OGH 16Ok2/22p

OGH16Ok2/22p21.10.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Kartellobergericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Parzmayr, die Hofrätin Dr. Faber und die fachkundigen Laienrichter KR Mag. Dorothea Herzele und KR Mag. René Tritscher als weitere Richter in der Kartellrechtssache der Antragstellerin Bundeswettbewerbsbehörde, Wien 3, Radetzkystraße 2, gegen die Antragsgegnerinnen 1. N* AG, *, Deutschland, vertreten durch die Becker Günther Polster Regner Rechtsanwälte GmbH, Wien, 2. S* AG, *, Deutschland, vertreten durch Dr. Wolfgang Bosch und Dr. Alexander Fritzsche, Rechtsanwälte in Mannheim, Deutschland, Einvernehmensanwalt Dr. Hanno Wollmann, Rechtsanwalt in Wien, sowie 3. A* GmbH, *, vertreten durch die Schönherr Rechtsanwälte GmbH, Wien, wegen Feststellung (§ 28 Abs 1 KartG 2005) sowie Verhängung einer Geldbuße (§ 87 Abs 2 iVm § 142 Z 1 lit a und lit d KartG 1988 bzw § 29 Z 1 lit a und lit d KartG 2005), über den Rekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Kartellgericht vom 15. Mai 2019, GZ 29 Kt 2/16k, 29 Kt 3/16g‑106, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0160OK00002.22P.1021.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Rekurs wird teilweise Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird in seinem Punkt 1 dahin abgeändert, dass er wie folgt lautet:

„1. Es wird festgestellt, dass die Erstantragsgegnerin im Telefongespräch vom 22. 2. 2006 mit der Zweitantragsgegnerin eine kartellrechtswidrige Absprache getroffen und dadurch Art 101 AEUV (ex Art 81 EG) und § 1 KartG 2005 zuwidergehandelt hat.

Das weitere Antragsbegehren, es möge festgestellt werden, dass die Erstantragsgegnerin durch diese Absprache auch § 9 iVm § 18 KartG 1988 zuwidergehandelt habe, wird abgewiesen.“

In seinem Punkt 2 wird der angefochtene Beschluss insoweit aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen, als der Antrag auf Verhängung von Geldbußen gegen die Zweitantragsgegnerin abgewiesen wurde.

 

Begründung:

[1] Die Unternehmensgruppe der Erstantragsgegnerin ist eine der führenden Zuckerproduzentinnen in Europa. Der Konzern der Zweitantragsgegnerin gehört zu den weltweit größten Zuckerproduzenten. Die Drittantragsgegnerin, die von der Zweitantragsgegnerin gesellschaftsrechtlich kontrolliert wird, betreibt zwei Zuckerwerke in Österreich und hat über Tochterunternehmen weitere Zuckerwerke in Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Rumänien und Bosnien.

[2] Die Märkte für die Herstellung und den Vertrieb von Zucker können sachlich in einen Markt für Verarbeitungszucker („Industriezucker“) und einen Markt für Haushaltszucker gegliedert werden. Diese unterscheiden sich im Vertriebsweg und in der Größe der Gebinde. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist nur der Vertrieb von Industriezucker.

[3] Die verschiedenen nationalen Regulierungsinstrumente für die Zuckermärkte wurden im Jahr 1968 von der europäischen Zuckermarktordnung abgelöst. Grundlegendes Ziel war es, den europäischen Zuckerrübenanbau und eine autarke Versorgung der europäischen zuckerverarbeitenden Betriebe und der europäischen Konsumenten mit europäischem Zucker zu sichern. Um dieses Ziel zu erfüllen, wurden den Mitgliedstaaten Produktionsquoten zugeteilt, die sie in der Folge auf ihre jeweiligen Produzenten aufteilten. Übermengen wurden gefördert exportiert. 2004 musste die EU aufgrund eines WTO‑Schiedsspruchs die Exportförderungen einstellen bzw stark einschränken. Am 24. 11. 2005 wurde die Zuckermarktordnung 2006 beschlossen, deren Ziel es war, die Zuckerproduktion zu verringern.

[4] In Deutschland wurde der Zuckermarkt seit Jahrzehnten von den Betrieben dreier großer Hersteller dominiert, darunter die Erst- und Zweitantragsgegnerinnen. Da ihre Zuckerwerke historisch aus Zusammenschlüssen benachbarter Zuckerwerke entstanden, sind diese nicht jeweils über das deutsche Bundesgebiet verteilt, sondern bilden (fast) „geschlossene Blöcke“, wobei die Werke der Erstantragsgegnerin im Norden und jene der Zweitantragsgegnerin im Süden liegen. Da Industriezucker ein homogenes Produkt ist, bei dem zumindest in Mitteleuropa keine qualitative Differenzierung möglich ist, und die Transportkosten für die Preisbildung eine erhebliche Rolle spielen, ist es betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll, diesen an von der eigenen Produktionsstätte weit entfernte Kunden zu liefern, sodass daraus eine Aufteilung des deutschen Markts in Kernabsatzgebiete der drei großen deutschen Hersteller resultierte, für welche sich in der Branche der Begriff „Heimatmarktprinzip“ bildete.

[5] Der WTO‑Schiedsspruch veranlasste einzelne europäische Produzenten, deren Quote über ihrem regionalen Bedarf lag, Kunden außerhalb ihres angestammten Liefergebiets bzw ihres Landes zu gewinnen. Insbesondere ein französisches Unternehmen versuchte mit niedrigen Preisen Industriekunden in den Absatzgebieten der drei großen deutschen Zuckerhersteller zu akquirieren. Auch der am 1. 5. 2004 erfolgte Beitritt mehrerer ost- und mitteleuropäischer Staaten zur EU führte zu „Unruhe“ auf dem deutschen Markt. Spätestens ab 2004 kam es deshalb zu mehreren Treffen zwischen den damals für Industriezucker zuständigen Vertriebsleitern der Erst- und Zweitantragsgegnerinnen. Dabei wurde die Wichtigkeit betont, dem neu entstandenen Wettbewerbsdruck dadurch zu begegnen, dass die deutschen Unternehmen sich nicht gegenseitig Konkurrenz machen, indem sie in die angestammten Kernabsatzgebiete der anderen Hersteller eindringen. Von Österreich war in den Gesprächen nicht die Rede. Die Drittantragsgegnerin war an diesen nicht beteiligt. Verantwortliche der Drittantragsgegnerin erfuhren auch nichts von diesen Gesprächen.

[6] Für den hauptsächlich von der Drittantragsgegnerin belieferten österreichischen Markt war die Öffnung der EU-Ostgrenzen von wesentlicher Bedeutung. Während sie bis dahin durch die geografische Lage Österreichs vom Wettbewerb fast zur Gänze abgeschirmt war, musste sie nunmehr erstmals einen Wettbewerb – insbesondere aus der Slowakei und aus Tschechien – befürchten. Etwa um den Jahreswechsel 2005/06 stellte die Drittantragsgegnerin fest, dass einige – bisher exklusiv von ihr belieferte – Industriekunden Zucker aus der Slowakei bezogen. Es war für die Drittantragsgegnerin klar, dass diese slowakischen Lieferungen nur von der Tochtergesellschaft der Erstantragsgegnerin stammen konnten, weil das zweite führende slowakische Unternehmen eine Tochtergesellschaft der Drittantragsgegnerin selbst war. Der Geschäftsführer der Drittantragsgegnerin informierte den Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin (ihrer Muttergesellschaft) am 22. 2. 2006 anlässlich eines Telefonats über andere Konzernthemen auch über diese Lieferungen nach Österreich und fragte ihn, ob er jemanden bei der Erstantragsgegnerin kenne, mit dem er darüber reden könne. Der Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin entschloss sich, „die Sache selbst in die Hand zu nehmen“. Er rief noch am selben Tag (22. 2. 2006) den Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin an und informierte ihn über die Lieferungen nach Österreich. Er ließ eine gewisse Verärgerung darüber erkennen und deutete mögliche Konsequenzen für den deutschen Markt an. Der Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin gab ihm gegenüber keine Zusage ab, nahm aber das Risiko für den „wettbewerblichen Frieden“ auf dem deutschen Markt ernst. Er berichtete neben einem Kollegen auch seinem Vorstandsvorsitzenden mit E‑Mail vom 23. 2. 2006 über das Gespräch und fragte ihn, wie er darauf reagieren solle. Er wurde von diesem angewiesen, darauf nicht zu reagieren. Dennoch teilte der Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin in weiterer Folge (aus eigenem Antrieb) gegenüber dem Vertriebsverantwortlichen der slowakischen Tochtergesellschaft seinen Wunsch nach einer „Nichtausdehnung“ der Exporte nach Österreich mit. Dieser betrachtete dies als Weisung und war bereit, diese umzusetzen. In der Folge verkaufte die slowakische Tochtergesellschaft deutlich weniger Industriezucker an österreichische Kunden als dies zunächst vorgesehen war (rund 3.000 bis 4.000 Tonnen im Vergleich zu budgetierten 10.000 bis 12.000 Tonnen).

[7] Mit rechtskräftigen Bußgeldbescheiden des deutschen Bundeskartellamts vom 18. 2. 2014, Aktenzeichen B2‑36/09, verhängte dieses über die Erstantragsgegnerin eine Geldbuße von 8.500.000 EUR und über die Zweitantragsgegnerin eine Geldbuße von 195.500.000 EUR. Beiden Bescheiden lag der Vorwurf zugrunde, dass vertretungsbefugte Organe der Erst- und Zweitantragsgegnerinnen, deren Prokuristen bzw sonstige für die Leitung des Betriebs oder des Unternehmens verantwortliche Personen über einen längeren Zeitraum vorsätzlich dem Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen zwischen miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen zuwiderhandelten, indem sie sowohl für Verarbeitungszucker als auch für Haushaltszucker eine (Grund‑)Absprache praktizierten, wonach die jeweiligen deutschen Kernabsatzgebiete der Wettbewerber respektiert werden sollten.

[8] Das Justizministerium der Vereinigten Staaten von Amerika (Antitrust Devision of the U.S. Department of Justice) übermittelte eine Stellungnahme zum vorliegenden Verfahren, in dem es auf die Bedeutung einer umfassenden Sanktionierung von Kartellverstößen mit Auswirkungen auf mehrere nationale Märkte durch sämtliche betroffenen Jurisdiktionen hinwies. Nur durch eine Berücksichtigung sämtlicher internationaler Auswirkungen solcher Wettbewerbsverstöße könne diesen (auch präventiv) effektiv entgegengewirkt werden. Blieben Auswirkungen auf einzelne Märkte unsanktioniert, bestünden weiterhin Anreize für ein wettbewerbswidriges Verhalten. Zum vorliegenden Fall ging das U.S. Justizministerium davon aus, dass das deutsche Bundeskartellamt die Auswirkungen des von ihm sanktionierten Kartells auf den österreichischen Markt nicht berücksichtigt habe.

[9] Die Antragstellerinbegehrte gegenüber der Erstantragsgegnerin die Feststellung, dass diese Art 101 AEUV (ex Art 81 EG) und § 1 KartG 2005 sowie § 9 iVm § 18 KartG 1988 zuwidergehandelt habe. Gegenüber der Zweitantragsgegnerin beantragte sie die Verhängung einer Geldbuße in Höhe von 12.460.000 EUR für den Zeitraum vom 1. 1. 2005 bis zum 21. 9. 2006 sowie gegenüber dieser und der Drittantragsgegnerin als Gesamtschuldnerinnen die Verhängung einer weiteren Geldbuße in Höhe von 15.390.000 EUR betreffend den Zeitraum vom 22. 9. 2006 bis zum 31. 10. 2008.

[10] Aufgrund von Unklarheiten über die zukünftige Zuckermarktordnung sowie der EU‑Osterweiterung sei ein Preisverfall ausgelöst worden, der die Erst- und Zweitantragsgegnerinnen veranlasst habe, miteinander in Kontakt zu treten. Dabei sei man zum Grundverständnis gelangt, die de facto entstandenen Kernabsatzgebiete des jeweils anderen Wettbewerbers zu respektieren. Dieses Grundverständnis sei in regelmäßigen, etwa halbjährlich stattfindenden Gesprächen bekräftigt worden und habe „implizit“ auch andere Kernmärkte, wie insbesondere Österreich, miteingeschlossen. Auch am 22. 2. 2006 sei es zu einem Telefongespräch betreffend den österreichischen Markt (für Industriezucker) gekommen. In der Folge habe es eine Reihe weiterer Treffen im Hinblick auf den österreichischen Markt gegeben, die im Einklang mit dem Verständnis des der Drittantragsgegnerin zugesicherten Gebietsmonopols gestanden seien. Die einzelnen Kontakte zwischen den Kartellteilnehmern seien in ihrer Gesamtheit zu bewerten. Eine aktive Beteiligung der Drittantragsgegnerin an diesen sei vom 22. 9. 2006 bis zum 31. 10. 2008 erfolgt.

[11] Die wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen der Antragsgegnerinnen hätten sowohl gegen österreichisches Kartellrecht als auch gegen Art 101 AEUV verstoßen. Die Bereichsausnahme für landwirtschaftliche Erzeugnisse sei nicht anwendbar. Ein Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem) liege nicht vor, weil das deutsche Bundeskartellamt nur Absprachen abgehandelt habe, die Auswirkungen auf den deutschen Markt gehabt hätten. Im vorliegenden Verfahren seien hingegen nur die Auswirkungen auf den österreichischen Markt zu beurteilen.

[12] Die Erstantragsgegnerinbeantragte, den gegen sie gerichteten Feststellungsantrag mangels berechtigten Interesses ab- bzw zurückzuweisen. Österreich sei aus Sicht der Erstantragsgegnerin zwar implizit in das „Grundverständnis“ (Aufteilung des deutschen Markts in Kernabsatzgebiete der drei großen deutschen Hersteller) eingeschlossen gewesen, habe aufgrund der geringfügigen Absatzmengen aber immer nur einen „Nebenschauplatz“ dargestellt. Es sei der Erstantragsgegnerin nur darum gegangen, aus Verhaltensweisen auf dem österreichischen Markt resultierende Gegenmaßnahmen und „Preiskriege“ auf dem „Hauptschauplatz Deutschland“ zu verhindern.

[13] Die Zweitantragsgegnerinbeantragte, den Antrag auf Verhängung einer Geldbuße abzuweisen. Eine faktische Aufteilung der Kernabsatzgebiete sei der jeweiligen Lage der Zuckerwerke bzw den hohen Transportkosten geschuldet gewesen. Angesichts dieser Situation habe sich das „Grundverständnis“ (Aufteilung der Absatzmärkte nach der Lage der Zuckerbetriebe) aus betriebswirtschaftlichen Gründen ergeben, ohne dass es dazu einer Absicherung durch Absprachen bedurft hätte. Eine explizite „Verständigung“ zum deutschen Markt habe sich auch nicht „implizit“ auf Österreich bezogen, für das es keine Absprachen gegeben habe. Anlässlich des Telefonats vom 22. 2. 2006 habe der Geschäftsführer der Drittantragsgegnerin die Zweitantragsgegnerin (als ihre Muttergesellschaft) nur über Importe aus der Slowakei nach Österreich informiert. Der Geschäftsführer der Drittantragsgegnerin habe den Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin bloß gefragt, ob er einen Kontakt zu jemandem bei der Erstantragsgegnerin habe, mit dem man darüber reden könne. Der Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin habe gegenüber dem Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin im Telefonat vom selben Tag bloß den Sachverhalt erwähnt, ohne dazu Stellung zu beziehen.

[14] Über die Zweitantragsgegnerin sei bereits mit Bußgeldbescheid des deutschen Bundeskartellamts vom 18. 2. 2014 eine Geldbuße verhängt worden. Gegenstand dieses Bescheids sei unter anderem auch das Telefongespräch der Vertriebsleiter der Erst- und Zweitantragsgegnerinnen vom 22. 2. 2006 gewesen. Es sei daher nach dem auch im Kartellrecht anerkannten Prinzip „ne bis in idem“ unzulässig, wegen des gleichen Sachverhalts eine weitere Geldbuße gegen die Zweitantragsgegnerin zu verhängen.

[15] Die Drittantragsgegnerinbeantragte die Abweisung des gegen sie gerichteten Antrags auf Verhängung einer Geldbuße. Das System der Kernabsatzgebiete sei aus Gründen der betriebswirtschaftlichen Logik entstanden. An den von der Antragstellerin behaupteten Kontakten zwischen der Erst- und der Zweitantragsgegnerin sei sie nicht beteiligt gewesen. Ihr Geschäftsführer habe die Zweitantragsgegnerin zwar ersucht, einen Kontakt mit der Erstantragsgegnerin zu vermitteln. Um eine Intervention bei der Erstantragsgegnerin habe er dabei aber nicht gebeten. Er sei von einer solchen auch nicht informiert worden. Die inkriminierten Absprachen seien außerdem aufgrund der Bereichsausnahme für landwirtschaftliche Erzeugnisse vom Kartellverbot ausgenommen.

[16] Das Erstgerichtwies sämtliche Anträge ab.

[17] Dem gegen die Erstantragsgegnerin gerichteten Feststellungsantrag fehle es an einem berechtigten Interesse, weil die Antragstellerin im Hinblick auf die Anwendung der Kronzeugenregelung von der Beantragung einer Geldbuße Abstand genommen habe.

Hinsichtlich der Zweitantragsgegnerin bestünden bis Februar 2006 keine Hinweise darauf, dass Österreich in das „Grundverständnis“ über die gegenseitige Respektierung der angestammten deutschen Kernabsatzgebiete einbezogen worden wäre. Mit dem im Telefonat vom 22. 2. 2006 vom Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin sinngemäß erhobenen Verlangen, die Erstantragsgegnerin möge auf Lieferungen durch ihre slowakische Tochtergesellschaft nach Österreich „dämpfend Einfluss“ nehmen, sowie der folgenden Umsetzung dieses Verlangens, sei zwischen der Erst- und der Zweitantragsgegnerin zwar eine wettbewerbswidrige Absprache getroffen worden. Allerdings sei auch im kartellrechtlichen Geldbußenverfahren das Doppelbestrafungsverbot zu berücksichtigen. Sei ein bestimmter Aspekt verbotener Verhaltensweisen – hier die Absprache zwischen der Erst‑ und Zweitantragsgegnerin vom 22. 2. 2006 betreffend die Exporte der slowakischen Tochtergesellschaft der Erstantragsgegnerin nach Österreich – von einer Sanktion umfasst, die bereits eine andere nationale Wettbewerbsbehörde – hier das deutsche Bundeskartellamt – verhängt habe, widerspreche dem eine neuerliche Sanktionierung.

[18] Eine Teilnahme der Drittantragsgegnerin an einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise habe nicht festgestellt werden können.

[19] Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs der Antragstellerinmit dem Antrag, (nur mehr) aufgrund der im Telefongespräch vom 22. 2. 2006 zwischen der Erst- und der Zweitantragsgegnerin getroffenen Vereinbarung gegenüber der Erstantragsgegnerin festzustellen, dass sie gegen Art 101 AEUV und § 1 KartG sowie § 9 KartG iVm § 18 KartG verstoßen habe, sowie über die Zweitantragsgegnerin wegen dieses Verstoßes eine Geldbuße in angemessener Höhe zu verhängen.

[20] Zur Drittantragsgegnerin enthält der Rekurs weder einen Rekursantrag noch inhaltliche Ausführungen, sodass davon auszugehen ist, dass die Antragstellerin die erstinstanzliche Entscheidung insoweit nicht anfechten wollte. Diese erwuchs daher insoweit in Rechtskraft.

[21] Die Zweit- und Drittantragsgegnerinnen beantragten jeweils, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

[22] Die Erstantragsgegnerin beteiligte sich nicht am Rekursverfahren.

Rechtliche Beurteilung

[23] Dem Rekurs kommt teilweise Berechtigung zu.

1. Zum Doppelbestrafungsverbot

1.1. Entscheidung des EuGH

1.1.1. Der Oberste Gerichtshof hat dem EuGH in seinem im vorliegenden Verfahren gefassten Vorlagebeschluss vom 12. 3. 2020 zu 16 Ok 2/19h folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist das in der wettbewerbsrechtlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Anwendbarkeit des Grundsatzes „ne bis in idem“ aufgestellte dritte Kriterium, nämlich dass das gleiche geschützte Rechtsgut betroffen sein muss, auch dann anzuwenden, wenn die Wettbewerbsbehörden zweier Mitgliedstaaten berufen sind, für den selben Sachverhalt und in Bezug auf die selben Personen neben nationalen Rechtsnormen auch die selben europäischen Rechtsnormen (hier: Art 101 AEUV) anzuwenden?

Bei Bejahung dieser Frage:

2. Liegt in einem solchen Fall der parallelen Anwendung europäischen und nationalen Wettbewerbsrechts das gleiche geschützte Rechtsgut vor?

3. Ist es darüber hinaus für die Anwendung des Grundsatzes „ne bis in idem“ von Bedeutung, ob die zeitlich erste Geldbußenentscheidung der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats die Auswirkungen des Wettbewerbsverstoßes in tatsächlicher Hinsicht auf jenen weiteren Mitgliedstaat berücksichtigt hat, dessen Wettbewerbsbehörde erst danach im von ihr geführten wettbewerbsrechtlichen Verfahren entschieden hat?

4. Liegt auch bei einem Verfahren, in dem wegen der Teilnahme eines Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm nur dessen Zuwiderhandlung gegen Wettbewerbsrecht festgestellt werden kann, ein vom Grundsatz „ne bis in idem“ beherrschtes Verfahren vor, oder kann eine solche bloße Feststellung der Zuwiderhandlung unabhängig vom Ergebnis eines früheren Verfahrens betreffend die Verhängung einer Geldbuße (in einem anderen Mitgliedstaat) erfolgen?

1.1.2. Der EuGH beantwortete diese Fragen in seinem Urteil vom 22. 3. 2022 zu C‑151/20 wie folgt:

[24] Art 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er es nicht verwehrt, dass ein Unternehmen von der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats wegen eines Verhaltens, das im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgte oder eine wettbewerbswidrige Wirkung hatte, wegen Verstoßes gegen Art 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts verfolgt und gegebenenfalls mit einer Geldbuße belegt wird, obwohl dieses Verhalten bereits von einer Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats in einer endgültigen Entscheidung erwähnt wurde, die sie in Bezug auf dieses Unternehmen am Ende eines Verfahrens wegen Verstoßes gegen Art 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des Wettbewerbsrechts dieses anderen Mitgliedstaats erlassen hat, sofern diese Entscheidung nicht auf der Feststellung eines wettbewerbswidrigen Zwecks oder einer wettbewerbswidrigen Wirkung im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats beruht.

[25] Auf die zweite Frage musste der EuGH –im Hinblick auf die Beantwortung der ersten Frage – nicht eingehen.

[26] Die vierte Frage beantwortete der EuGH dahin, dass Art 50 der GRC dahin auszulegen sei, dass ein Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts, in dem wegen der Teilnahme des betroffenen Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht lediglich festgestellt werden kann, dem Grundsatz „ne bis in idem“ unterliegen kann.

[27] 1.1.3. In seiner Begründungführte der EuGH aus, dass es sich beim Grundsatz „ne bis in idem“ um einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts handle, der eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur sind, gegenüber der selben Person wegen der selben „Tat“ verbietet (Rn 28 f). Dieser Grundsatz gelte auch in wettbewerbsrechtlichen Verfahren, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet sind und verbiete es im Bereich des Wettbewerbsrechts, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt wird (Rn 32).

[28] Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, sei nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs das Kriterium der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben, maßgebend. Art 50 der GRC verbiete es, wegen derselben Tat mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren zu verhängen (Rn 38 mit Hinweis auf die Urteile des EuGH vom 20. 3. 2018, Menci, C‑524/15 , Rn 35, und vom 20. 3. 2018, Garlsson Real Estate ua, C‑537/16 , Rn 37 mwN). Die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte Rechtsgut seien für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliege, nicht entscheidend, da die Reichweite des in Art 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein könne (Rn 39 mit Hinweis auf die Urteile des EuGH vom 20. 3. 2018, Menci, C‑524/15 , Rn 36, und vom 20. 3. 2018, Garlsson Real Estate ua, C‑537/16 , Rn 38). Dies gelte auch für die Anwendung des in Art 50 der Charta verankerten Grundsatzes „ne bis in idem“ im Bereich des Wettbewerbsrechts der Union, da die Reichweite des mit dieser Bestimmung gewährten Schutzes, sofern im Unionsrecht nichts anderes bestimmt ist, nicht von einem Bereich des Unionsrechts zu einem anderen unterschiedlich sein könne (Rn 40 mit Hinweis auf das Urteil des EuGH vom 22. 3. 2022, bpost, C‑117/20 , Rn 35).

[29] Was das Kriterium der Identität der Tat betreffe, so lasse sich die Frage, ob Unternehmen ein Verhalten an den Tag gelegt haben, mit dem eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt wurde, nicht abstrakt beurteilen; die Prüfung sei vielmehr daran auszurichten, in welchem Gebiet, auf welchem Produktmarkt und in welchem Zeitraum mit dem entsprechenden Verhalten ein solcher Zweck verfolgt oder eine solche Wirkung entfaltet wurde (Rn 41 mit Hinweis auf die Urteile des EuGH vom 14. 2. 2021, Toshiba Corporation ua, C‑17/10 , Rn 99, und vom 25. 2. 2021, Slovak Telekom, C‑857/19 , Rn 45 [Anmerkung: wohl gemeint Rn 47]). Ob sich der anhängige Rechtsstreit auf dieselbe Tat bezieht, die zum Erlass der endgültigen Entscheidung der (hier: deutschen) Behörde eines anderen Mitgliedstaats geführt hat, sei vom für die Tatsachenfeststellungen allein zuständigen vorlegenden Gericht unter Berücksichtigung des von dieser Entscheidung betroffenen Gebiets, Produktmarkts und Zeitraums zu prüfen, das sich dabei der Tragweite dieser Entscheidung zu vergewissern habe (Rn 42).

[30] Gleichwohl könne der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts im Rahmen der Beurteilung dieser Tragweite geben (Rn 42).

[31] Aus dem Akt ergebe sich, dass die Fragen des vorlegenden Gerichts im speziellen den Punkt beträfen, dass die Verfolgungsmaßnahmen in Österreich auf einem tatsächlichen Umstand – dem streitigen Telefonat, bei dem über den österreichischen Zuckermarkt gesprochen wurde –beruhen, der in der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde erwähnt worden war (Rn 43).

[32] Die bloße Tatsache, dass eine Behörde eines Mitgliedstaats in einer Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union und die entsprechenden Bestimmungen des Rechts dieses Mitgliedstaats festgestellt wird, einen tatsächlichen Umstand erwähnt, der sich auf das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats bezieht, reiche nicht für die Annahme aus, dass dieser tatsächliche Umstand der Grund für die Verfolgungsmaßnahmen ist oder von dieser Behörde als einer der Umstände angesehen wurde, die diesen Verstoß tatbestandlich begründen. Damit davon ausgegangen werden könne, dass der Verstoß das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats umfasst, sei darüber hinaus zu prüfen, ob die Behörde auf diesen tatsächlichen Umstand in der Tat eingegangen ist, um den Verstoß sowie die Verantwortlichkeit des Beschuldigten dafür festzustellen und gegebenenfalls eine Sanktion gegen ihn zu verhängen (Rn 44 mit Hinweis auf das Urteil des EuGH vom 4. 2. 2012, Toshiba Corporation ua, C‑17/10 , Rn 101 und 102).

[33] Das vorlegende Gericht habe daher auf Grundlage einer Würdigung aller relevanten Umstände zu prüfen, ob die endgültige Entscheidung der deutschen Behörde die Feststellung und Ahndung des in Rede stehenden Kartells dahin zum Gegenstand hatte, dass es sich seinem wettbewerbswidrigen Zweck oder seiner wettbewerbswidrigen Wirkung nach im Bezugszeitraum nicht nur auf den deutschen, sondern auch auf den österreichischen Markt erstreckte. Im Rahmen dieser Würdigung sei insbesondere zu beurteilen, ob sich die rechtliche Beurteilung, die die deutsche Behörde auf Grundlage der in ihrer Entscheidung festgestellten tatsächlichen Umstände vornahm, ausschließlich auf den deutschen Markt oder auch auf den österreichischen Zuckermarkt bezog, wobei auch erheblich sei, ob sie der Berechnung der Geldbuße auf Grundlage des Umsatzes, der auf dem von dem Verstoß betroffenen Markt erzielt wurde, nur den in Deutschland erzielten Umsatz zugrunde legte (Rn 45 f mit Hinweis auf das Urteil des EuGH vom 14. 2. 2012, Toshiba Corporation ua, C‑17/10 , Rn 101).

[34] Sollte das vorlegende Gericht nach Würdigung aller relevanten Umstände der Auffassung sein, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kartell durch die endgültige Entscheidung der deutschen Behörde nicht wegen seines wettbewerbswidrigen Zwecks oder seiner wettbewerbswidrigen Wirkung im österreichischen Hoheitsgebiet festgestellt und geahndet wurde, stünde der Grundsatz „ne bis in idem“ weiteren Verfolgungsmaßnahmen und gegebenenfalls Sanktionen nicht entgegen; andernfalls – wenn dies auch aus diesen Gründen erfolgt wäre – würde eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und gegebenenfalls Sanktionen das in Art 50 GRC verbürgte Grundrecht einschränken (Rn 47 f).

1.2. Zum deutschen Bußgeldverfahren

[35] 1.2.1. Dem Bescheid des deutschen Bundeskartellamts vom 18. 2. 2014 (ON 76), mit dem über die Zweitantragsgegnerin ein Bußgeld verhängt wurde, lag der Vorwurf zugrunde, dass verantwortlich Handelnde der Erst- und Zweitantragsgegnerinnen an verschiedenen Orten in der Bundesrepublik Deutschland (auch) für Industriezucker eine Absprache praktizierten, wonach die jeweiligen deutschen Kernabsatzgebiete der Wettbewerber respektiert würden.

[36] Zusammengefasst legte das Bundeskartellamt seiner Entscheidung folgenden Sachverhalt zugrunde (die nachfolgenden Darlegungen beruhen, soweit das Erstgericht dazu keine Feststellungen traf, auf der im Akt erliegenden Urkunde, die der Rekursentscheidung bedenkenlos zugrundegelegt werden kann; vgl RS0121557; zum Außerstreitverfahren 2 Ob 134/21a; 7 Ob 194/21m; zum Verfahren in Kartellrechtssachen siehe auch 16 Ok 12/04):

[37] Spätestens 2001 sprachen sich die Vorstandsvorsitzenden der Erst- und Zweitantragsgegnerinnen darüber ab, am seit vielen Jahren bewährten Prinzip festzuhalten, die jeweiligen Kernabsatzgebiete der Wettbewerber zu respektieren und sich gegenseitig nicht aktiv Kunden abzuwerben (Rz 4 des Bescheids; nachfolgende Angaben zu Randziffern beziehen sich jeweils auf diesen). In der Zeit nach diesem Gespräch gab es für mehrere Jahre keine exogenen Ereignisse, die Anlass für weitere Abstimmungen gegeben hätten. Alle drei Unternehmen [Anmerkung: neben der Erst- und der Zweitantragsgegnerin noch ein weiterer deutscher Zuckerproduzent] unterließen nennenswerte Wettbewerbsvorstöße und respektierten die Kunden der anderen Kartellbeteiligten (Rz 5). Aufgrund der EU‑Erweiterung und nachdem aufgrund des Schiedsspruchs der WTO die Zuckerexporte aus der EU reduziert werden mussten kam erhebliche Unruhe in den bis dato weitgehend statischen Zuckermarkt, weil für Überschussmengen nunmehr neue Absatzkanäle gesucht werden mussten (Rz 6 bis 8). Es erfolgten daher zwischen 2004 und 2007 regelmäßige Treffen zwischen den Vertriebsleitern der Erst- und Zweitantragsgegnerinnen, bei denen das ausdrückliche Einverständnis hergestellt wurde, die bisherige Respektierung der jeweiligen Kernabsatzgebiete fortzusetzen und Überschussmengen wenn möglich nicht auf dem deutschen Markt unterzubringen. Das Preisniveau auf dem Heimatmarkt sollte nicht noch weiter beschädigt werden. Die Treffen fanden jeweils am 14. 2. 2006, am 23. 3. 2007, am 21. 5. 2007 sowie im Sommer 2008 während der Jahresversammlung der Wirtschaftlichen Vereinigung Zucker statt (Rz 9).

„Zuvor hatte Herr [Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin] Herrn [Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin] angerufen und ihn auf Vertriebsbemühungen der slowakische Tochter [der Erstantragsgegnerin] angesprochen. Diese hatte wettbewerbliche Vorstöße nach Österreich unternommen, anstatt ihren überschüssigen Zucker wie gewohnt zu niedrigeren Preisen nach Italien zu verkaufen. Herr [Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin] verstand den Anruf von [Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin] so, dass Herr [Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin] verlange, dass sich die [Erstantragsgegnerin] aus dem österreichischen Markt fernhalten solle. Andernfalls drohten Reaktionen in Form eines Preiskampfes in Deutschland.“

[38] Im Wesentlichen habe die Gebiets- und Kundenaufteilung aus der „Grundabsprache“ gut funktioniert, es seien nur wenige Kontakte zwischen den Unternehmern erforderlich gewesen, die zu einem Teil der operativen Umsetzung und zum anderen Teil der strategischen Steuerung des Kartells gedient hätten (Rz 12). Zur operativen Umsetzung hätten einzelne bilaterale Gespräche stattgefunden, um Konfliktfälle bei Nichtbeachtung der Gebietsgrenzen zu bewältigen. Die Einzelkontakte operativer Art, die auf Ebene der Vertriebsmitarbeiter stattfanden, dienten der „Verbesserung“ der Wirksamkeit der Grundabsprache in Grenzfällen (Rz 13).

[39] Rechtlich stützte das deutsche Bundeskartellamt den von ihm angenommenen Wettbewerbsverstoß ganz allgemein auf das zuvor wiedergegebene Verhalten der Betroffenen bzw auf die von diesen getroffenen Vereinbarungen, die „durch die auf unbestimmte Zeit geschlossene Grundabsprache zu einer Bewertungseinheit verklammert“ worden seien. Eine Beurteilung einzelner Sachverhaltselemente auf ihre Wettbewerbswidrigkeit und ihre Auswirkung auf die Verhängung eines Bußgeldes enthält der Bescheid nicht. Es kann diesem insbesondere auch nicht entnommen werden, welche konkrete Bedeutung das Bundeskartellamt dem Telefonat vom 22. 2. 2006 beimaß. Die Höhe der Geldbuße wurde nur mit einem pauschalen Verweis auf das dem Bundeskartellamt zustehende Ermessen begründet. Auf einen bestimmten Umsatz der Zweitantragsgegnerin auf einem bestimmten Markt wurde dabei nicht Bezug genommen.

[40] Der ebenfalls am 18. 2. 2014 ergangene Bußgeldbescheid des deutschen Bundeskartellamts, mit dem über die Erstantragsgegnerin ein Bußgeld in Höhe von 8.500.000 EUR verhängt wurde (ON 75; zur zulässigen Berücksichtigung des vom Erstgericht nicht festgestellten Inhalts dieser Urkunde im Rekursverfahren vgl oben), enthält eine vergleichbare Begründung wie der gegen die Zweitantragsgegnerin erlassene Bescheid. Auch in diesem erfolgte keine rechtliche Beurteilung einzelner wettbewerbswidriger Handlungen (insbesondere nicht des bei der Wiedergabe des Sachverhalts genannten Telefonats des Vertriebsleiters der Zweitantragsgegnerin mit dem Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin vom 22. 2. 2006). Auch die Höhe der Geldbuße wurde bloß durch einen pauschalen Hinweis auf das dem Bundeskartellamt zustehende Ermessen begründet.

[41] 1.2.2. Für die Frage, welche konkreten wettbewerbswidrigen Tathandlungen der Erst- und Zweitantragsgenerin im deutschen Bußgeldverfahren vorgeworfen wurden, ist auch das (auf Grundlage des § 56 des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen ergangene) Anhörungsschreiben des deutschen Bundeskartellamts maßgeblich, in dem den Beteiligten der ihnen zur Last gelegte Sachverhalt ausführlich dargelegt wurde.

[42] Aus diesem Schreiben (ON 77; zur zulässigen Verwertung dieser Urkunde im Rekursverfahren siehe oben) ergibt sich der Vorwurf, dass sich die Vertriebsleiter der Erst- und Zweitantragsgegnerinnen seit 2004 mehrmals getroffen und das ausdrückliche Einverständnis hergestellt hätten, die bisherige Respektierung der jeweiligen Kernabsatzgebiete fortzusetzen (Rz 177 ff dieses Schreibens; nachfolgende Angaben zu Randziffern beziehen sich jeweils auf dieses), wobei auch das Telefonat zwischen diesen beiden Vertriebsleitern vom 22. 2. 2006 erwähnt wurde. Demnach hätte der Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin vom Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin verlangt, dass sich diese aus dem österreichischen Markt „fernhalte“, andernfalls müsse sie mit „Reaktionen“ rechnen, was der Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin als Androhung eines Preiskampfes in Deutschland verstanden habe (Rz 186).

[43] In der rechtlichen Würdigung des vom Bundeskartellamt in seinem Anhörungsschreiben „vorgehaltenen“ Sachverhalts ging es unter anderem davon aus, dass es eine langandauernde Grundabsprache zur Gebiets- und Kundenaufteilung gegeben habe, die gelegentlich modifiziert worden sei (Rz 968), wobei nur ein geringer Koordinierungsaufwand bestanden habe, weshalb die wenigen „Problemfälle“ im operativen Bereich auf die Vertriebsebene verlagert werden haben können. Die im Rahmen der entsprechenden „Stabilisierungsmaßnahmen“ erforderlichen Einzelkontakte hätten den übergreifenden Zweck verfolgt, im Wege der Koordination die Wirksamkeit des „Heimatmarktprinzips“ zu wahren (Rz 989 f). In den seltenen Fällen wettbewerblicher Vorstöße seien die hieraus resultierenden Konflikte denn auch regelmäßig besprochen worden, im Regelfall durch Mitarbeiter auf Hierarchieebene unterhalb des Vorstands (Rz 992). Durch diese Absprachen seien verschiedene Wettbewerbsbeschränkungen hervorgerufen worden (Rz 994). Die Maßnahmen zur Umsetzung der Gebiets- und Kundenschutzabsprachen seien durch die Grundabsprache, die darauf gerichtet gewesen sei, das Wettbewerbsverhältnis umfassend zu beruhigen, „zu einer Bewertungseinheit verklammert“ worden, die Absprachen, die auf Vertriebsleitungsebene auf die Erneuerung und Bestätigung der Grundabsprache gerichtet gewesen seien, hätten die „alte“ Tat fortgesetzt (Rz 1227).

1.3. Zwischenergebnis

[44] 1.3.1. Aus der Beantwortung der im vorliegenden Verfahren an den EuGH herangetragenen Vorlagefragen ergibt sich zusammengefasst, dass es für die Beurteilung, ob die Entscheidung einer Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats „die selbe Tat“ betrifft, wegen der in einem anderen Mitgliedstaat ein Verfahren wegen eines Wettbewerbsverstoßes geführt wird, darauf ankommt, ob die bereits ergangene Entscheidung auf der „Feststellung“ eines wettbewerbswidrigen Zwecks oder einer wettbewerbswidrigen Wirkung im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats beruht.

[45] 1.3.2. Das vom deutschen Bundeskartellamt (unter anderem) gegen die Erst- und Zweitantragsgegnerin geführte Bußgeldverfahren, dessen Gegenstand sich nicht nur aus den Bußgeldbescheiden sondern auch aus dem diesen zugrundeliegenden Anhörungsschreiben erschließt, zielte nur auf die Ahndung eines wettbewerbswidrigen Verhaltens ab, das sich auf den deutschen Markt erstreckte bzw dort auswirkte. Es wurde ihnen vorgeworfen, das (zunächst historisch gewachsene) „Heimatmarktprinzip“, also die territoriale Aufteilung von Absatzgebieten, durch wettbewerbswidrige Absprachen „befestigt“ zu haben. Auf die im Telefonat vom 22. 2. 2006 getroffene Vereinbarung nahm das Bundeskartellamt – sowohl in den Bußgeldbescheiden als auch im Anhörungsschreiben – erkennbar nur insoweit Bezug, als auch dadurch die den deutschen Zuckermarkt betreffende Grundabsprache „befestigt“ wurde, weil von der Zweitantragsgegnerin aufgrund des wettbewerblichen Vorstoßes der Tochtergesellschaft der Erstantragsgegnerin der wettbewerbliche Friede auf dem deutschen Markt in Frage gestellt wurde. Das Bundeskartellamt ging erkennbar davon aus, dass auch durch dieses Gespräch „die auf unbestimmte Zeit geschlossene Grundabsprache zu einer Bewertungseinheit verklammert“ wurde. Dass der wettbewerbswidrige Zweck oder die wettbewerbswidrige Wirkung der Abrede vom 22. 2. 2006 hinsichtlich des österreichischen Hoheitsgebiets für die Verhängung der Geldbuße oder die Festlegung deren Höhe maßgeblich gewesen wäre, lassen weder die beiden Bußgeldbescheide noch das Anhörungsschreiben erkennen. Die daraus resultierende Beschränkung (auch) des Wettbewerbs auf dem österreichischen Markt fand im deutschen Wettbewerbsverfahren keine Berücksichtigung.

[46] 1.3.3. Gegen die Anwendbarkeit des Grundsatzes „ne bis in idem“ auf das vorliegende Verfahren spricht auch die von der Rekurswerberin vorgelegte und im Namen des Präsidenten dieser Behörde erstattete Stellungnahme des deutschen Bundeskartellamts vom 28. 6. 2019, wonach die beiden Bußgeldbescheide vom 18. 2. 2014 nur den deutschen Markt bzw „allein Deutschland“ betroffen hätten und bei der Bemessung der Geldbuße – entsprechend den Bußgeldleitlinien des Bundeskartellamts – nur auf die Inlandsumsätze der betroffenen Unternehmen abgestellt worden sei (was sich den Beschlüssen selbst jedoch nicht entnehmen lässt). Sanktioniert würden bei grenzüberschreitenden Kartellabsprachen stets nur die inländischen Auswirkungen eines Kartells (also jene auf den deutschen Markt).

[47] Wenngleich es sich bei dieser Stellungnahme nur um eine nachträgliche Interpretation der beiden Bußgeldbescheide handelt, so kommt der Auslegung einer Entscheidung durch jene Behörde, welche diese erließ, für die Beurteilung deren Reichweite doch erhebliche Bedeutung zu. Dass die von der Rekurswerberin vorgelegte Stellungnahme im Rekursverfahren vor dem Obersten Gerichtshof als Kartellobergericht zu berücksichtigen ist, ergibt sich schon daraus, dass der EuGH in seiner zum vorliegenden Verfahren ergangenen Entscheidung (Rn 42) auf die Möglichkeit des vorlegenden Gericht hinwies, mit Unterstützung der nationalen Wettbewerbsbehörde bei der Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats Zugang zu Informationen über den Inhalt einer von dieser erlassenen Entscheidung beantragen zu können (vgl auch Rn 45 und 47: „Würdigung aller relevanten Umstände“).

[48] 1.3.4. Entgegen dem Standpunkt der Erstantragsgegnerin in ihrer Rekursbeantwortung ergibt sich die Identität zwischen dem vom Erstgericht festgestellten Verstoß im Zusammenhang mit dem Telefongespräch vom 22. 2. 2006 und „dem Umfang des Bußgeldbescheids des Bundeskartellamts“ nicht daraus, dass es sich – wovon das Erstgericht im angefochtenen Beschluss ausgegangen sei – bei der Abrede vom 22. 2. 2006 um eine „Ausführungsabrede zur in Deutschland bestehenden Marktaufteilungsvereinbarung“ gehandelt habe. Es bezog sich nämlich nur die von der Zweitantragsgegnerin in den Raum gestellte Drohung mit Konsequenzen für den wettbewerblichen Frieden auf den deutschen Markt, das Ansinnen der Zweitantragsgegnerin, die slowakische Tochtergesellschaft der Erstantragsgegnerin möge weitere Exporte nach Österreich unterlassen, betraf hingegen unzweifelhaft den österreichischen Markt und war damit nicht Gegenstand der deutschen Bußgeldbescheide.

[49] 1.3.5. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass das Doppelbestrafungsverbot (der Grundsatz des „ne bis in idem“) im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung kommt.

2. Zur Erstantragsgegnerin

2.1. Gegenstand des Rekursverfahrens

[50] Die Antragstellerin strebt in ihrem Rekurs nur mehr die Feststellung an, dass die Erstantragsgegnerin aufgrund der im Telefongespräch vom 22. 2. 2006 zwischen der Erst- und der Zweitantragsgegnerin getroffenen Vereinbarung gegen Art 101 AEUV (ex Art 81 EG) und § 1 KartG sowie § 9 KartG iVm § 18 KartG verstoßen habe. Ihren Vorwurf, sie habe durch Verhaltensweisen der für sie handelnden Personen auch davor und danach wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen getroffen, hält sie im Rechtsmittel nicht mehr aufrecht. Damit erfolgte entgegen dem Standpunkt der Zweitantragsgegnerin keine (ihrer Ansicht nach unzulässige) Änderung des Antragsbegehrens, vielmehr bekämpft die Antragstellerin den erstinstanzlichen Beschluss nur hinsichtlich einzelner Aspekte ihres ursprünglichen Antragsvorbringens.

2.2. Zum Feststellungsbegehren

[51] 2.2.1. DieRekurswerberinwendet sich gegen die Rechtsansicht des Erstgerichts, wonach der gegen die Erstantragsgegnerin gerichtete Feststellungsantrag mangels berechtigten Interesses iSd § 28 KartG 2005 (nachfolgend auch „KartG“) unzulässig sei.

[52] 2.2.2. Das Erstgericht ging davon aus, dass auf den vorliegenden Fall § 28 KartG in der Fassung vor der Novelle durch das Kartell- und Wettbewerbsrechts-Änderungsgesetz 2012 („KaWeRÄG 2012“, BGBl I 2013/13) anzuwenden sei. Mit dieser Novelle wurde in § 28 KartG ein neuer Abs 1a eingefügt, nach dessen Z 1 ein berechtigtes Interesse auch dann vorliegt, wenn die Festellung einer bereits beendeten Zuwiderhandlung gegen ein im ersten Hauptstück des KartG enthaltenes Verbot gegen einen Unternehmer (oder eine Unternehmervereinigung) begehrt wird, dem oder der die Bundeswettbewerbsbehörde – wie hier hinsichtlich der Erstantragsgegnerin – Kronzeugenstatus zuerkannt hat. Aus der Übergangsbestimmung des § 86 Abs 4 KartG ergebe sich, dass § 28 Abs 1a Z 1 KartG auf den vorliegenden Fall, in dem der Antrag der Bundeswettbewerbsbehörde vor dem 1. 3. 2013 eingebracht wurde, nicht anzuwenden sei. Dadurch sei klargestellt worden, dass der Gesetzgeber die Neureglung des § 28 Abs 1a Z 1 KartG nicht als „authentische Interpretation“ der zuvor bestehenden Gesetzeslage verstanden wissen wollte. Zur Rechtslage vor dem KaWeRÄG 2012 sei der Oberste Gerichtshof in seiner zu 16 Ok 4/09 ergangenen Entscheidung davon ausgegangen, dass der Bundeswettbewerbsbehörde kein berechtigtes Interesse an einer Feststellung gegenüber einem Unternehmen zukomme, bei dem sie im Hinblick auf die Anwendung der Kronzeugenregelung von der Beantragung einer Geldbuße Abstand genommen habe. Solange die Bundeswettbewerbsbehörde einem Unternehmen den Kronzeugenstatus zuerkenne, könne sie nicht gleichzeitig einen Feststellungsantrag stellen.

[53] 2.2.3. Der Oberste Gerichtshof legte dem EuGH in einem Verfahren, in dem noch die alte Rechtslage (vor dem KaWeRÄG 2012) anzuwenden war, die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die nationalen Wettbewerbsbehörden befugt sind, festzustellen, dass ein Unternehmen an einem gegen Wettbewerbsrecht der Union verstoßenden Kartell beteiligt war, wenn über das Unternehmen keine Geldbuße zu verhängen ist, weil es die Anwendung der Kronzeugenregelung beantragt hat (16 Ok 4/11).

Der EuGH beantwortete dies mit Urteil vom 18. 6. 2013, C‑681/11 , Schenker, wie folgt:

Art 101 AEUV sowie die Art 5 und 23 Abs 2 der VO (EG) Nr 1/2003 sind dahin auszulegen, dass sich die nationalen Wettbewerbsbehörden, falls das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen Art 101 AEUV erwiesen ist, in Ausnahmefällen darauf beschränken können, diese Zuwiderhandlung festzustellen, ohne eine Geldbuße zu verhängen, wenn das betreffende Unternehmen an einem nationalen Kronzeugenprogramm teilgenommen hat.“

[54] 2.2.4. Entsprechend dieser Vorgabe ging der Oberste Gerichtshofim Anlassverfahren zu 16 Ok 4/13 davon aus, dass ein – dort sowohl auf das Kartellverbot des § 1 KartG als auch auf das unionsrechtliche Kartellverbot des Art 101 AEUV gestützter – Feststellungsantrag auch ohne Antrag auf Verhängung einer Geldbuße gegen eine Antragsgegnerin, welcher der Kronzeugenstatus zuerkannt wurde, zulässig sei (vgl auch Reidlinger/Hartung, Das Österreichische Kartellrecht4[2019] 228 FN 48). Die Begründung des Erstgerichts trägt die Abweisung des gegen die Erstantragsgegnerin gerichteten Antrags somit nicht.

[55] 2.2.5. Unklar erscheint in diesem Zusammenhang die Reichweite der Entscheidung zu 16 Ok 1/15f, wonach sich die Feststellungsbefugnis des § 28 (dort Abs 2) KartG nur auf den Bereich dieses Gesetzes beziehe und ein Verstoß gegen Art 101 AEUV vom Kartellgericht nicht festgestellt werden dürfe. Eine nähere Begründung enthält diese nicht, vielmehr verweist sie nur auf die Entscheidung zu 16 Ok 19/04, die aber ein „negatives“ Feststellungsbegehren (Feststellung, dass kein Kartelltatbestand iSd des Art 81 EG [nunmehr Art 101 AEUV] vorliegt) betraf. Eine solche Feststellung ist nach Art 10 VO Nr 1/2003 unzweifelhaft der Kommission vorbehalten (vgl EuGH 3. 5. 2011, C‑375/09 , Tele2 Polska, insb Rn 24 ff). Dass es einer nationalen Wettbewerbsbehörde verboten wäre, einen Verstoß gegen europäisches Wettbewerbsrecht positiv festzustellen, kann daraus nicht zwingend geschlossen werden.

[56] In der Literatur ist das Verhältnis von § 28 KartG zum europäischen Kartellrecht strittig. Nach Reidlinger/Hartung (aaO 229) umfasst die Feststellungsbefugnis nach § 28 KartG auch positive Feststellungsentscheidungen hinsichtlich der Verbotstatbestände des europäischen Wettbewerbsrechts. Diese Ansicht wird von Solé/A. Kodek/Völkl-Torggler (Das Verfahren vor dem Kartellgericht² [2019] Rz 495) nicht geteilt. Vartian/Schuhmacher (in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² [2016] § 28 KartG Rz 16) gehen davon aus, dass nach dieser Bestimmung „insbesondere“ keine gemeinschaftsrechtlichen „Negativatteste“ erlassen werden dürfen. Nach Lager/Petsche (in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² [2016] § 83 KartG Rz 7) sind die nationalen Behörden nicht berechtigt, „Nichtanwendungsentscheidungen“ zu erlassen, mit denen ein Verstoß gegen europäisches Wettbewerbsrecht verneint wird.

[57] Im vorliegenden Fall muss auf diese Meinungsdivergenz für die Beurteilung des (auch) auf einen Verstoß gegen Art 101 AEUV gegründeten Feststellungsbegehrens aber nicht näher eingegangen werden, weil der EuGH in der genannten Entscheidung vom 18. 6. 2013, C‑681/11 , Schenker, bindend (vgl RS0110582; RS0111726 [T1]) klarstellte, dass sich die nationale (österreichische) Wettbewerbsbehörde jedenfalls dann darauf beschränken könne, eine Zuwiderhandlung gegen diese Bestimmung festzustellen, wenn sie – wie hier – gegenüber einem Unternehmen, das an einem nationalen Kronzeugenprogramm teilgenommen hat, auf die Verhängung einer Geldbuße verzichtet. Der von der Antragstellerin erhobene Feststellungsantrag ist daher auch insoweit zulässig, als er sich auf eine wettbewerbswidrige Vereinbarung iSd § 101 AEUV (und nicht nur auf eine solche nach § 1 KartG) bezieht.

[58] 2.2.6. Für die begehrte Feststellung, dass die Erstantragsgegnerin (aufgrund des Telefongesprächsvom 22. 2. 2006) auch gegen § 9 iVm § 18 KartG 1988 verstoßen habe, besteht hingegen keine gesetzliche Grundlage, weil diese Bestimmungen gemäß § 87 Abs 1 KartG (mit BGBl I 2008/2 wurde diese Bestimmung im Rahmen einer Rechtsbereinigung „als nicht mehr geltend“ festgestellt) mit 31. 12. 2005, sohin vor dem inkriminierten Wettbewerbsverstoß vom 22. 2. 2006, außer Kraft traten. Insoweit erfolgte die Abweisung des Feststellungsbegehrens durch das Erstgericht im Ergebnis also zu Recht. Der angefochtene Beschluss ist in diesem Umfang (in Punkt 1) zu bestätigen.

2.3. Wettbewerbswidrige Vereinbarung

[59] 2.3.1. Gemäß § 1 Abs 1 KartG sind Vereinbarungen zwischen Unternehmern, Beschlüsse von Unternehmervereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken, verboten. Dieses Verbot umfasst nach Abs 2 Z 3 leg cit insbesondere eine Aufteilung der Märkte.

[60] Nach Art 101 AEUV (vormals Art 81 EG) sind mit dem Binnenmarkt alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken, unvereinbar und verboten. Dies gilt nach Z 1 leg cit insbesondere für Vereinbarungen, welche eine Aufteilung der Märkte bezwecken oder bewirken. Das für die Anwendbarkeit des Art 101 AEUV erforderliche Kriterium der Zwischenstaatlichkeit ist weit zu verstehen (16 Ok 7/15p mwN) und hier schon aufgrund der angestrebten Beschränkung des Imports von Zucker aus einem Mitgliedstaat (Slowakei) in einen anderen (Österreich) erfüllt (vgl Wollmann in Jaeger/Stöger [Hrsg], EUV/AEUV Art 101 AEUV [2019] Rz 109; nach 6 Ob 105/19p erfüllt eine Vereinbarung über eine horizontale Zusammenarbeit, die sich auf mehrere Mitgliedstaaten erstreckt, jedenfalls das Kriterium der Zwischenstaatlichkeit).

[61] Mit Ausnahme des Tatbestandsmerkmals der Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten deckt sich § 1 KartG mit Art 101 AEUV bzw vormals Art 81 EG (16 Ok 51/05).

[62] 2.3.2. Der Begriff der „Vereinbarung“ wird weder in Art 101 AEUV noch in § 1 KartG definiert. Er ist nach herrschender Ansicht weit auszulegen. Eine Vereinbarung im Sinn der genannten Bestimmungen liegt bereits dann vor, wenn die Parteien ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck gebracht haben, sich auf dem Markt in einer bestimmten Weise zu verhalten (6 Ob 105/19p; 6 Ob 166/19h mwN). Eine bindende Wirkung ist nicht erforderlich (vgl Lager/Petsche in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² [2016] § 1 KartG Rz 18 mwN). Fordert ein Unternehmen ein anderes zu einem bestimmten Verhalten auf, liegt darin ein Angebot zum Abschluss einer Vereinbarung. Einer ausdrücklichen Annahmeerklärung steht die tatsächliche Befolgung der Aufforderung gleich (Schröter / Voet van Vormizeelein Schröter / Jakob / Klotz / Mederer , Europäisches Wettbewerbsrecht², 265 mwN; vgl auch Gugerbauer, Die kartellrechtliche Bankenbereichsausnahme im EWR, ÖBA 1992, 770 [777]).

[63] 2.3.3. Im Rechtsmittelverfahren ist – wie dargelegt – nur mehr das Telefongespräch vom 22. 2. 2006 zwischen den Vertriebsleitern der Erst- und Zweitantragsgegnerinnen auf seine Wettbewerbswidrigkeit zu beurteilen. Der Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin ließ nach den erstinstanzlichen Feststellungen in diesem Telefonat seine Verärgerung über ein Eindringen der Tochtergesellschaft der Erstantragsgegnerin in den österreichischen Markt erkennen und deutete mögliche Konsequenzen für den deutschen Markt an, was den Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin, der darin ein Risiko für den „wettbewerblichen Frieden“ auf dem deutschen Markt erkannte, dazu veranlasste, dem Vertriebsverantwortlichen der slowakischen Tochtergesellschaft den erkennbaren Wunsch nach einer „Nichtausdehnung“ der Exporte nach Österreich nahezulegen. Letzterer fasste dies als „Weisung der Konzernzentrale“ auf. In weiterer Folge exportierte die slowakische Tochtergesellschaft deutlich weniger Industriezucker nach Österreich als dies ursprünglich geplant war.

[64] Das Ansinnen des Vertriebsleiters der Zweitantragsgegnerin kann nur so verstanden werden, dass er von der Erstantragsgegnerin verlangte, dass sich ihre Tochtergesellschaft aus dem österreichischen Markt „fernhalte“ und die Erstantragsgegnerin sonst mit „Reaktionen“ auf dem deutschen Markt, auf dem die beiden Antragsgegnerinnen ihre jeweiligen Kernabsatzgebiete bisher „respektierten“, rechnen müsse. Da die Erstantragsgegnerin ihre Tochtergesellschaft in weiterer Folge „anwies“, ihre Exporte nach Österreich nicht auszudehnen und diese dem insoweit nachkam, als sie die Exportmengen verringerte, liegt zweifellos eine Vereinbarung iSd Art 101 AEUV bzw § 1 Abs 1 KartG über die Aufteilung des österreichischen Markts vor.

2.4. Auswirkung auf den Markt

[65] Marktbeschränkungen sind schwerwiegendste Verstöße gegen § 1 KartG und Art 101 AEUV. Sie stellen grundsätzlich bezweckte Beschränkungen des Wettbewerbs dar (RS0120917) und sind verboten, ohne dass es auf die tatsächlichen Auswirkungen des wettbewerbswidrigen Verhaltens ankäme (vgl RS0120477; siehe auch 16 Ok 51/05). Solche Kernbeschränkungen gelten unabhängig vom Marktanteil der beteiligten Unternehmen als „spürbar“ (vgl EuGH 13. 12. 2012, C‑226/11 , Expedia , Rn 37; Wollmann in Jaeger/Stöger [Hrsg], EUV/AEUV Art 101 AEUV [2019] Rz 81; vgl zu diesem Kriterium allgemein RS0106875).

[66] Im vorliegenden Fall kann auch aufgrund des Marktanteils der Drittantragsgegnerin als Tochtergesellschaft der Zweitantragsgegnerin auf dem österreichischen Markt (aus den erstinstanzlichen Feststellungen ergibt sich, dass dieser überwiegend von ihr beliefert wurde; „Quasi-Monopolstellung der Drittantragsgegnerin“) kein Zweifel an der „Spürbarkeit“ der festgestellten Abrede bestehen.

2.5. Landwirtschaftliches Erzeugnis

[67] 2.5.1. Das Erstgericht ging davon aus, dass den Antragsgegnern keine Bereichsausnahme für Erzeugerbetriebe landwirtschaftlicher Erzeugnisse zugute komme.

[68] 2.5.2. Gemäß Art 209 der VO (EU) Nr 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der VO (EWG) Nr 922/72, (EWG) Nr 234/79, (EG) Nr 1037/2001 und (EG) Nr 1234/2007 findet Art 101 Abs 1 AEUV grundsätzlich keine Anwendung auf Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von (insbesondere) landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben, Vereinigungen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben oder Vereinigungen dieser Erzeugervereinigungen, soweit sie (unter anderem) die Erzeugung oder den Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse betreffen, wobei dies nicht für Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen gilt, wenn diese zu einer Preisbindung verpflichten oder den Wettbewerb ausschließen. Die Bereichsausnahme gilt auch nicht, wenn dadurch die Ziele des Art 39 AEUV gefährdet würden.

[69] Vergleichbare Bestimmungen fanden sich in Art 2 der VO (EG) Nr 1184/2006 des Rates vom 24. Juli 2006 zur Anwendung bestimmter Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und den Handel mit diesen Erzeugnissen sowie in Art 2 der zum Zeitpunkt des von der Antragstellerin behaupteten Kartellverstoßes am 22. 2. 2006 geltenden Vorgängerbestimmungen der Verordnung Nr 26 des Rats der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 4. 4. 1962 zur Anwendung bestimmter Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und den Handel mit diesen Erzeugnissen.

[70] Rübenzucker ist in Anhang I zu § 38 AEUV (dort zu Punkt 17.01) als landwirtschaftliches Erzeugnis genannt.

[71] Gemäß § 2 Abs 2 Z 5 KartG sind Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben, Vereinigungen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben oder Vereinigungen von solchen Erzeugervereinigungen über die Erzeugung oder den Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse vom Kartellverbot des § 1 KartG ausgenommen. Diese Bestimmung dient der Angleichung des innerstaatlichen Rechts an die europäischen Bereichsausnahmen (RV 926 BlgNR 22. GP 5).

[72] 2.5.3. Das Kartellobergericht schließt sich der Rechtsansicht des Erstgerichts, wonach die Bereichsausnahme für landwirtschaftliche Erzeugerbetriebe (bzw die in den vorstehenden Bestimmungen genannten Vereinigungen) auf die Antragsgegnerinnen nicht anzuwenden ist, an (§ 71 Abs 3 AußStrG).

[73] Der Anwendungsbereich des Art 209 der VO (EU) Nr 1308/2013 bzw der vergleichbaren Vorgängerbestimmungen ist eng auszulegen (Wollmann in Jaeger/Stöger[Hrsg], EUV/AEUV Art 101 AEUV [2019] Rz 18). Dass die von den landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben unabhängigen Verarbeitungsunternehmen und somit auch die Antragsgegnerinnen als zuckerproduzierende Unternehmen unter diese Ausnahmebestimmung fallen sollten, kann dem europäischen Gesetzgeber schon deshalb nicht unterstellt werden, weil es sich beim landwirtschaftlichen Sektor um keinen wettbewerbsfreien Raum handelt und die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf den Märkten für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu den Zielen der gemeinsamen Agrarpolitik und der gemeinsamen Marktorganisation zählt (vgl EuGH, Rs C-137/00 , Milk Marque, Rz 61; Rs C-671/15 , APVE ua, Rz 47 f). Der Grund für die besondere Behandlung der Landwirtschaft ist die „besondere Eigenart der landwirtschaftlichen Tätigkeit“, die unter anderem auch darin zum Ausdruck kommt, dass mehrere kleine Hersteller in der Regel marktmächtigen Abnehmern gegenüberstehen (vgl Gruber, Wettbewerb in der Landwirtschaft - Teil I, ÖZK 2009, 132 [135]). Dies trifft auf die Antragsgegnerinnen als zuckerproduzierende (Industrie‑)Unternehmen aber gerade nicht zu.

[74] Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass sich die Erstantragsgegnerin auch gar nicht auf eine Bereichsausnahme für landwirtschaftliche Erzeugnisse berief. Eine Anwendung dieser Ausnahme wurde auch im deutschen Wettbewerbsverfahren nicht erwogen.

2.6. Ergebnis

[75] Zusammengefasst wies das Erstgericht das gegen die Erstantragsgegnerin gerichtete Feststellungsbegehren hinsichtlich des Telefonats vom 22. 2. 2006 (im Hinblick auf § 1 KartG 2005 und Art 1 AEUV) zu Unrecht ab. Die angefochtene Entscheidung ist daher insoweit abzuändern, als festgestellt wird, dass – worauf die Antragstellerin ihr Begehren bereits in erster Instanz stützte –die Erstantragsgegnerin im Telefongespräch vom 22. 2. 2006 mit der Zweitantragsgegnerin eine kartellrechtswidrige Absprache getroffen und dadurch Art 101 AEUV (ex Art 81 EG) und § 1 KartG 2005 zuwidergehandelt hat. Soweit auch die Feststellung eines Verstoßes gegen § 9 iVm § 18 KartG 1988 angestrebt wird, ist die erstinstanzliche Entscheidung hingegen zu bestätigen.

3. Zur Zweitantragsgegnerin

[76] 3.1. Wie dargelegt, wies das Erstgericht den gegen die Zweitantragsgegnerin gerichteten Antrag auf Verhängung eines Bußgeldes zu Unrecht wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz „ne bis in idem“ ab.

[77] 3.2. Die Ausführungen zum Kartellverstoß der Erstantragsgegnerin aufgrund des Telefonats ihres Vertriebsleiters mit dem Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin gelten auch für die Beurteilung eines solchen Verstoßes durch die Zweitantragsgegnerin. Diese trat aktiv an die Erstantragsgegnerin heran und drohte ihr mit einer Reaktion auf dem deutschen Markt, wenn sich ihre slowakische Tochtergesellschaft nicht aus dem österreichischen Markt zurückziehe. Damit ist auch ihr ein Verstoß gegen das europäische und österreichische Kartellverbot vorzuwerfen, was diese in ihrer Rekursbeantwortung nicht bestreitet.

[78] 3.3. Zur Bereichsausnahme für landwirtschaftliche Erzeugnisse ist auf die Ausführungen zum Wettbewerbsverstoß der Erstantragsgegnerin zu verweisen. Auch die Zweitantragsgegnerin berief sich nicht auf diese Ausnahme.

[79] 3.4. Das Erstgericht hat sich mit der Frage, ob und in welchem Umfang über die Zweitantragsgegnerin aufgrund des ihr anzulastenden Kartellverstoßes eine Geldbuße zu verhängen ist, aufgrund seiner vom Rekursgericht nicht geteilten Rechtsansicht zur Anwendbarkeit des Grundsatzes „ne bis in idem“ nicht auseinandergesetzt. Es traf daher keine ausreichenden Feststellungen zu den für die Bemessung der Geldbuße maßgeblichen Kriterien. Der angefochtene Beschluss ist daher hinsichtlich der Zweitantragsgegnerin zur weiteren Verfahrensergänzung (nur) betreffend die Festlegung der Höhe einer zu verhängenden Geldbuße aufzuheben.

3.5. Im fortgesetzten Verfahren wird insbesondere Folgendes zu berücksichtigen sein:

[80] Gegen einen Unternehmer, der vorsätzlich oder fahrlässig dem Kartellverbot (§ 1 KartG 2005) zuwiderhandelt oder gegen Art 101 AEUV verstößt, hat das Kartellgericht eine Geldbuße bis zu einem Höchstbetrag von 10 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes zu verhängen (§ 29 Z 1 lit a und d KartG 2005). Der Oberste Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass der Geldbuße nach dem Willen des Gesetzgebers Präventionsfunktion zukommt (16 Ok 2/15b unter Berufung auf die Materialien ErläutRV 1005 BlgNR 21. GP  32). Nur eine angemessen hohe Geldbuße kann abschreckende Wirkung erzielen (16 Ok 4/07; 16 Ok 5/08 mwN; 16 Ok 4/09; 16 Ok 2/15b). Auch die Leitlinien der Kommission für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Art 23 Abs 2 Buchstabe a) der VO (EG) Nr 1/2003, Abl C 210 vom 1. 9. 2006 (LL Geldbußen), weisen darauf hin, dass Geldbußen eine ausreichend abschreckende Wirkung zu entfalten haben (Einleitung Z 7; Rz 30, 37). Der Zweck der Geldbußen besteht nämlich darin, unerlaubte Verhaltensweisen zu ahnden sowie der Wiederholung unabhängig davon vorzubeugen, ob das Verhalten noch andauert oder dessen Wirkungen noch bestehen (16 Ok 4/07).

[81] Eine Kartellstrafe kann nur dann abschreckend wirken, wenn die Höhe und Wahrscheinlichkeit der Strafe den zu erwartenden Kartellgewinn übersteigt (16 Ok 2/15b unter Hinweis auf LL Geldbußen Rz 31). Zutreffend wird daher in der Literatur ausgeführt, die theoretisch optimale Höhe der Geldbuße für einen materiell-rechtlichen Wettbewerbsverstoß sei der Betrag des erlangten Gewinns zuzüglich einer Marge, die garantiert, dass die Zuwiderhandlung nicht Folge eines rationalen Kalküls ist (Bechthold/Bosch/Brinker, EU‑Kartellrecht³ [2014], VO Nr I/2003 Art 23 Rz 30; 16 Ok 5/08; 16 Ok 2/15b).

[82] Die Festsetzung einer kartellrechtlichen Geldbuße ist eine Ermessensentscheidung, bei der neben den – nicht taxativ aufgezählten – gesetzlichen Bemessungsfaktoren die Umstände des Einzelfalls und der Kontext der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen sind (16 Ok 2/15b). Es handelt sich dabei um eine rechtliche und wirtschaftliche Gesamtwürdigung aller Umstände und nicht um das Ergebnis einer schlichten Rechenoperation auf Grundlage etwa des Gesamtumsatzes (16 Ok 3/06; 16 Ok 4/07; 16 Ok 8/07 SZ 2008/5; 16 Ok 5/08; 16 Ok 4/09; 16 Ok 2/13; 16 Ok 2/15b; RS0130389).

[83] Eine sinngemäße Anwendung der LL Geldbußen ist dabei lediglich insofern unbedenklich, als sich das Kartellgericht an der europäischen Geldbußenpraxis orientiert, ohne dabei jedoch das eigenständige inländische Sanktionensystem zu missachten und eigene Überlegungen zu vernachlässigen (16 Ok 4/07Europay; 16 Ok 5/08 – Aufzugskartell OZK 2008, 224 [Lukaschek] = ÖBl 2009/25 [Hoffer/Innerhofer]).

[84] Ein wichtiger Unterschied betrifft die Frage, welcher Umsatz als Basis für die Ermittlung der Höhe der Geldbuße heranzuziehen ist. Nach der Rechtsprechung ist nach dem klaren Gesetzeswortlaut auf den Gesamtumsatz im letzten Jahr des Zuwiderhandelns abzustellen (16 Ok 4/09 – Industriechemikalien; 16 Ok 2/15b). Gesamtumsatz ist der weltweite Umsatz des unmittelbar an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmers, wobei die Berechnungsbestimmung des § 22 KartG 2005 heranzuziehen ist. Für die Bemessungsgrundlage ist demnach nicht nur der Umsatz des unmittelbar an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmens heranzuziehen, sondern es sind auch die Umsätze derjenigen Unternehmer zu berücksichtigen, an denen der unmittelbar beteiligte Unternehmer eine Beteiligung inne hat. Aufgrund der Bestimmung über die Berechnung von Umsatzerlösen in § 22 KartG 2005 gelten Unternehmen, die iSd § 7 KartG 2005 verbunden sind, als ein einziges Unternehmen. Abgestellt wird auf den Gesamtumsatz im der Zuwiderhandlung vorausgegangenen Geschäftsjahr (16 Ok 7/15p mwN).

[85] Für die Bemessung der Höhe der Geldbuße sind unter anderem der räumliche Umfang des vom Wettbewerbsverstoß betroffenen Markts, die kumulierten Marktanteile der beteiligten Unternehmen, die Art des Verstoßes und der Grad des Verschuldens wichtige Bemessungsfaktoren (RS0122743 [T1] = 16 Ok 5/10). Darüber hinaus ist auch auf die durch die Rechtsverletzung erzielte Bereicherung und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des dem Kartellverbot Zuwiderhandelnden Bedacht zu nehmen; ebenso auf seine Mitwirkung an der Aufklärung der Rechtsverletzung (16 Ok 7/15p). Auch Erschwerungs- und Milderungsgründe sind zu berücksichtigen (16 Ok 2/15b).

[86] Der Deutlichkeit halber ist darauf zu verweisen, dass die Entscheidung 16 Ok 2/15b, in der die Geldbuße in Höhe von 3,5 % der gesetzlichen Obergrenze verhängt wurde, keineswegs einer Verallgemeinerung zugänglich ist. Vielmehr sollte durch diese Entscheidung, mit der die vom Erstgericht verhängte Geldbuße verzehnfacht wurde, klargestellt werden, dass auch in Österreich zur wirksamen Bekämpfung von Kartellverstößen Geldbußen in einer Größenordnung zu verhängen sind, wie sie auf Unionsebene und in zahlreichen Mitgliedstaaten bereits seit langem üblich ist.

[87] Im konkreten Fall wird insbesondere zu beurteilen sein, ob und in welchem Zeitraum sich die (einmalige) wettbewerbswidrige Abrede vom 22. 2. 2006 auswirkte, welcher Markt davon betroffen war und in welchem Umfang daher allenfalls konkrete Lieferungen nach Österreich unterblieben. Da sohin erhebliche Tatsachen noch nicht abschließend geklärt sind, war insoweit spruchgemäß mit Aufhebung des angefochtenen Beschlusses vorzugehen.

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