – wie vom IWF gefordert – das bisherige produktorientierte Subventionssystem ablösen (ÖB 10.2022).
Während der letzten beiden Jahre befand sich die Arbeitslosigkeit zeitweise bei einem Rekordhoch von über 18 %. Mittlerweile befindet sich die Arbeitslosigkeit zumindest wieder auf Präpandemie-Niveau bei 15,3 %, in abgelegenen Regionen jedoch bei bis zu 30 % (ÖB 10.2022). Nach anderen Angaben liegt die Arbeitslosenquote bei 17,8 % (WKO 21.9.2022), nach wieder anderen Angaben bei 18,3 % (ÖB 10.2022). Zu dem hohen Anteil an jungen und diplomierten Arbeitslosen kommen die Schulabbrecher (jährlich ca. 100.000), die vom privaten Sektor und vor allem auch im Tourismus krisenbedingt Entlassenen sowie das Heer an Beschäftigten des informellen Sektors (der auf 50 % der Wirtschaftsleistung geschätzt wird), welchen ihre Existenzgrundlage entzogen wurde (ÖB 10.2022). Angesichts einer Rekord-Jugendarbeitslosigkeit von über 30 % und einer steigenden Inflation sind soziale Proteste vorprogrammiert und finden bereits statt. Der einflussreiche Gewerkschaftsdachverband UGTT hat seine harte Haltung gegenüber einem Reformprogramm bereits ausgedrückt (GTAI 12.1.2022). So variiert die Beschäftigungsquote je nach Region innerhalb Tunesiens. Tendenziell ist die Lage an der Küste und im Norden des Landes besser, was auf die Tourismusbranche sowie die dort angesiedelte Industrie zurückzuführen ist (ABG 11.2021).
Tunesien ist ein Niedriglohnland. Die durchschnittlichen Monatslöhne im produzierenden Gewerbe liegen zwischen 500 und 800 Dinar [160-250 Euro]. Arbeiter im öffentlichen Sektor verdienen rund 900 Dinar, Beamte 1.000-1.600 Dinar [310-500 Euro]. Der staatliche Mindestlohn (sogenannter SMIG), liegt bei 403 Dinar [ca. 120 Euro]. Etwa 25,4 % der Bevölkerung leben in Armut, d.h. sie leben von weniger als dem staatlichen Mindestlohn (sogenannter SMIG), der umgerechnet bei ca. 140 Euro liegt. Auch für die bisherige Mittelschicht wird die Diskrepanz zwischen Verdienst und Deckung der tatsächlichen Bedürfnisse immer größer und die Verschuldung der Privathaushalte hat stark zugenommen. Die Kaufkraft der tunesischen Bevölkerung ist seit der Revolution 2011 um 30 % zurückgegangen. Grund für die dramatische Verschlechterung der Einkommenssituation sind jahrelanges (so gut wie) Nullwachstum, im Jahr 2020 eine schwere Rezession bedingt durch COVID-19, hohe Inflation, der stets zunehmende Mangel an Arbeitsplätzen für die z.T. schlecht bzw. nicht den Bedürfnissen entsprechend ausgebildeten Arbeitskräfte, ein Niedergang des in Tunesien sehr bedeutenden staatlichen Industriesektors, Misswirtschaft sowie Korruption. Der Wegbruch des Tourismus traf Tunesien besonders hart, er trägt 11 % zum BNP bei (ÖB 10.2022).
Das Haushaltsdefizit könnte demnächst 9,3% des BIP erreichen und die Staatsverschuldung weiter nach oben treiben. Diese durchbrach mit 105,8 Mrd. Dinar bereits ein Allzeithoch (WKO 21.9.2022). Der politische Stillstand, das Ausbleiben von Touristen und die sich nur zögerlich erholende europäische Industrieproduktion verhinderten zuletzt ein höheres Wachstum. Vorausgesetzt, die pandemische Lage im Land bleibt beherrschbar, könnte das BIP-Wachstum im Jahr 2022 etwa 3,5 % erreichen (GTAI 12.1.2022).
Der Agrarsektor kam vergleichsweise gut durch das Corona-Jahr 2020. Und auch zu Beginn 2020 lief die Produktion von Phosphat gut. Die Pharmaindustrie gilt weiterhin als Hoffnungsträger und bietet Exportchancen. Nachdem es 2019 gute Aussichten für die Textilbranche gab, ist die Produktion im letzten Jahr um circa 20 % zurückgegangen. Mit mehr als 100.000 Beschäftigten ist Tunesien ein etablierter IT-Standort. Zudem etabliert sich das Land als Start-up-Hub für die Region. E-Commerce und Digitalisierung profitieren auch in Pandemiezeiten. Wegen niedriger Gehälter wandern jährlich allerdings etwa 2.500 Informatiker ins Ausland ab (ABG 11.2021).
Bei einer in drei tunesischen Städten (Great Tunis, Sousse und Sfax) durchgeführten Umfrage zu sozioökonomischen Faktoren wurden, mittels Computer Assisted Telephone Interviewing (CATI)-Methode und Quotenstichproben auf der Grundlage der neuesten verfügbaren offiziellen Bevölkerungsdaten im Zeitraum 5.-8.1.2022 in jeder der genannten Zielstädte, Einwohner, bzw. eine Stichprobe von 300 Personen zwischen 16 und 35 Jahren, von One to One for Research and Polling befragt. Dort geben 42 % der Befragten an, dass sie ihren Haushalt kaum oder gar nicht mit Lebensmitteln versorgen können, was eine schwierige Situation für den Großteil der Befragten darstellt. Problematischer ist es, wenn es um den Kauf von grundlegenden Konsumgütern wie Kleidung oder Schuhe geht, denn nur 16 % schaffen es, ihren Haushalt mit diesen Gütern zu versorgen, 28 % schaffen es gerade so, und 53 % können diese Art von Gütern entweder kaum oder gar nicht für ihren Haushalt besorgen. Dennoch geben 44 % der Befragten an, eher zufrieden zu sein mit ihrem Leben. Unter den Einwohner mit niedrigen Einkommen sind 37,3 % der Befragten eher zufrieden, 28,2 % sind gar nicht zufrieden und 16,7 % sind sehr zufrieden mit ihrem Leben. Die für dieses Ergebnis ausschlaggebende demografische Variable ist das Einkommensniveau (BFA 5.2.2022).
Die Grundversorgung der Bevölkerung ist zwar vor allem dank staatlicher Subventions- und Interventionspolitik bis auf saisonale Versorgungsengpässe einigermaßen gesichert, hingegen besteht ein eklatantes Einkommensgefälle zwischen wohlhabenderer Küstenregion sowie dem Großraum Tunis (mit allein ca. 50 % der Bevölkerung) und den benachteiligten ruralen Gebieten im Hinterland (ÖB 10.2022).
Am 25.9.2022 demonstrierten in Tunis hunderte Menschen gegen Armut, starke Preissteigerungen und die Verknappung von Lebensmitteln. Sie forderten Unterstützung von Staatspräsident Kais Saïed. Polizeikräfte setzten Tränengas gegen die Demonstranten ein (BAMF 26.9.2022; vgl. DW 20.9.2022). Nach Angaben des staatlichen Statistikinstituts sind die Lebensmittelpreise im August 2022 um fast zwölf Prozent gestiegen - so stark wie seit drei Jahrzehnten nicht mehr (DW 20.9.2022). Im Oktober 2022 waren wieder tausende Menschen auf der Straße und protestierten für den Rücktritt des Präsidenten und auch gegen die hohen Lebenshaltungskosten in einem Land, das sich in einer schweren Wirtschaftskrise befindet. Am 17.10.2022 erklärte der Internationale Währungsfonds (IWF), dass er mit der tunesischen Regierung eine Einigung erzielt hat, die die Freigabe eines Kredits in Höhe von 1,9 Milliarden US-Dollar ermöglicht (France24 15.10.2022).
Es existiert ein an ein sozialversichertes Beschäftigungsverhältnis geknüpftes Kranken- und Rentenversicherungssystem (AA 29.4.2022). Das tunesische Sozialsystem bietet zwar keine großzügigen Leistungen, stellt aber dennoch einen gewissen Grundschutz für Bedürftige, Alte und Kranke dar. Der Deckungsgrad beträgt 95 % (ÖB 10.2022). Nahezu alle Bürger finden Zugang zum Gesundheitssystem. Die Regelungen der Familienmitversicherung sind großzügig und umfassen sowohl Ehepartner als auch Kinder und sogar Eltern der Versicherten. Allerdings gibt es keine allgemeine Grundversorgung oder Sozialhilfe. Die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Lasten müssen überwiegend durch den traditionellen Verband der Großfamilie aufgefangen werden, deren Zusammenhalt allerdings schwindet (AA 29.4.2022). Folgende staatlichen Hilfen werden angeboten: Rente, Arbeitslosengeld, Kindergeld, Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Sterbegeld, Witwenrente, Waisenrente, Invalidenrente, Hilfen für arme Familien, Erstattung der Sach- und Personalkosten bei Krankenbehandlung, Kredite für Familien (ÖB 10.2022).
Eine Arbeitslosenunterstützung wird für maximal ein Jahr ausbezahlt – allerdings unter der Voraussetzung, dass man vorab sozialversichert war. Gemäß Nationalem Statistikinstitut INS zählt der informelle Sektor rund 1,5 Mio. Beschäftigte, die nicht mit einer Finanzhilfe rechnen können. Laut tunesischem Industrieverband UTICA wurden alleine während der ersten COVID-19-Welle 165.000 Arbeitsplätze vernichtet. Während der COVID-Lockdowns kam es zu zahlreichen Protesten, da sich viele ihrer Einkommensgrundlage beraubt sahen. Die früher relativ breite, weit definierte Mittelschicht Tunesiens aus selbständigen Kleinunternehmern, Angestellten und Beamten sieht ihre Kaufkraft zunehmend schwinden und droht, in die Prekarität abzugleiten. Die schmale Oberschicht aus traditionell einige Wirtschaftszweige beherrschenden Familien ist mehr an Machterhalt als an Beschäftigung zusätzlicher Arbeitskräfte interessiert. Die allmächtige traditionelle Gewerkschaft UGTT lehnt bisher jede Änderung des Status quo rigoros ab und behindert so eine Umstrukturierung des ineffizienten auf Nepotismus und Rentenmentalität beruhenden öffentlichen Sektors. Es gibt folgende Arbeitsvermittlungsinstitutionen: Nationale Arbeitsagentur (ANETI), Berufsbildungsagentur (ATFP), Zentrum für die Ausbildung der Ausbilder und die Entwicklung von Lehrplänen (CENAFFIF), Zentrum für die Weiterbildung und Förderung der beruflichen Bildung (CNFCPP) (ÖB 10.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.4.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: März 2022), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23675904&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dsrch%2ESearchCache%26cacheId%3D1094784449 , Zugriff 7.6.2022
ABG - Africa Business Guide (11.2021): Länderprofil Wirtschaft in Tunesien: Junge Demokratie mit Blick auf Europa, https://www.africa-business-guide.de/de/maerkte/tunesien#267576 , Zugriff 4.5.2022
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (26.9.2022): Tunesien, Proteste gegen ökonomische Lage, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683355/1094994/1094995/1095013/13446325/23477053/23954340//Deutschland._Bundesamt_f%C3%Bcr_Migration_und_Fl%C3%Bcchtlinge%2C_Briefing_Notes%2C_KW39%2C_26.09.2022_%28deutsch%29.pdf?nodeid=23953998&vernum=-2 , Zugriff 30.11.2022
BFA Staatendokumentation (Herausgeber) [Österreich], ONE TO ONE for Research and Polling (Autor) (5.4.2022): Dossier Tunisia; Socio-Economic Survey 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2071025/TUNISIA_Socio-Economic+Survey+2022.pdf , Zugriff 28.12.2022
DW - Deutsche Welle (20.9.2022): Tunesien in der Dauerkrise: Hohe Lebensmittelpreise, verschärfte Medienkontrolle, https://www.dw.com/de/tunesien-in-der-dauerkrise-hohe-lebensmittelpreise-versch%C3%A4rfte-medienkontrolle/a-63173438 , Zugriff 23.11.2022
France24 (15.10.2022): Des milliers de Tunisiens manifestent contre le président Kaïs Saïed et la crise économique, https://www.france24.com/fr/afrique/20221015-des-milliers-de-tunisiens-manifestent-contre-le-pr%C3%A9sident-ka%C3%Afs-sa%C3%Afed-et-la-crise-%C3%A9conomique , Zugriff 30.11.2022
GTAI - Germany Trade & Invest (12.1.2022): Tunesien: Tunesiens Wirtschaft zwischen Zweifel und Optimismus, https://www.gtai.de/de/trade/tunesien/wirtschaftsumfeld/tunesiens-wirtschaft-zwischen-zweifel-und-optimismus-241246 , Zugriff 4.5.2022
MW - MideastWire (11.3.2022): Experts to Arabi 21: Confusing social tension in Tunisia foreshadows explosion, https://mideastwire.com/page/articleFree.php?id=77461 , Zugriff 12.5.2022
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 29.12.2022
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (21.9.2022): Die tunesische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-tunesische-wirtschaft.html , Zugriff 14.11.2022
1.3.10. Rückkehr
Es gibt keine speziellen Hilfsangebote für Rückkehrer. Soweit bekannt, werden zurückgeführte tunesische Staatsangehörige nach Übernahme durch die tunesische Grenzpolizei einzeln befragt und es erfolgt ein Abgleich mit den örtlichen erkennungsdienstlichen Registern. Sofern keine innerstaatlichen strafrechtlich relevanten Erkenntnisse vorliegen, erfolgt anschließend eine reguläre Einreise. Hinweise darauf, dass, wie früher üblich, den Rückgeführten nach Einreise der Pass entzogen und erst nach langer Wartezeit wieder ausgehändigt wird, liegen nicht vor. An der zugrundeliegenden Gesetzeslage für die strafrechtliche Behandlung von Rückkehrern hat sich indes nichts geändert. Sollte ein zurückgeführter tunesischer Staatsangehöriger sein Land illegal verlassen haben, ist mit einer Anwendung der Strafbestimmung in § 35 des Gesetzes Nr. 40 vom 14.5.1975 zu rechnen: „Jeder Tunesier, der beabsichtigt, ohne offizielles Reisedokument das tunesische Territorium zu verlassen oder zu betreten, wird mit einer Gefängnisstrafe zwischen 15 Tagen und sechs Monaten sowie einer Geldstrafe zwischen 30 und 120 DT (ca. 15 bis 60 Euro) oder zu einer der beiden Strafarten verurteilt. Bei Wiederholung der Tat (Rückfälligkeit) kann sich das im vorhergehenden Absatz aufgeführte Strafmaß für den Täter verdoppeln.“ Soweit bekannt, wurden im vergangenen Jahr ausschließlich Geldstrafen verhängt. Die im Gesetz aufgeführten Strafen kommen dann nicht zur Anwendung, wenn Personen das tunesische Territorium aufgrund höherer Gewalt oder besonderer Umstände ohne Reisedokument betreten (AA 29.4.2022).
Eine „Bescheinigung des Genusses der Generalamnestie“ wird auf Antrag vom Justizministerium ausgestellt und gilt als Nachweis, dass die in dieser Bescheinigung ausdrücklich aufgeführten Verurteilungen - kraft Gesetz - erloschen sind. Eventuelle andere, nicht aufgeführte zivil- oder strafrechtliche Verurteilungen bleiben unberührt. Um zweifelsfrei festzustellen, ob gegen eine Person weitere Strafverfahren oder Verurteilungen vorliegen, kann ein Führungszeugnis (das sog. „Bulletin Numéro 3“) beantragt werden (AA 29.4.2022).
Seit der Revolution 2011 sind tausende Tunesier illegal emigriert. Vor allem junge Tunesier haben nach der Revolution das Land verlassen, kehren nun teilweise zurück und finden so gut wie keine staatliche Unterstützung zur Reintegration. Eine kontinuierliche Quelle der Spannung ist die Diskrepanz zwischen starkem Migrationsdruck und eingeschränkten legalen Migrationskanälen. Die Reintegration tunesischer Migranten wird durch eine Reihe von Projekten von IOM unterstützt. Finanzielle Hilfe dafür kommt hauptsächlich von der EU, sowie aus humanitären Programmen u. a. der Schweiz und Norwegens (Programm AVRR). Rückkehrprojekte umfassen z. B. Unterstützung beim Aufbau von Mikrobetrieben oder im Bereich der Landwirtschaft, haben jedoch gem. Beobachtungen bislang kaum Erfolg gezeigt (ÖB 10.2022).
Als zweite Institution ist das ICMPD seit 10. Juni 2015 offizieller Partner in Tunesien im Rahmen des sog. „Dialog Süd“ – Programms (EUROMED Migrationsprogramm). Neben Ländern wie Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko und Syrien wird Tunesien dabei als „Plattform“ (interaktiv zu verfolgen unter: www.eurotun-migr.net ) für folgende Arbeitsbereiche gesehen:
• IBM: Integrated Border Management (IBM): technische und operative Unterstützung der nationalen Institutionen im Bereich grüne und blaue Grenzsicherung
• MIEUX: Migration EU Expertise: eine gemeinsame EU-ICMPD Initiative zur Stärkung der Nationalen Migrationsstrategie, insbesondere des Nationalen Migrationsobservatoriums (ONM)
Im Dezember 2020 hat die UGTT, der tunesischen Gewerkschaft, ein Büro für ausländische Arbeiter zum Schutz gegen Ausbeute, Rassismus und Verletzung ihrer sozialen - wie wirtschaftlichen Rechte eröffnet (ÖB 10.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.4.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: März 2022), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23675904&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dsrch%2ESearchCache%26cacheId%3D1094784449 , Zugriff 7.6.2022
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 29.12.2022
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zum Sachverhalt
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in die Beschwerde und in den angefochtenen Bescheid, in den vorgelegten Verwaltungsakt unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie in das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Tunesien (Stand 12.01.2023). Daneben wurde ein Auszug aus dem Zentralen Melderegister, dem Zentralen Fremdenregister, der Grundversorgung, ein Strafregisterauszug sowie ein Sozialversicherungsdatenauszug zur Person des Beschwerdeführers von Amts wegen eingeholt.
2.2. Zur Person des Beschwerdeführers
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zum Familienstand und zur Volksgruppenzugehörigkeit basieren auf den übereinstimmenden Angaben des Beschwerdeführers im Asylverfahren (Erstbefragung am 08.02.2023, AS 3, AS 4 und AS 5; niederschriftliche Einvernahme am 07.03.2023, AS 33). Zumal der Beschwerdeführer darlegte, er glaube nur an einen Gott und bezeichne sich als konfessionslos, wobei er aus der (sunnitisch-) islamischen Glaubensgemeinschaft nicht ausgetreten sei, war festzustellen, dass er zwar der sunnitisch-muslimischen Glaubensrichtung angehört, diese aber nicht aktiv praktiziert (Protokoll vom 07.03.2023, AS 33 und AS 43). In Anbetracht dessen, dass der Beschwerdeführer den österreichischen Behörden bis dato keine identitätsbezeugenden Dokumente vorgelegt hat, steht seine Identität nicht zweifelsfrei fest.
Der Umstand, dass der Beschwerdeführer gesund ist, ergibt sich einerseits aus seinen eigenen Angaben, wonach er weder an schwerwiegenden Krankheiten leide, noch Medikamente benötige (Protokoll vom 07.03.2023, AS 33), anderseits haben sich auch weder aus dem Verwaltungs- noch Gerichtsakt Hinweise auf etwaige Erkrankungen des Beschwerdeführers ergeben und wurde ein entsprechendes Vorbringen in der Beschwerdeschrift ebenfalls nicht erstattet. In weiterer Folge ergeben sich damit keinerlei Anhaltspunkte auf medizinische Indikationen für die Zuordnung des Beschwerdeführers zur COVID-19-Risikogruppe entsprechend der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz über die Definition der allgemeinen COVID-19-Risikogruppe (COVID-19-Risikogruppe-Verordnung), BGBl. II Nr. 203/2020. Die Feststellung zu seiner Arbeitsfähigkeit ergibt sich aufgrund seines Gesundheitszustands sowie aufgrund des erwerbsfähigen Alters, wobei der Beschwerdeführer vor dem BFA seine Arbeitsfähigkeit zudem explizit bestätigt hat (Protokoll vom 07.03.2023, AS 35). Vor der belangten Behörde brachte er weiters auch seine Arbeitswilligkeit zum Ausdruck (Protokoll vom 07.03.2023, AS 41).
Dass er in Tunesien bis zu seiner Ausreise in Tunis gelebt hat, schilderte der Beschwerdeführer gleichlautend vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Protokoll vom 08.02.2023, AS 5) und der belangten Behörde (Protokoll vom 07.03.2023, AS 35), ebenso, dass seine Ausreise im Februar 2021 erfolgte (Protokoll vom 08.02.2023, AS 6); Protokoll vom 07.03.2023, AS 37). Er selbst führte aus, dass die Ausreise per Flugzeug in die Türkei legal erfolgt wäre (Protokoll vom 08.02.2023, AS 6). Seine erkennungsdienstliche Behandlung in Griechenland im Juni 2022 ist dabei sowohl im Erstbefragungsprotokoll vermerkt (Protokoll vom 08.02.2023, AS 8), als auch im Fremdenregisterauszug zu seiner Person verschriftlicht. Die Schilderungen im Zuge seiner Erstbefragung zu seiner Reiseroute bis nach Österreich (Protokoll vom 08.02.2023, AS 7), welche er vor dem BFA aufrecht hielt (Protokoll vom 07.03.2023, AS 35 und AS 37), stellen sich dabei aus geographischer Sicht als plausibel dar, nicht jedoch in zeitlicher Hinsicht: So schließt bereits das Datum seiner erkennungsdienstlichen Behandlung in Griechenland (Protokoll vom 08.02.2023, AS 8) aus, dass er - bei Wahrunterstellung - eines einwöchigen Türkeiaufenthalts (lediglich) zehn Monate in Griechenland aufhältig gewesen war (Protokoll vom 08.02.2023, AS 7), liegt dieser Zeitpunkt doch etwa ein Jahr und vier Monate nach dem von ihm vorgebrachten Ausreisezeitpunkt. Die Feststellung in Zusammenhang mit der melderechtlichen Erfassung des Beschwerdeführers fußt auf den entsprechenden Eintragungen im Auszug aus dem Zentralen Melderegister zu seiner Person.
Der Umstand, dass der Beschwerdeführer in Tunesien seinen Maturabschluss erwarb und für die Dauer von drei Jahren Computerwissenschaften studierte, basiert auf dessen eigenen Darlegungen vor der belangten Behörde, ebenso seine Schilderungen in Zusammenhang mit seinen Berufstätigkeiten (Protokoll vom 07.03.2023, AS 35). In Anbetracht seines Maturabschlusses, seiner Tätigkeiten als Musikproduzent, Vorarbeiter, Buchhalter und seiner Erfahrung auch in der Gastronomie ist unter Mitberücksichtigung seiner Gesundheit und seines Alters davon auszugehen, dass er in Tunesien seinen Lebensunterhalt wird sichern können. Weshalb der Beschwerdeführer in Tunesien keine Aussicht hätte, weiterhin einer entsprechenden Erwerbstätigkeit nachzugehen, wurde dabei in der Beschwerdeschrift nicht substantiiert dargetan (Beschwerde vom 30.03.2023, AS 122), weshalb den diesbezüglichen Ausführungen nicht zu folgen ist. Dass in Tunesien nach wie vor die Familie des Beschwerdeführers aufhältig ist, mit welcher er auch in Kontakt steht, ergibt sich aus den eigenen Schilderungen des Beschwerdeführers vor dem BFA (Protokoll vom 07.03.2023, AS 37). In Anbetracht dessen, dass er vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes zwei in Tunesien wohnhafte Schwestern anführte (Protokoll vom 08.02.2023, AS 5), vor dem BFA jedoch lediglich eine Schwester erwähnte (Protokoll vom 07.03.2023, AS 37), war festzustellen, dass jedenfalls eine Schwester des Beschwerdeführers in Tunesien aufhältig ist. Zumal der Beschwerdeführer erst seit Februar 2023 in Österreich befindlich ist, zudem laut eigenen Angaben keine Verwandten in Österreich oder einem sonstigen EU-Staat leben (Protokoll vom 08.02.2023, AS 5; Protokoll vom 07.03.2023, AS 41) und der Beschwerdeführer das Vorliegen besonders enger Beziehungen in Österreich verneinte (Protokoll vom 07.03.2023, AS 41), war festzustellen, dass er im Bundesgebiet kein Familienleben führt.
Zumal eine Abfrage im Betreuungsinformationssystem keinen Leistungsbezug desselben verschriftlicht und auch einer Sozialversicherungsdatenabfrage keine Berufstätigkeit des Beschwerdeführers zu entnehmen war, war festzustellen, dass der Beschwerdeführer keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung bezieht und er nicht selbsterhaltungsfähig ist. Dass hinsichtlich dem Beschwerdeführer keine maßgeblichen Integrationsmerkmale festgestellt werden konnten, ist dem Umstand geschuldet, dass dieser erst seit (mindestens) 07.02.2023 im Bundesgebiet aufhältig und eine Integration in der kurzen Zeit von weniger als zwei Monaten realistischerweise nicht möglich ist, zudem auch nicht vorgebracht bzw. gar urkundlich belegt wurde.
Einem amtswegig eingeholten Strafregisterauszug zu seiner Person war zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer strafgerichtlich unbescholten ist.
2.3. Zu den Fluchtmotiven und der individuellen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers
2.3.1. Zu den Fluchtmotiven
Von einem Antragsteller ist ein Verfolgungsschicksal glaubhaft darzulegen. Einem Asylwerber obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen und Verhältnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Asylanspruch lückenlos zu tragen und hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Die Behörde bzw. das Gericht muss somit die Überzeugung von der Wahrheit des von einem Asylwerber behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor asylrelevanter Verfolgung herleitet. Es kann zwar durchaus dem Asylwerber nicht die Pflicht auferlegt werden, dass dieser hinsichtlich asylbegründeter Vorgänge einen Sachvortrag zu Protokoll geben muss, der auf Grund unumstößlicher Gewissheit als der Wirklichkeit entsprechend gewertet werden muss, die Verantwortung eines Antragstellers hat jedoch darin bestehen, dass er bei tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit die Ereignisse schildert.
Generell ist zur Glaubwürdigkeit eines Vorbringens auszuführen, dass eine Aussage grundsätzlich dann als glaubhaft zu qualifizieren ist, wenn das Vorbringen hinreichend substantiiert ist; der Beschwerdeführer sohin in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über von ihm relevierte Umstände bzw. Erlebnisse zu machen. Weiters muss das Vorbringen plausibel sein, d.h. mit überprüfbaren Tatsachen oder der allgemeinen Lebenserfahrung entspringenden Erkenntnissen übereinstimmen. Hingegen scheinen erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt einer Aussage angezeigt, wenn der Beschwerdeführer den seiner Meinung nach, seinen Antrag stützenden Sachverhalt bloß vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt. Weiteres Erfordernis für den Wahrheitsgehalt einer Aussage ist, dass die Angaben in sich schlüssig sind; so darf sich der Beschwerdeführer nicht in wesentlichen Passagen seiner Aussage widersprechen.
Es ist anhand der Darstellung der persönlichen Bedrohungssituation eines Beschwerdeführers und den dabei allenfalls auftretenden Ungereimtheiten – z.B. gehäufte und eklatante Widersprüche (z.B. VwGH 25.01.2001, 2000/20/0544) oder fehlendes Allgemein- und Detailwissen (z.B. VwGH 22.02.2001, 2000/20/0461) – zu beurteilen, ob Schilderungen eines Asylwerbers mit der Tatsachenwelt im Einklang stehen oder nicht.
Der Beschwerdeführer brachte im Zuge seiner Erstbefragung vor, er habe Tunesien verlassen, weil er in Österreich arbeiten und seine Familie unterstützen wolle. In Tunesien befürchte er Armut. Weitere Gründe für eine Asylantragstellung habe er nicht, bei einer Rückkehr gebe es keine Hinweise auf unmenschliche Behandlung oder unmenschliche Strafe bzw. drohe ihm auch nicht die Todesstrafe. Mit etwaigen Sanktionen habe er ebenfalls nicht zu rechnen (Protokoll vom 08.02.2023, AS 8).
Im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA gab der Beschwerdeführer an, er habe Tunesien schon immer verlassen wollen und versucht, auf legalem Wege nach Europa zu kommen bzw. hätte er – erfolglos – ein Visum für Österreich beantragt. Er wolle sich seinen Traum eines Musikstudios erfüllen, was in Tunesien nicht möglich sei. Er wolle als einfacher Mensch leben, arbeiten und in Würde leben. In Tunesien sei die wirtschaftliche Lage schlecht, die Entwicklung könne mit anderen Ländern nicht mithalten. Es gebe keine Veränderungen und würde man bei den alten Traditionen bleiben (Protokoll vom 07.03.2023, AS 37, AS 43 und AS 45).
In der Beschwerdeschrift wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer habe in Tunesien keine Freiheiten, könne seine beruflichen Ziele nicht verfolgen bzw. wolle er frei entscheiden, wie er seine Sexualität auslebe und sich dabei nicht an die strengen, alten Traditionen halten (Beschwerde vom 30.03.2023, AS 121).
Zusammenfassend lässt sich daher festhalten, dass der Beschwerdeführer keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen konnte, sondern vielmehr – wie er durchwegs gleichlautend schilderte und dem auch in der Beschwerdeschrift nicht entgegengetreten wurde – sein Heimatland aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hat, was jedoch keinen von der Genfer Flüchtlingskonvention umfassten Fluchtgrund darstellt. Dazu stellte der Verwaltungsgerichtshof in seinem Stammrechtssatz (E 20.02.1985, 85/01/0052) bereits fest, dass allein wirtschaftliche Gründe eine Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu rechtfertigen vermögen. Eine Verfolgung aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung verneinte der Beschwerdeführer vor dem BFA explizit (Protokoll vom 07.03.2023, AS 39), ebenso ein fluchtauslösendes Erlebnis in Tunesien in Zusammenhang mit seiner Ausreise (Protokoll vom 07.03.2023, AS 37). Gegenteiliges wurde schließlich auch in der Beschwerdeschrift nicht vorgebracht, in welcher ausschließlich darauf abgestellt wurde, dass der Beschwerdeführer sich in seinen Freiheiten eingeschränkt fühle (Beschwerde vom 30.03.2023, AS 121). Das Beschwerdevorbringen, wonach die belangte Behörde nicht näher auf die persönliche Situation bzw. die von ihm angeführten existentiellen Bedenken eingegangen sei und keine weiteren Ermittlungen getroffen hätte (Beschwerde vom 30.03.2023, AS 122), vermag vor dem Hintergrund seiner stets eindeutigen und stringenten Angaben, seine Heimat aus wirtschaftlichen Erwägungen verlassen zu haben, ohne etwaige konkrete Rückkehrhindernisse zu nennen (Protokoll vom 08.02.2023, AS 8; Protokoll vom 07.03.2023, AS 37, AS 43 und AS 45) keine Bedenken hervorzurufen.
Nicht zuletzt bleibt festzuhalten, dass der Beschwerdeführer „schon immer“ Tunesien verlassen wollte und seine Einreise ins Bundesgebiet bereits von längerer Hand geplant hat, hat er sich doch bereits – entsprechend seinen eigenen Angaben vergeblich – um ein Visum für Österreich bemüht (Protokoll vom 08.02.2023, AS 6; Protokoll vom 07.03.2023, AS 37).
2.3.2. Zur individuellen Rückkehrsituation
Die Feststellungen zur Situation des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr nach Tunesien bzw. einer Abschiebung nach Tunesien beruhen auf den in Punkt II. 1.3. getroffenen Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat.
Hierbei verkennt das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der individuellen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers nicht, dass die Sicherheitslage in Tunesien nach wie vor gespannt und das Risiko von terroristischen Anschlägen weiterhin gegeben ist. Jedoch ist diesbezüglich eine Verringerung feststellbar, die Terrorismusbekämpfung sowie die Grenzsicherheit eine der wichtigsten Prioritäten der tunesischen Regierung und nach den Länderfeststellungen Tunesien kein klassisches Bürgerkriegsland. Ein bewaffneter innerstaatlicher oder zwischenstaatlicher Konflikt besteht demnach nicht, sodass eine Gefährdung des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr aufgrund solcher Konflikte ausgeschlossen werden kann. Die allgemein herrschende Situation in Tunesien – ein sicherer Herkunftsstaat gemäß § 1 Z 11 der Herkunftsstaaten-Verordnung – stellt generell keine Bedrohung im Sinne des Art. 2 MRK, 3 MRK oder des Protokolls Nr. 6 oder 13 der EMRK dar. Das Beschwerdevorbringen, wonach die Länderfeststellungen im angefochtenen Bescheid sehr allgemein gefasst seien und sich nicht näher mit der konkreten Situation des Beschwerdeführers auseinandersetzen würden bzw. unvollständig seien (Beschwerde vom 30.03.2023, AS 122 und AS 123), vermag – in Ermangelung substantiierter, konkret auf den Beschwerdeführer bezogener Ausführungen – nicht aufzuzeigen, weshalb diese in Hinblick auf den Beschwerdeführer unzureichend wären.
Es wird nicht verkannt, dass die allgemeine wirtschaftliche und soziale Lage für einen großen Teil der Bevölkerung in Tunesien problematisch ist. Ein staatlich organisiertes Hilfsnetz für Mittellose existiert nicht. Das Bundesverwaltungsgericht geht allerdings nicht generell davon aus, dass grundsätzlich eine Extremgefahr zu prognostizieren ist, zumal bis auf saisonale Versorgungsengpässe vor allem dank staatlicher Subventions- und Interventionspolitik eine Grundversorgung gewährleistet ist (vgl. Punkt II. 1.3.9.). Aufgrund der Aktenlage ist auch konkret in Bezug auf den Beschwerdeführer nicht davon auszugehen, dass dieser aus individuellen Gründen wirtschaftlicher, sozialer oder gesundheitlicher Natur in eine existenzbedrohende Situation geraten würde. Der junge, gesunde Beschwerdeführer verfügt über eine mehrjährige Schulbildung samt Maturaabschluss und Berufserfahrung als Musikproduzent, Vorarbeiter, Buchhalter sowie auch in der Gastronomie, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass er in Tunesien sich seinen Lebensunterhalt wird sichern können. Selbst für den Fall, dass er durch seine Familie (Eltern, zumindest eine Schwester) keinerlei Unterstützung erfahren würde, wird er in Anbetracht der obigen Ausführungen jedenfalls in der Lage sein, seine Existenz in Tunesien zu sichern, wo er fast sein gesamtes Leben verbracht hat, dort aufgewachsen ist und seine Enkulturation erfahren hat, weshalb von einem Vertrautsein mit den regionalen Sitten und Gebräuchen der tunesischen Kultur auszugehen ist. Gegenständlich ist damit jedenfalls davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer in Tunesien wird ansiedeln können und eine (in Tunesien vor dem Hintergrund der aktuellen Länderberichte auch sichergestellte) Grundversorgung mit Trinkwasser, sanitärer Infrastruktur, Strom und Grundnahrungsmitteln zur Verfügung stehen wird (vgl. dazu insbesondere die Ausführungen unter Punkt II. 1.3. bzw. 1.3.9. im Speziellen).
Aus einer Zusammenschau der zitierten Quellen ergibt sich sohin eine Sicherheitslage für den Beschwerdeführer, die es erlaubt, in Tunesien relativ unbehelligt zu leben, ohne zwingend damit rechnen zu müssen, Opfer von Verfolgung, willkürlicher Gewalt oder kriegerischen Auseinandersetzungen zu werden. Der Beschwerdeführer selbst vermochte mit seinem unsubstantiierten Vorbringen, wonach Tunesien mit der Entwicklung anderer Länder nicht mithalte, man bei alten Traditionen bleibe und es keine Veränderungen gebe (Protokoll vom 07.03.2023, AS 45) bzw. es in Tunesien keine Freiheiten gebe und er sich nicht frei entfalten könne (Beschwerde vom 30.03.2023, AS 121), keine Gründe nennen, welche gegen eine Rückkehr bzw. für die reale Gefahr der Folter, einer unmenschlichen Bestrafung, unmenschlichen Behandlung, der Todesstrafe bzw. einer wie immer gearteten existentiellen Bedrohung sprechen würden. Es ist letztlich im Rahmen einer Gesamtschau davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat seine dringendsten Bedürfnisse wird befriedigen können und er nicht in eine dauerhaft aussichtslose Lage gerät. Besonders exzeptionelle Umstände im Sinne der höchstgerichtlichen Judikatur liegen gegenständlich nicht vor.
Auch angesichts der aktuellen COVID-19-Pandemie ergeben sich keinerlei Rückführungshindernisse in Bezug auf den Beschwerdeführer. Dass der Beschwerdeführer derzeit an einer COVID-19-Infektion leiden oder im Hinblick auf eine etwaige Vorerkrankung zu einer vulnerablen Personengruppe gehören würde, wurde nicht vorgebracht. Es fehlt sohin auch vor dem Hintergrund der aktuellen COVID-19-Pandemie an den geforderten außergewöhnlichen Umständen im Sinne des Art. 3 EMRK (zur "Schwelle" des Art. 3 EMRK vgl. VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059).
2.4. Zum Herkunftsstaat
Zu den zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat ausgewählten Quellen wird angeführt, dass es sich hierbei um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen sowohl staatlichen als auch nicht-staatlichen Ursprungs handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten, von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates, über den berichtet wird, zur Kenntnis gelangen, diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um kritische Sachverhalte geht, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteinahme unterstellt werden kann. Zudem werden auch Quellen verschiedener Menschenrechtsorganisationen herangezogen, welche oftmals das gegenteilige Verhalten aufweisen und so gemeinsam mit den staatlich-diplomatischen Quellen ein abgerundetes Bild ergeben. Bei Berücksichtigung dieser Überlegungen hinsichtlich des Inhaltes der Quellen, ihrer Natur und der Intention der Verfasser, handelt es sich nach Ansicht des erkennenden Gerichts bei den Feststellungen um ausreichend ausgewogenes und aktuelles Material (vgl. VwGH 07.06.2000, 99/01/0210).
Der Beschwerdeführer trat den Quellen und deren Kernaussagen im Beschwerdeverfahren auch nicht substantiiert entgegen, sodass die der Entscheidung zugrunde gelegten Länderberichte nicht in Zweifel zu ziehen waren. Die obgenannten Länderfeststellungen konnten daher der gegenständlichen Entscheidung bedenkenlos zugrunde gelegt werden.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde
3.1. Zur Nichtgewährung von Asyl (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):
3.1.1. Rechtslage
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg. cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Absch. A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Im Sinne des Art. 1 Absch. A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt der in Art. 1 Absch. A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 06.10.1999, 99/01/0279).
Selbst in einem Staat herrschende allgemein schlechte Verhältnisse oder bürgerkriegsähnliche Zustände begründen für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Um eine Verfolgung im Sinne des AsylG 2005 erfolgreich geltend zu machen, bedarf es einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Herkunftsstaates treffenden Unbilligkeiten hinausgeht (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
3.1.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Wie in der Beweiswürdigung unter Punkt II. 2.3.1. bereits dargestellt, vermochte der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren keine wohlbegründete Furcht vor einer asylrelevanten Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft zu machen, sondern haben ihn ausschließlich wirtschaftliche Motive zum Verlassen seines Herkunftsstaates bewogen.
Die Voraussetzungen für die Erteilung von Asyl sind daher nicht gegeben. Aus diesem Grund war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen.
3.2. Zur Nichtgewährung von subsidiärem Schutz (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):
3.2.1. Rechtslage
Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK (ZPERMRK) bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden. Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 leg. cit. offen steht.
Im Rahmen der Prüfung des Einzelfalls ist die Frage zu beantworten, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein – über eine bloße Möglichkeit hinausgehendes – "real risk" einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht (vgl. VwGH 28.06.2011, 2008/01/0102). Die dabei aufgrund konkreter vom Fremden aufgezeigter oder von Amts wegen bekannter Anhaltspunkte anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 15.12.2010, 2006/19/1354; VwGH 31.05.2005, 2005/20/0095; VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582).
Die Abschiebung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also bezogen auf den Einzelfall die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend (VwGH 06.11.2009, 2008/19/0174; VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0174 ua). Das Vorliegen solch exzeptioneller Umstände erfordert detaillierte und konkrete Darlegungen (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; VwGH 07.09.2016, Ra 2015/19/0303 ua).
3.2.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 hinsichtlich des Beschwerdeführers nicht gegeben sind.
Ihm droht in Tunesien – wie bereits unter Punkt II. 2.3.1. dargelegt wurde – keine asylrelevante Verfolgung.
Hierbei verkennt das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der individuellen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers nicht, dass die Sicherheitslage in Tunesien nach wie vor gespannt und das Risiko von terroristischen Anschlägen weiterhin gegeben ist. Jedoch ist diesbezüglich eine Verringerung feststellbar und die Terrorismusbekämpfung sowie die Grenzsicherheit eine der wichtigsten Prioritäten der tunesischen Regierung und nach den Länderfeststellungen Tunesien kein klassisches Bürgerkriegsland. Ein bewaffneter innerstaatlicher oder zwischenstaatlicher Konflikt besteht demnach nicht, sodass eine Gefährdung des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr aufgrund solcher Konflikte ausgeschlossen werden kann. Die allgemein herrschende Situation in Tunesien – ein sicherer Herkunftsstaat gemäß § 1 Z 11 der Herkunftsstaaten-Verordnung – stellt generell keine Bedrohung im Sinne des Art. 2 MRK, 3 MRK oder des Protokolls Nr. 6 oder 13 der EMRK dar.
Dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Tunesien die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Artikel 3 EMRK überschritten wäre (zur "Schwelle" des Artikel 3 EMRK vergleiche VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059), gibt es im vorliegenden Beschwerdefall ebenfalls keinen Anhaltspunkt. Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen arbeitsfähigen, jungen, gesunden Mann mit gehobener Schulbildung sowie mehrerlei Berufserfahrung, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Entsprechende Berufsmöglichkeiten in Tunesien – übergangsweise gegebenenfalls auch einfache Tätigkeiten – sind gegeben. Gegenständlich ist damit jedenfalls davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer in Tunesien wird ansiedeln können und eine (in Tunesien vor dem Hintergrund der aktuellen Länderberichte auch sichergestellte) Grundversorgung mit Trinkwasser, sanitärer Infrastruktur, Strom und Grundnahrungsmitteln zur Verfügung stehen wird (vgl. dazu insbesondere die Ausführungen unter Punkt II. 1.3. bzw. 1.3.9. im Speziellen). Weiters pflegt der Beschwerdeführer nach wie vor den Kontakt zu seiner in Tunesien aufhältigen Familie, welche ihm im Falle seiner Rückkehr anfänglich (beispielsweise bei der Wohnungssuche) behilflich sein könnte.
Daher war die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen.
3.3. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels „besonderer Schutz“ (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides):
3.3.1. Rechtslage
Gemäß § 58 Abs. 1 AsylG 2005 hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 (Aufenthaltstitel besonderer Schutz) von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird (Z 2) oder wenn ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt (Z 5). Das Bundesamt hat über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen (§ 58 Abs. 3 AsylG 2005). Auch wenn der Gesetzgeber das Bundesamt im Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung zur Prüfung und spruchmäßigen Erledigung der Voraussetzungen der §§ 55 und 57 AsylG 2005 von Amts wegen, dh auch ohne dahingehenden Antrag des Beschwerdeführers, verpflichtet, ist die Frage der Erteilung eines solchen Titels auch ohne vorhergehenden Antrag im Beschwerdeverfahren gegen den negativen Bescheid durchsetzbar und daher Gegenstand der Sachentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/20/0121).
3.3.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Indizien dafür, dass der Beschwerdeführer einen Sachverhalt verwirklicht, bei dem ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Aufenthaltstitel besonderer Schutz) zu erteilen wäre, sind weder vorgebracht worden, noch hervorgekommen: Weder war der Aufenthalt des Beschwerdeführers seit mindestens einem Jahr im Sinne des § 46 Abs. 1 Z 1 oder Z 1a FPG geduldet, noch ist dieser zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig, noch ist der Beschwerdeführer Opfer von Gewalt im Sinne des § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie hinsichtlich des Spruchpunktes III. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 57 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen war.
3.4. Zur Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides):
3.4.1 Rechtslage
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.
Gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt.
Gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, wenn dadurch in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere die in § 9 Abs. 2 Z 1 bis 9 BFA-VG aufgezählten Gesichtspunkte zu berücksichtigen (die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist).
3.4.2 Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Wie oben ausgeführt, war ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Aufenthaltstitel besonderer Schutz) nicht zu erteilen. Zu prüfen ist daher, ob eine Rückkehrentscheidung mit Art. 8 EMRK vereinbar ist, weil sie nur dann zulässig wäre und nur im verneinenden Fall ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 überhaupt in Betracht käme. Die Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK ist aus folgenden Gründen gegeben:
Das vorliegende Asylverfahren dauerte, gerechnet von der Antragstellung am 07.02.2023 bis zum Datum der Entscheidung durch die belangte Behörde vom 14.03.2023 knapp einen Monat bzw. bis zur gegenständlichen Entscheidung durch das Bundesverwaltungsgericht gesamt weniger als zwei Monate.
Während dieses kurzen Zeitraums ist es realistischerweise nicht möglich, ein maßgebliches Privat- oder Familienleben (welches der Beschwerdeführer ohnedies nicht behauptet hat) zu entwickeln bzw. wesentliche Integrationsschritte zu setzen. In diesem Zusammenhang gilt auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu verweisen, wonach es sich selbst bei einer Aufenthaltsdauer im Bereich von drei Jahren um eine "außergewöhnliche Konstellation" handeln muss, um die Voraussetzungen für die Erteilung eines "Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 MRK" zur Aufrechterhaltung eines Privat- und Familienlebens gemäß § 55 AsylG 2005 zu erfüllen (vgl. VwGH 23.01.2020, Ra 2019/21/0306 mit Hinweis auf VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101; VwGH 10.4.2019, Ra 2019/18/0049 und VwGH 10.4.2019, Ra 2019/18/0058).
Gleichzeitig hat der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat, in dem er den Großteil seines bisherigen Lebens verbracht hat, sprachliche und kulturelle Verbindungen; er ist in Tunesien aufgewachsen, hat dort seine Sozialisierung erfahren, die Schule besucht sowie seinen Maturaabschluss und auch Berufserfahrungen erworben, zudem bis zu seiner Ausreise in Tunesien gelebt. Er spricht seine Muttersprache und ist mit den regionalen Gebräuchen und Eigenheiten der tunesischen Kultur vertraut. Zudem sind in Tunesien Familienangehörige des Beschwerdeführers in den Personen seiner Eltern und jedenfalls einer Schwester aufhältig, zu denen er auch den Kontakt pflegt. Es wird dem Beschwerdeführer daher ohne unüberwindliche Probleme möglich sein, sich wieder in die tunesische Gesellschaft zu integrieren, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Allfällige mit der Rückkehrentscheidung verbundene Schwierigkeiten bei der Gestaltung seiner Lebensverhältnisse sind im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen und an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit hinzunehmen (vgl. VwGH 29.06.2017, Ra 2016/21/0338).
Den privaten Interessen steht das öffentliche Interesse am Vollzug des geltenden Migrationsrechts gegenüber, wonach Personen, welche ohne Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufhältig sind – gegebenenfalls nach Abschluss eines allfälligen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz – auch zur tatsächlichen Ausreise verhalten werden. Das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Durchsetzung der geltenden Bedingungen des Einwanderungsrechts und an der Befolgung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, denen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung – und damit eines von Art. 8 Abs. 2 EMRK erfassten Interesses – ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. zB VwGH 30.04.2009, 2009/21/0086) überwiegt gegenständlich gravierend gegenüber etwaigen Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in Österreich.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers vermag seine persönlichen Interessen nicht entscheidend zu stärken (VwGH 25.02.2010, 2010/18/0029).
Es sind – unter der Schwelle des Art. 2 und 3 EMRK – aber auch die Verhältnisse im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens zu betrachten, so sind etwa Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder auch Behandlungsmöglichkeiten bei medizinischen Problemen bzw. eine etwaigen wegen der dort herrschenden Verhältnisse bewirkte maßgebliche Verschlechterung psychischer Probleme auch in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessensabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen (vgl. dazu VwGH, 16.12.2015, Ra 2015/21/0119). Eine diesbezüglich besonders zu berücksichtigende Situation liegt gegenständlich nicht vor; beim Beschwerdeführer sind keine besonderen Vulnerabilitäten gegeben (vgl. Punkt II. 2.2.).
Durch die Rückkehrentscheidung wird Art. 8 EMRK damit im Ergebnis nicht verletzt und ist im Sinne von § 9 Abs. 2 BFA-VG nicht als unzulässig anzusehen, weshalb auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 nicht in Betracht kommt.
Die sonstigen Voraussetzungen einer Rückkehrentscheidung nach § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 und § 52 Abs. 2 Z 2 FPG sind erfüllt. Sie ist auch sonst nicht (zB vorübergehend nach Art. 8 EMRK, vgl. § 9 Abs. 3 BFA-VG und VwGH 28.04.2015, Ra 2014/18/0146) unzulässig. Der Beschwerdeführer verfügt auch über kein sonstiges Aufenthaltsrecht.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie hinsichtlich des Spruchpunktes IV. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG und § 52 Abs. 2 Z 2 FPG abzuweisen war.
3.5. Zur Zulässigkeit der Abschiebung nach Tunesien (Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides):
3.5.1 Rechtslage
Gemäß § 52 Abs. 9 FPG ist mit der Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellungen des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist. Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 EMRK oder deren 6. bzw. 13. ZPEMRK verletzt würden oder für den Betroffenen als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre. Gemäß § 50 Abs. 2 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative. Nach § 50 Abs. 3 FPG ist die Abschiebung unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
3.5.2 Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Im vorliegenden Fall liegen keine Gründe vor, wonach die Abschiebung in den Herkunftsstaat gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig wäre.
Ein inhaltliches Auseinanderfallen der Entscheidungen nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (zur Frage der Gewährung von subsidiärem Schutz) und nach § 52 Abs. 9 FPG (zur Frage der Zulässigkeit der Abschiebung) ist ausgeschlossen. Damit ist es unmöglich, die Frage der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat im Rahmen der von Amts wegen zu treffenden Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG neu aufzurollen und entgegen der getroffenen Entscheidung über die Versagung von Asyl und subsidiärem Schutz anders zu beurteilen (vgl. dazu etwa VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119; VwGH 19.02.2015, Ra 2015/21/0005 und VwGH 30.06.2015, Ra 2015/21/0059 – 0062).
Die Abschiebung ist auch nicht unzulässig im Sinne des § 50 Abs. 2 FPG, da dem Beschwerdeführer keine Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Weiters steht keine Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte der Abschiebung entgegen.
Die in den angefochtenen Bescheiden getroffenen Feststellungen der Zulässigkeit der Abschiebung nach Tunesien erfolgte daher zu Recht.
Die Beschwerde erweist sich somit insoweit als unbegründet, dass sie hinsichtlich des Spruchpunktes V. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 52 Abs. 9 FPG abzuweisen war.
3.6. Zur Aberkennung der aufschiebenden Wirkung und zur Nichtgewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkte VI. und VII. des angefochtenen Bescheides):
3.6.1. Rechtslage
Gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG kann das Bundesamt einer Beschwerde gegen eine abweisende Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung aberkennen, wenn der Asylwerber aus einem sicheren Herkunftsstaat (§ 19 leg.cit .) stammt.
Nach § 18 Abs. 5 BFA-VG hat das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde, der die aufschiebende Wirkung vom Bundesamt aberkannt wurde, binnen einer Woche ab Vorlage der Beschwerde von Amts wegen die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wenn anzunehmen ist, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. In der Beschwerde gegen den in der Hauptsache ergangenen Bescheid sind die Gründe, auf die sich die Behauptung des Vorliegens einer realen Gefahr oder einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit gemäß Satz 1 stützt, genau zu bezeichnen. § 38 VwGG gilt.
Gemäß § 55 Abs. 1a FPG besteht eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG sowie, wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird.
3.6.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Zumal es sich bei Tunesien um einen sicheren Herkunftsstaat nach § 1 Z 11 der Herkunftsstaaten-Verordnung handelt, hat die belangte Behörde die Bestimmung des § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG zu Recht zur Anwendung gebracht.
Wie bereits umseits erörtert, besteht bei der Rückkehr des Beschwerdeführers nach Tunesien keine Gefahr, dass diesem die Todesstrafe, die Folter, eine unmenschliche Behandlung oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes drohen. Ein von Art. 8 EMRK geschützter Eingriff in sein Privat- und Familienleben ist ebenfalls mangels Bestehens eines schützenswerten Privat- und Familienlebens in Österreich nicht zu befürchten. Die nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes durchzuführende Interessensabwägung zwischen den Interessen des Beschwerdeführers und jenen Österreichs ergibt – wie bereits ausgeführt – einen Überhang der Interessen Österreichs an der unverzüglichen Vollstreckung des bekämpften Bescheides. Damit waren keine Gründe für die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG gegeben.
Die Beschwerde war daher auch hinsichtlich der Spruchpunkte VI. und VII. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen.
4. Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.
Den Umfang der Verhandlungspflicht aufgrund dieser Bestimmung umschrieb der Verwaltungsgerichtshof in seinem grundlegenden Erkenntnis vom 28.05.2014, Ra 2014/20/0017, worin die Kriterien für die Annahme eines geklärten Sachverhaltes folgendermaßen zusammengefasst wurden (vgl. zum grundrechtlichen Gesichtspunkt auch VfGH 14.03.2012, U 466/11, U 1836/11, betreffend die inhaltsgleiche Bestimmung des § 41 Abs. 7 AsylG 2005): „Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen." Die Regelung des § 21 Abs. 7 BFA-VG steht auch mit Art. 47 Abs. 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) im Einklang (VwGH 04.12.2017, Ra 2017/19/0316).
Die vorgenannten Kriterien treffen in diesem Fall zu. Der Sachverhalt ist durch die belangte Behörde vollständig erhoben und weist – aufgrund des Umstandes, dass zwischen der Entscheidung durch die belangte Behörde und jener durch das Bundesverwaltungsgericht weniger als ein Monat liegt – die gebotene Aktualität auf. Der Beweiswürdigung durch die belangte Behörde hat sich das Bundesverwaltungsgericht angeschlossen. Die wesentlichen Feststellungen, insbesondere zu den persönlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers, sind unbestritten geblieben. Eine Notwendigkeit, den Sachverhalt im Zuge einer mündlichen Beschwerdeverhandlung zu erörtern, wird daher vom erkennenden Richter gegenständlich nicht als zielführend erachtet, zumal keine strittigen Sachverhalts- oder Rechtsfragen vorliegen und auch keine Beweise aufzunehmen sind, auch unter Berücksichtigung dessen, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers in Zusammenhang mit seiner wirtschaftlich motivierten Ausreise als glaubhaft erachtet wird.
Zudem liegt ein Verfahren nach § 18 BFA-VG vor, welches das Bundesverwaltungsgericht verpflichtet, innert sieben Tagen zu entscheiden, es sei denn es lägen Gründe vor, die aufschiebende Wirkung nach § 18 Abs. 5 BFA-VG zuzuerkennen. Derartige Gründe waren im gegenständlichen Fall – wie umseits dargelegt – jedoch nicht gegeben.
Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte demnach § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 VwGVG unterbleiben.Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder fehlt es an einer Rechtsprechung zur Asylrelevanz eines Fluchtvorbringens, noch weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen.
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