European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0010OB00135.18M.0926.000
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 717,15 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Der im Unfallszeitpunkt 19‑jährige Kläger leistete seit Jänner 2016 den Präsenzdienst in einer Kaserne. Er war als Kraftfahrer bei der Abteilung „Faltstraße“ eingeteilt. Das „Faltstraßengerät“ ist ein Spezialfahrzeug des Bundesheers, ein Vierachser, der uneingeschränkt zum Verkehr zugelassen ist, für den eine Lotsenpflicht besteht und der eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h erreicht. An die Fahrerkabine vor der ersten Achse schließt eine Vorrichtung mit einer höhenverstellbaren Seilwinde zum Aufrollen des Gurts an, der an der Faltstraße angebracht ist. Die Vorrichtung befindet sich über den ersten beiden Achsen; dahinter befindet sich eine mehrere Meter lange Plattform, die hinter der vierten Achse in einen Abrollbügel übergeht. Die Beklagte ist Halterin des „Faltstraßengeräts“.
Der Kläger wurde sechs Tage am „Faltstraßengerät“ ausgebildet. Dabei wurde die Faltstraße immer wieder ausgelegt und eingezogen und ihm als Rekruten gesagt, worauf er aufpassen müsse. Das Thema „Aufrollen des Gurts“ war Inhalt der Ausbildung, und ihm wurde insbesondere gesagt, dass sich die Schelle beim Aufrollen des Gurts auf der Plattform des „Faltstraßengeräts“ verfangen kann, daher aufzupassen ist, dass sich die Schelle nirgends einhängt, er die Verbindungsschelle in die Hand nehmen müsse, nachdem sie über den Abrollbügel gekommen ist, und mit dem Gurt auf dem „Faltstraßengerät“ mitgehen müsse. Ihm wurde nicht gesagt, was passieren kann, wenn sich die Schelle am „Faltstraßengerät“ verfängt.
Am 17. 5. 2016 bereitete der Kläger auf dem Wasserübungsplatz der Kaserne mit zwei weiteren Rekruten und dem ihnen vorgesetzten Gruppenkommandanten den „Tag der offenen Tür“ vor. Sie legten mit dem „Faltstraßengerät“ einen Hubschrauberlandeplatz aus. Nachdem die Faltstraße ausgelegt war, musste der an ihr angebrachte Gurt mittels der auf dem „Faltstraßengerät“ befindlichen Seilwinde wieder aufgewickelt werden. Dieser Gurt bestand aus drei 26 m langen Teilstücken, die mit H‑förmigen Verbindungsschellen aus Eisen untereinander und mit der Seilwinde verbunden waren. Der Kläger befand sich auf der Plattform des „Faltstraßengeräts“, weil er mit dem Aufwickeln des Gurts beauftragt war. Der Motor des im Stillstand befindlichen „Faltstraßengeräts“ lief, weil der Gurt nur damit aufgewickelt werden kann. Der Gruppenkommandant stand neben dem „Faltstraßengerät“ und bediente die Gurtwinde mit einer Funkfernsteuerung. Er stand auf der Beifahrerseite, etwa auf Höhe der Fahrerkabine, und zwar etwa 4 m vom Fahrzeug entfernt. Aus dieser Position hatte er Blickkontakt sowohl zum Kraftfahrer, der im Fahrzeug saß, als auch zur Seilwinde und zum auf dem „Faltstraßengerät“ befindlichen Kläger.
Mittels Funkfernbedienung kann eine Entspannung des Gurts dadurch herbeigeführt werden, dass der Bedienungshebel in die andere Richtung bewegt wird. Der Wechsel von Aufrollen zu Abrollen passiert jedoch erst nach einer kurzen, nicht näher feststellbaren Zeitspanne, die das Gerät zur Umstellung braucht.
Der Kläger übernahm den Gurt hinter dem Abrollbügel richtig an der Schelle. Während des langsamen Aufspulens ging er mit dem Gurt in der Hand auf dem „Faltstraßengerät“ nach vorne. In der Folge ließ er die Schelle aus und trat in den Bereich zwischen Seilwinde und Schelle. Es kann nicht festgestellt werden, wann und aus welchem Grund er das tat und wie lange er sich bis zu seinem folgenden „Halt“‑Ruf zwischen Seilwinde und Schelle befand. Es kann auch nicht festgestellt werden, ob und allenfalls wann der Gruppenkommandant bemerken hätte können, dass der Kläger die Schelle ausgelassen hatte und in den Bereich zwischen Seilwinde und Schelle getreten war, und ob er von diesem Moment an den Unfall hätte verhindern können oder nicht. Beim Aufwickeln verhakte sich die am Gurtende angebrachte Verbindungsschelle mit einem Blechteil des „Faltstraßengeräts“, wodurch der Gurt in Spannung geriet. Der Kläger rief noch „Halt!“. Dann löste sich die Verbindung vom Fahrzeug und traf ihn im Gesicht. Er wurde dadurch schwer verletzt. Der Gruppenkommandant hätte den Unfall nach dem „Halt“‑Ruf des Klägers nicht mehr verhindern können. Beim Aufwickeln des Gurts auf das „Faltstraßengerät“ war es bis dahin noch nie zu einem Unfall gekommen.
Der Kläger begehrt aus dem Titel der Amtshaftung und der Gefährdungshaftung nach dem EKHG 10.000 EUR an Schmerzengeld und Verunstaltungs-entschädigung sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für sämtliche Schäden aus diesem Vorfall. Er sei vor dem Unfall nicht über ein mögliches Einhaken der Schelle belehrt worden. Es seien keine ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden, um zu verhindern, dass der Gurt durch die Spannung eine Gefahr bewirkt. Da er mit der Materie unerfahren und sich der Gefährlichkeit seiner Tätigkeit nicht bewusst gewesen sei, hätte er mit dieser Aufgabe nicht betraut werden und nicht im Unfallbereich stehen dürfen. Er hätte vorher darüber belehrt werden müssen, dass er beobachten solle, ob sich die Schelle irgendwo verhake. Sein Vorgesetzter hätte sehen müssen, dass er sich im Gefahrenbereich befinde, und hätte die Winde gar nicht bedienen dürfen, sondern ihn auffordern müssen, seinen Platz zu verlassen. Der Vorgesetzte habe auf sein Kommando zu spät reagiert. Der Unfall habe sich beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs mit Zulassung zum Straßenverkehr ereignet, weshalb eine Haftung auch nach den Bestimmungen des EKHG bestehe.
Die Beklagte wandte im Wesentlichen ein, der Kläger sei am „Faltstraßengerät“ ausgebildet gewesen und habe sämtliche Tätigkeiten an diesem Gerät – unter anderem auch das Aufwickeln des Gurts auf die Seilwinde – vorher bereits mehrfach durchgeführt gehabt. Vor dem Unfallstag sei er mehrfach in der richtigen Handhabung beim Aufrollen des Gurts unterwiesen worden. Am Unfallstag habe ihn der Vorgesetzte nochmals darauf hingewiesen, dass er beim Aufwickeln des Gurts die Verbindungsschelle in den Händen zu halten und darauf zu achten habe, dass sich die Schelle nicht mit dem „Faltstraßengerät“ verhakt. Er habe diese Vorgaben aber nicht eingehalten. Der Vorgesetzte habe auf den Ruf „Halt ‑ Stopp“ umgehend reagiert, den Unfall aber nicht verhindern können. Die Organe der Beklagten treffe daher am Unfall kein Verschulden. Der Unfall habe sich nicht beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs im Sinn des EKHG ereignet. Es liege keine außergewöhnliche Betriebsgefahr vor. Die Klagsansprüche seien überhöht, es bestehe kein Feststellungsinteresse.
Das Erstgericht wies die Klagebegehren ab. Die Ausbildung von Soldaten geschehe in Vollziehung der Gesetze. Soweit ein Verhalten von Vorgesetzten im Rahmen der Ausbildung von Grundwehrdienern rechtswidrig und schuldhaft sei, führe es zu Amtshaftungsansprüchen. Maßstab für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit sei insbesondere die Allgemeine Dienstvorschrift für das Bundesheer, BGBl 1979/43 (kurz: ADV). Im konkreten Fall gebe es aber keine Anhaltspunkte dafür, dass die Vorgesetzten des Klägers gegen § 4 ADV oder andere Verhaltensnormen verstoßen hätten: Sie hätten ihn richtig ausgebildet und sodann die Einhaltung der Ausbildungsgrundsätze auch überwacht. Zentraler Ausbildungsinhalt sei gewesen, dass die Verbindungsschelle beim Aufrollen des Gurts in der Hand gehalten werden müsse, damit sie sich nirgends verhänge, und dass beim Aufrollen hinter dem Gurt am „Faltstraßengerät“ mitzugehen sei. Hätte sich der Kläger durchgehend an diese Vorgaben gehalten, wäre der Unfall nicht geschehen. Auch die Überwachung des Klägers bei seiner Tätigkeit habe den Verhaltensnormen entsprochen, denn der Vorgesetzte habe sich schon bei den früheren Aufrollvorgängen – von denen einer noch am Unfallstag selbst stattgefunden habe – davon überzeugt, dass der Kläger der Ausbildung entsprechend richtig vorgehe, und er habe ihn auch bei jenem Aufrollvorgang, bei dem sich der Unfall sodann ereignet habe, zunächst die Schelle ordnungsgemäß in der Hand halten gesehen. Er habe den Kläger in seine auch den Kraftfahrer und die Seilwinde umfassenden Pendelblicke beim Aufrollen einbezogen. Für den Vorgesetzten sei daher nicht vorhersehbar gewesen, dass der Kläger von der richtigen Vorgangsweise plötzlich abgehen, die Schelle auslassen und zwischen die Schelle und die Seilwinde treten würde. Es könne auch von keiner verspäteten Reaktion des Vorgesetzten auf das Einhängen der Schelle am „Faltstraßengerät“ die Rede sein. Das Klagebegehren könne sich daher nicht auf Amtshaftung stützen.
Zwar liege ein Unfall „beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs“ nach § 1 EKHG vor, jedoch sei dieser durch ein unabwendbares Ereignis im Sinn des § 9 Abs 1 und 2 EKHG verursacht worden, nämlich durch ein schuldhaftes Verhalten des Klägers, der entgegen seiner Ausbildung die Schelle, die er zunächst noch in den Händen gehalten habe, losgelassen habe und zwischen die Schelle und die Seilwinde gegangen sei. Die Ausbildner seien „mit Willen des Halters beim Betrieb tätige Personen“ gewesen und hätten jede nach den Umständen des Falls gebotene Sorgfalt beachtet. Beim Unfall habe sich zwar eine „außergewöhnliche Betriebsgefahr“ verwirklicht – nämlich ein wegen des Verhängens seiner Verbindungsschelle gespannter Gurt, der sich gelöst und den Kläger ins Gesicht getroffen habe, was eine Gefahr sei, die mit dem gewöhnlichen Betrieb der Faltstraße gerade nicht verbunden sei. Diese außergewöhnliche Betriebsgefahr stehe im konkreten Fall aber einer Haftungsbefreiung der Beklagten nicht entgegen, weil sie auf ein schuldhaftes Verhalten des Klägers selbst zurückzuführen gewesen sei. Die Haftungsbefreiung greife nämlich auch im Fall einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr, wenn der Geschädigte diese selbst ausgelöst habe. Eine Haftung der Beklagten für die Verletzungen des Klägers scheide daher auch auf Basis des EKHG schon dem Grunde nach aus.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte ebenfalls Amtshaftungsansprüche des Klägers und führte dazu rechtlich aus, dass die festgestellten Ausbildungsinhalte geeignet und dem Zweck entsprechend angemessen gewesen seien. Die Ausbildner hätten davon ausgehen dürfen, dass diese Informationen ausreichend seien, zumal vorher noch nie ein Unfall beim Aufwickeln vorgekommen und ein Verhängen der Schelle prinzipiell ausgeschlossen sei, wenn mansie ununterbrochen in den Händen halte. Aus der– maßgeblichen – Sicht „ex ante“ betrachtet sei es ausreichend, den Kläger zu instruieren, er solle im Fall des Verhängens des Gurts dies sofort durch das Kommando „Halt“ bzw „Stopp“ melden, zumal ein konkreter Unfallablauf, wie er sich durch das plötzliche Loslösen der verhakten Schelle vom sie verhakenden Metallteil ergab, nicht ohne weiteres vorhersehbar gewesen sei. Die Ausbildungsinhalte hätten der Fürsorgepflicht eines pflichtbewussten Arbeitgebers entsprochen. Dies gelte auch für die Überwachung des Klägers durch seinen Vorgesetzten: Da der Kläger über die Verhaltensregeln unterrichtet gewesen sei, den Gurt vor dem Unfallstag bereits zwei Mal diesen Verhaltensregeln entsprechend fehlerfrei aufgewickelt und am Unfallstag noch einmal regelkonform durchgeführt habe, habe der Vorgesetzte darauf vertrauen und damit rechnen dürfen, dass er das auch beim vierten Mal den Instruktionen entsprechend machen werde. Der Vorgesetzte sei seiner den konkreten Umständen des Einzelfalls entsprechenden Fürsorgepflicht im Rahmen des ihm Zumutbaren vollständig nachgekommen, indem er den Kraftfahrer vorne im Fahrzeug, die Seilwinde und den Kläger aus etwa 4 m Entfernung vom Fahrzeug aus im Blick behalten und – wohl zwangsläufig abwechselnd – beobachtet habe. Eine ununterbrochene Beobachtung ausschließlich des Klägers wäre eine Überspannung der im konkreten Fall zumutbaren Fürsorgepflicht.
Der Unfall habe sich nicht „beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs“ im Sinn des § 1 EKHG ereignet. Das Fahrzeug sei zwar nicht abgestellt gewesen, habe sich aber– bei eingeschaltetem Motor – im Stillstand befunden, sodass sich jedenfalls keine Gefahr verwirklicht habe, die mit der motorbedingten Bewegung des Fahrzeugs „als solchem“ zusammengehangen sei („maschinentechnischer Ansatz“). Die Verhakung und anschließende Loslösung der Gurtschelle beim Aufwickeln des Gurts sei auch nicht im Zusammenhang mit einer „Teilnahme des Faltstraßenfahrzeugs am Straßenverkehr“ („verkehrstechnischer Ansatz“) gestanden, weil keine „anderen Verkehrsteilnehmer“ gefährdet worden seien, sondern nur der mit der Betätigung der Aufwicklungsvorrichtung des „Faltstraßenfahrzeugs“ selbst (mit‑)befasste Kläger. Eine Haftung nach dem EKHG komme mangels eines verwirklichten Gefahrenzusammenhangs nicht in Betracht.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige, und erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil keine eindeutige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum Thema des Gefahrenzusammenhangs des § 1 EKHG bei mit im Betrieb befindlichen Motor stillstehenden Fahrzeugen bestehe.
Die dagegen vom Kläger erhobene – von der Beklagten beantwortete – Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
1. Nach ständiger Rechtsprechung können Ansprüche nach dem EKHG neben solchen nach dem AHG geltend gemacht werden (RIS‑Justiz RS0049894). Amts- und Gefährdungshaftung schließen einander nicht aus (RIS‑Justiz RS0049894 [T1]). Daher hat der Geschädigte die Möglichkeit, neben oder anstelle eines Amtshaftungsanspruchs die Gefährdungshaftung der Kraftfahrzeughalterin nach dem EKHG in Anspruch zu nehmen (1 Ob 129/02f mwN = SZ 2002/87).
2. Der Oberste Gerichtshof teilt die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass kein amtshaftungsbegründendes Verhalten des Gruppenkommandanten als Vorgesetzter des damaligen Grundwehrdieners (Kläger) vorgelegen sei. Auf die zutreffende Begründung des Berufungsgerichts kann gemäß § 510 Abs 3 ZPO verwiesen werden.
3.1. Die Anwendung der Haftungsbestimmungen des EKHG setzt nach dessen § 1 voraus, dass der Unfall „beim Betrieb“ eines Kraftfahrzeugs herbeigeführt wurde.
3.2. Unter „Betrieb“ ist die bestimmungsgemäße Verwendung des Kraftfahrzeugs als Fahrmittel, also zur Ortsveränderung unter Benützung seiner Maschinenkraft zu verstehen. Allerdings kommt es nicht darauf an, dass das Kraftfahrzeug im Unfallszeitpunkt noch in Bewegung ist. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass es auch bei stehenden Fahrzeugen zu einem Betriebsunfall kommen kann, sofern der Unfall mit der Gefährlichkeit des Kraftfahrzeugs im ursächlichen Zusammenhang steht (2 Ob 181/15d mwN = SZ 2016/66; vgl RIS‑Justiz RS0058385 [T5, T6]).
3.3. Das Abstellen eines Kraftfahrzeugs zum Zweck seines Be‑ und Entladens setzt dieses noch nicht außer Betrieb. Da Kraftfahrzeuge auch zum Transport von Sachen bestimmt sind (RIS‑Justiz RS0058081), wozu das Be‑ und Entladen notwendig ist, werden auch diese Vorgänge als Betriebsvorgänge verstanden (RIS‑Justiz RS0058248 [T6, T12]). Es muss aber in jedem Einzelfall geprüft werden, ob auch tatsächlich ein Gefahrenzusammenhang in dem Sinn besteht, dass der Unfall aus einer spezifischen Gefährlichkeit des Kraftfahrzeugs resultiert. Der Unfall muss daher mit dem eigentlichen Vorgang des Be‑ und Entladens zusammenhängen (RIS‑Justiz RS0124207; 2 Ob 181/15d mwN = SZ 2016/66 ).
3.4. Ausgehend vom primären Zweck eines Kraftfahrzeugs, der Ortsveränderung, wird die Haftung des Fahrzeughalters nach dem EKHG abgelehnt, wenn ein Kraftfahrzeug mit Sonderausstattung als ortsgebundene Arbeitsmaschine verwendet wird. Maßgebend ist dabei nicht nur die vorübergehende Aufhebung der Fahrbarkeit, sondern vor allem die Betätigung der Motorkraft des Fahrzeugs für einen Arbeitsvorgang außerhalb desselben, der mit den für das Kraftfahrzeug typischen Funktionen nicht im Zusammenhang steht (RIS‑Justiz RS0058229 [T1]; 2 Ob 181/15d mwN = SZ 2016/66).
Wird hingegen die Motorkraft zum Antrieb eines auf dem Kraftfahrzeug montierten Hebekrans eingesetzt, um das eigene Fahrzeug zu be‑ oder zu entladen, handelt es sich um einen Betriebsvorgang (RIS‑Justiz RS0058248).
3.5. Die Entladetätigkeit des „Faltstraßengeräts“, die dem Betrieb des Kraftfahrzeugs zuzurechnen ist, besteht nach den Feststellungen darin, dass zunächst die Faltstraße ausgelegt und danach der an der Faltstraße angebrachte Gurt mittels Seilwinde, die sich auf dem „Faltstraßengerät“ befindet, aufgewickelt wird. Erst mit dem vollständigen Aufwickeln des Gurts, der aus drei 26 m langen Teilstücken besteht, die mit H‑förmigen Verbindungsschellen aus Eisen untereinander und mit der Seilwinde verbunden sind, ist der Entladevorgang abgeschlossen. Der Gurt dient ausschließlich der Sicherung der Faltstraße während des Transports sowie dem Abladevorgang; solange er nicht wieder aufgerollt ist, kommt eine Weiterfahrt ebensowenig in Betracht wie etwa vor dem Hochklappen und Verriegeln einer Ladebordwand.
Im vorliegenden Fall war das „Faltstraßengerät“ im Unfallszeitpunkt zwar im Stillstand, jedoch lief der LKW‑Motor, mit dem der Gurt aufgewickelt wird. Der Vorgang des Aufwickelns des Gurts zählt noch zum letzten Schritt des Entladens der Faltstraße (des Ladeguts) und damit zum Entladungsvorgang, und daher – entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – zum Betrieb des Kraftfahrzeugs. Die Entladetätigkeit unterfällt daher grundsätzlich der Haftung nach dem EKHG.
4.1. Ereignet sich der Unfall beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs, so ist die Ersatzpflicht des Halters (der Beklagten) gemäß § 9 Abs 1 EKHG ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde, das – wie im vorliegenden Fall – weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit noch auf einem Versagen der Verrichtungen des Kraftfahrzeugs beruhte. Der Ausdruck „unabwendbares Ereignis“ wird in § 9 Abs 2 EKHG definiert und beruht (soweit für den Fall relevant) auf folgenden drei Voraussetzungen (vgl Neumayr in Schwimann/Neumayr, ABGB‑TaKom4 § 9 EKHG Rz 1):
(1) Das Ereignis muss auf das Verhalten des Geschädigten zurückzuführen sein.
(2) Der Halter und die mit seinem Willen beim Betrieb tätigen Personen müssen die nach den Umständen des Falls gebotene Sorgfalt beachtet haben.
(3) Der Unfall darf weiters nicht unmittelbar durch eine außergewöhnliche Betriebsgefahr ausgelöst worden sein, die auf das Verhalten eines nicht beim Betrieb tätigen Dritten oder eines Tieres zurückzuführen ist.
4.2. Der Unfall wurde durch das Verhalten des verletzten Klägers ausgelöst, der nach den für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Feststellungen der Tatsacheninstanzen die Schelle ausließ und in den Bereich zwischen Seilwinde und Schelle trat.
4.3. Die Annahme eines unabwendbaren Ereignisses setzt nach § 9 Abs 2 EKHG – wie dargelegt –weiters voraus, dass die beklagte Halterin und ihre beim Betrieb tätigen Personen „jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt“ beachtet haben. Darunter ist die äußerste nach den Umständen des Falls mögliche und zumutbare Sorgfalt zu verstehen (RIS‑Justiz RS0058317; RS0058326); es muss alles vermieden werden, was zum Entstehen einer gefahrenträchtigen Situation führen könnte (RIS‑Justiz RS0058317 [T4]; RS0058326 [T6]). Der Maßstab des § 9 Abs 2 EKHG geht über die Verschuldenshaftung insofern hinaus, als auf einen objektiven Sorgfaltsmaßstab abgestellt wird („gebotene Sorgfalt“; RIS‑Justiz RS0107615) und nicht nur die Einhaltung der gewöhnlichen Verkehrssorgfalt, sondern die eines besonders sorgfältigen und sachkundigen Kraftfahrers etc gefordert wird, der besonders aufmerksam, geistesgegenwärtig und umsichtig agiert und auch die Möglichkeit ungeschickten Verhaltens anderer Personen einberechnet (RIS‑Justiz RS0058425). Die Sorgfaltspflicht darf nicht überspannt werden; an den Halter dürfen keine unzumutbaren, praktisch unmöglichen Anforderungen gestellt werden (RIS‑Justiz RS0058326 [T1]). Maßgeblich ist eine ex ante‑Betrachtung (RIS‑Justiz RS0058216). Zwar muss eine abstrakt mögliche Gefahrenquelle nicht einberechnet werden, wohl aber die aufgrund der Umstände naheliegende Möglichkeit eines unrichtigen oder ungeschickten Verhaltens anderer (RIS‑Justiz RS0058425).
Der Beklagten ist es gelungen, die Einhaltung der nach § 9 Abs 2 EKHG gebotenen Sorgfalt zu beweisen. Der Kläger wurde umfassend und richtig ausgebildet. Das Thema „Aufrollen des Gurts“ und insbesondere die damit verbundenen Gefahren waren maßgeblicher Inhalt der Ausbildung. Entgegen seiner Ansicht in der Revision musste er nicht auch eigens darüber aufgeklärt werden, dass er sich im Fall des Einhakens der Schelle „schleunigst aus der Gefahrenzone zu begeben hätte“, versteht sich dieses Verhalten doch von selbst. Vor und beim Unfall hatte ihn der Gruppenkommandant, der neben dem „Faltstraßengerät“ stand und die Gurtwinde mit einer Funkfernsteuerung bediente, im Blickfeld. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Zeitspanne zwischen dem Auslassen der Verbindungsschelle durch den Kläger und dem Lösen der eingehakten Schelle so lange gewesen wäre, dass eine besonders aufmerksame und umsichtige Person in der Lage des Gruppenkommandanten noch die Entspannung des Gurts mittels der Funkfernsteuerung herbeiführen hätte können, ist doch zu unterstellen, dass sich der Kläger unverzüglich bemerkbar gemacht hat. Nach dessen „Halt“‑Ruf hätte der Gruppenkommandant den Unfall jedenfalls nicht mehr verhindern können. Der für die Beklagte beim Betrieb des „Faltstraßengeräts“ tätige Gruppenkommandant hat beim Aufrollen des Gurts damit jede gebotene Sorgfalt beachtet.
4.4. Die Haftungsbefreiung des Halters eines Kraftfahrzeugs nach § 9 Abs 2 EKHG tritt auch bei Vorliegen der sonstigen in dieser Gesetzesstelle vorgesehenen Voraussetzungen dann nicht ein, wenn der Unfallschaden unmittelbar auf die durch das Verhalten eines nicht beim Betrieb tätigen Dritten oder eines Tieres ausgelöste außergewöhnliche Betriebsgefahr zurückzuführen ist (RIS‑Justiz RS0058840 [T2]; RS0058870 [T7]). Eine außergewöhnliche Betriebsgefahr ist bei einer besonderen Gefahrensituation anzunehmen, die nicht bereits regelmäßig und notwendig mit dem Betrieb verbunden ist, sondern durch das Hinzutreten besonderer, nicht schon im normalen Bereich liegender Umstände vergrößert wurde (RIS‑Justiz RS0058448 [T2]; RS0058461 [T4]; RS0058467 [T13]). Eine solche außergewöhnliche Betriebsgefahr liegt hier vor, resultiert doch der Schaden nicht aus dem normalen Betrieb des „Faltstraßengeräts“, sondern aus dem Einhaken der Schelle, wodurch der Gurt in Spannung geriet. Durch das plötzliche Lösen der Verbindungsschelle vom Fahrzeug traf diese den Kläger im Gesicht. Dadurch hat sich eine Gefahr verwirklicht, die mit dem gewöhnlichen Betrieb des „Faltstraßengeräts“ nicht verbunden ist.
Die vom Lösen der eingehakten Verbindungsschelle ausgehende außergewöhnliche Betriebsgefahr wurde jedoch nicht durch das Verhalten eines nicht beim Betrieb tätigen Dritten (oder eines Tieres), sondern des geschädigten Klägers selbst ausgelöst. Für diese Fälle judiziert der Fachsenat für Verkehrssachen, dass die Haftungsbefreiung nach § 9 Abs 2 EKHG bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen gegenüber dem Geschädigten möglich bleibt. Bei einem Verkehrsunfall bedarf es allerdings eines – schuldhaft oder schuldlos – verkehrswidrigen Verhaltens des Geschädigten, um den Zurechnungsgrund der außergewöhnlichen Betriebsgefahr in der Sphäre des potentiell Haftpflichtigen aufzuwiegen (RIS-Justiz RS0126277 [T1]; 2 Ob 210/09k; 2 Ob 111/15k, jeweils mwN). Dem verkehrswidrigen Verhalten des Geschädigten ist die Missachtung der Anordnung des Gruppenkommandanten, die der Kläger in der Ausbildung vermittelt erhielt, wie beim Aufrollen des Gurts vorzugehen ist, gleichzustellen (vgl 2 Ob 111/15k). Das Auslassen der Verbindungsschelle durch ihn, wodurch diese sich verhaken konnte, ist ein solches Verhalten, das die Haftungsbefreiung der Beklagten nicht ausschließt.
Die vom Kläger in diesem Zusammenhang monierten sekundären Feststellungsmängel sind für die rechtliche Beurteilung nicht von Relevanz. Überdies stehen ihnen die dazu getroffenen Tatsachenfeststellungen entgegen (siehe RIS‑Justiz RS0043320 [T16, T18]; RS0043480 [T15]; RS0053317 [T1]).
4.5. Aus den dargelegten Gründen lag für die Beklagte ein unabwendbares Ereignis im Sinn des § 9 EKHG vor, sodass sie von der Haftung gegenüber dem Kläger befreit ist.
5. Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 und § 50 ZPO.
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