European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0120OS00056.20G.1207.000
Spruch:
Der Antrag auf Wiedereinsetzung und die Nichtigkeitsbeschwerde werden zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Innsbruck zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Gründe:
Mit dem angefochtenen, auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden Urteil wurde Soner Ö***** des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB schuldig erkannt.
Danach hat er am 6. Februar 2019 in D***** Alexander A***** vorsätzlich getötet, indem er ihm mit einem Messer von etwa 20 cm Klingenlänge einen wuchtigen Stich in den Brustbereich versetzte, sodass die Klinge das Brustbein durchstieß und die Aorta verletzte und in weiterer Folge mehrfach mit dem Messer auf dessen Oberkörper und Halsbereich einstach und ihn im Kinnbereich schnitt, sodass Alexander A***** aufgrund des hohen Blutverlusts verstarb.
Rechtliche Beurteilung
Zum Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand:
Gemäß §§ 344, 285 Abs 1 StPO ist nur eine Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde vorgesehen. Weder vor noch nach Ablauf der Ausführungsfrist kann daher der Nichtigkeitswerber seine Beschwerde durch die Geltendmachung weiterer Verfahrens‑ und Begründungsmängel ergänzen (RIS‑Justiz RS0100152 [insbesondere T5, T11]; Ratz, WK‑StPO § 285 Rz 6 f). Umso weniger ist zur Ergänzung der Nichtigkeitsbeschwerde Wiedereinsetzung möglich (RIS‑Justiz RS0100152 [T9]).
Der Antrag war daher als unzulässig zurückzuweisen.
Zur Nichtigkeitsbeschwerde:
Der auf § 345 Abs 1 Z 1, 2, 5, 9, 10a und 13 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten kommt keine Berechtigung zu.
Die einleitenden – (nur) nominell auf § 345 Abs 1 Z 5 StPO gestützten – weitwendigen Ausführungen zu der nach Ansicht des Beschwerdeführers vorliegenden „Menschenrechtswidrigkeit des Verfahrens als Ganzes“ orientieren sich, wie er selbst einräumt, nicht an den Kriterien der Nichtigkeitsgründe und entziehen sich solcherart einer inhaltlichen Erwiderung.
Zufolge des Grundsatzes der Einmaligkeit der Rechtsmittelausführung ist auf das in der „Ergänzung der Nichtigkeitsbeschwerde“ unter dem Aspekt der Z 1 des § 345 Abs 1 StPO erstattete Vorbringen nicht einzugehen (erneut RIS‑Justiz RS0100152 [insbes T5, T11]).
Die – ohne Angabe der Fundstelle des kritisierten Vorgangs im Akt (vgl aber RIS‑Justiz RS0124172) – erhobene Verfahrensrüge (Z 5) sieht in der „Verwendung“ des Protokolls über die kriminalpolizeiliche Vernehmung des Angeklagten einen Verstoß gegen Art 6 Abs 3 lit c MRK, weil dieser seinerzeit nicht durch einen Verteidiger vertreten gewesen sei und auf einen Verteidiger nicht habe rechtswirksam verzichten können.
Sie verfehlt schon deshalb ihr Ziel, weil unabdingbare Voraussetzung einer erfolgversprechenden Rüge aus Z 5 ein Antrag oder ein nach Art von Anträgen substantiierter Widerspruch ist (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 302), ein solcher jedoch (zu Recht) nicht einmal behauptet wird (vgl hingegen ON 213 S 29, wonach der Angeklagte einem Vortrag analog § 252 Abs 2a StPO [iVm § 308 Abs 1 StPO] ausdrücklich zustimmte).
Im Übrigen besteht nach § 61 Abs 1 Z 1 StPO (vor Verhängung der Untersuchungshaft) gerade kein Verteidigerzwang. Unter dem Aspekt des Art 6 Abs 3 lit c MRK ist es nur erforderlich (aber auch ausreichend), dass dem Beschuldigten bereits anlässlich seiner ersten polizeilichen Vernehmung Zugang zu einem Anwalt gewährt wird (Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 24 Rz 125). Dass der Angeklagte in seinem Recht auf Kontaktaufnahme mit einem Verteidiger oder auf dessen Beiziehung (vgl § 59 Abs 1 und Abs 4 StPO) beschränkt worden wäre, wird vom Beschwerdeführer – der nach Belehrung durch die Kriminalpolizei ausdrücklich auf dieses Recht verzichtete (§ 59 Abs 1 StPO; ON 84 S 619) – hingegen (zu Recht) nicht behauptet.
Weshalb „diese Rechtsverletzung“ „auch Nichtigkeit nach der Ziffer 2 des § 345 StPO“ begründen sollte, legt die Beschwerde nicht dar (§§ 344, 285 Abs 1, 285a Z 2 StPO).
Mit der Behauptung, die Bestellung eines – nach Ansicht des Beschwerdeführers – „unerfahrenen“ Verfahrenshilfeverteidigers (zu Beginn des Ermittlungsverfahrens) stelle einen Verstoß gegen Art 6 Abs 3 lit c MRK dar, wird kein Nichtigkeitsgrund angesprochen.
Der unter der Überschrift „Sachverständigengutachten“ aus § 345 Abs 1 Z 5 StPO vorgetragenen Kritik liegt – wenngleich ohne Nennung einer Aktenfundstelle (vgl aber RIS‑Justiz RS0124172) – nur in Ansehung der unterbliebenen Teilnahme des psychiatrischen Sachverständigen Univ.‑Prof. Dr. H***** an der gesamten Hauptverhandlung ein (auf dessen Teilnahme gerichteter) Antrag des Beschwerdeführers samt ablehnender Entscheidung des Schwurgerichtshofs zugrunde (ON 213 S 3 ff, 9; siehe auch ON 214 S 19). Die weiteren Anträge (im Zusammenhang mit behaupteter struktureller und „inhaltlicher“ Befangenheit des Sachverständigen) hat der Angeklagte in der Hauptverhandlung am 21. Jänner 2020 ausdrücklich zurückgezogen (ON 214 S 3, 19), sodass Letztere als Grundlage einer Verfahrensrüge ausscheiden.
Den Antrag, den Sachverständigen „zur gesamten Hauptverhandlung, insbesondere auch zur Vernehmung des Angeklagten zu laden“ (und die Verhandlung bis dahin zu vertagen), stellte der Beschwerdeführer zum Beweis dafür, dass beim Angeklagten „eine ungewöhnliche Abbaureaktion und ein Affektstau vorgelegen hat“. Die Hauptverhandlung sei „die einzige und erste Gelegenheit, den Angeklagten in kontradiktorischer und mündlicher Verhandlung anzuhören und anschließend ein unabhängiges Gutachten zu erstatten“. Die Anwesenheit des Sachverständigen (bereits während der Vernehmung des Angeklagten) sei auch deshalb erforderlich, weil sich daraus ergeben werde, dass „das Verhalten des Angeklagten nach der Tat nach einem Overkill in einem totalen Erschöpfungszustand und Emotionslosigkeit keine Grundlage für sein Motiv vor und während der Tatausführung sein kann“ (ON 213 S 4).
Ergänzend führte der Verteidiger – über Aufforderung durch den Vorsitzenden des Schwurgerichts‑ hofs – noch aus, die Anwesenheit sei relevant, „weil der Angeklagte bereits bei seiner ersten förmlichen Vernehmung durch die Kriminalpolizei erklärt hat, dass er keinen Tötungsvorsatz hatte, sondern das Opfer nur verletzen wollte“, und weil dem bisherigen Sachverständigen „nicht sämtliche Entscheidungsgrundlagen durch die Staatsanwaltschaft vorgelegt wurden und diese heute [in der Hauptverhandlung am 20. Jänner 2020] erörtert werden“ (ON 213 S 4 f).
Durch die Abweisung des Antrags wurde der Angeklagte – der Beschwerde zuwider – nicht in seinen Verteidigungsrechten verletzt.
Denn das Vorbringen ließ weder erkennen, weshalb die Ladung des Sachverständigen „zur gesamten Hauptverhandlung, insbesondere auch zur Vernehmung des Angeklagten“, somit dessen (bloße) Anwesenheit geeignet sein soll, eine „ungewöhnliche Abbaureaktion und einen Affektstau“ beim Angeklagten (zum Tatzeitpunkt) zu beweisen. Zudem wird nicht deutlich, weshalb das angeführte Beweisthema Rückschlüsse auf die subjektive Tatseite zulassen sollte.
Den Beweisantrag ergänzende Beschwerdekritik hat aufgrund des sich aus dem Wesen des geltend gemachten Nichtigkeitsgrundes ergebenden Neuerungsverbots auf sich zu beruhen (RIS‑Justiz RS0099618, RS0099117).
Anzumerken bleibt, dass ein Recht des Beschwerdeführers „auf zumindest parteienöffentliche Befundaufnahme“ der Rüge zuwider nicht besteht (vgl RIS‑Justiz RS0123608 [T3], RS0096652; Hinterhofer, WK‑StPO § 127 Rz 16) und es dem Angeklagten im Übrigen frei stand, den Sachverständigen nicht nur zu dessen Befund und Gutachten zu befragen, sondern ihn auch im Zuge dieser Befragung mit der Verantwortung des Angeklagten zu konfrontieren.
Der Umstand, dass der Vorsitzende den Geschworenen entgegen § 322 StPO die Anklageschrift (ON 134) nicht vorlegte (ON 215 S 13), begründet für sich genommen keine Nichtigkeit. Die erfolgreiche Geltendmachung aus § 345 Abs 1 Z 5 StPO scheitert schon an unterbliebener Antragstellung des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung. Zudem ist ein für den Angeklagten nachteiliger Einfluss auf die Entscheidung gegenständlich auszuschließen (§ 345 Abs 3 StPO). Im Übrigenist – entgegen der Ansicht des Rechtsmittelwerbers – die unterbliebene Vorlage der Anklageschrift gemäß § 322 StPO nicht mit dem „Fehlen“ (oder gar dem – nur dem Ankläger zukommenden – Rücktritt von [vgl Lendl, WK‑StPO § 259 Rz 32]) einer Anklage gleichzusetzen.
Die auf Art 6 MRK gestützte Kritik, das Erstgericht habe „die Öffentlichkeit dadurch verletzt“, dass der Vorsitzende die Geschworenen „in Abwesenheit der Öffentlichkeit belehrt und instruiert“ habe, weshalb der Beschwerdeführer „auch in seinem Recht auf eine mündliche Verhandlung in entscheidenden Bereichen verletzt“ sei, lässt keinen Bezug zu den Kriterien der Nichtigkeitsgründe erkennen.
Angemerkt sei, dass Partei‑ oder Volksöffentlichkeit bei der nach § 323 StPO vorzunehmenden Rechtsbelehrung und anschließenden Besprechung der einzelnen Fragen vom Gesetz nicht vorgesehen ist (vgl RIS‑Justiz RS0100699; Świderski, WK‑StPO § 322 Rz 6).
Schlicht nicht nachvollziehbar ist das Vorbringen, dass der Wahrspruch der Geschworenen keine klare Abgrenzung „zwischen § 75 und § 76 StGB“ enthalten habe und „nach dem Text des Wahrspruchs eine Subsumtion der Tat genau so gut auch unter § 76 StGB möglich gewesen wäre“.
Der ohne Bezugnahme auf einen Nichtigkeitsgrund relevierte Umstand, dass das Referat der entscheidenden Tatsachen im Urteil (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO; ON 215 S 16, ON 216 S 3) im Gegensatz zur bejahten Hauptfrage I (ON 215 S 19, ON 216 S 1) das Wort „vorsätzlich“ nicht enthält, ist (schon deshalb) unbedenklich, weil der Vorsatz (§ 7 Abs 1 StGB) vom Gesetz subintelligiert wird (RIS‑Justiz RS0089089).
Weshalb die Rechtsbelehrung, wonach die Eventualfrage I (nach dem Verbrechen des Totschlags) nur im Falle der Verneinung der Hauptfrage (nach dem Verbrechen des Mordes) zu beantworten ist (ON 215 S 20, 37; vgl § 317 Abs 3 StPO), „wohl auch fehlerhaft“ sein soll, macht die Beschwerde (der Sache nach Z 8) nicht klar.
Der auf § 345 Abs 1 Z 9 StPO gestützte Einwand der Verletzung der Begründungspflicht geht schon vom Ansatz her fehl, weil die Geschworenen eine solche Pflicht gerade nicht trifft (§ 342 StPO; vgl [zur Verfassungskonformität] VfGH G344/2016; Świderski, WK‑StPO § 342 Rz 2) und der Nichtigkeitsgrund der Z 9 (nur) eine Undeutlichkeit, eine Unvollständigkeit oder einen inneren Widerspruch des Wahrspruchs selbst (dh auf Feststellungsebene), nicht aber den Inhalt der Niederschrift (§ 331 Abs 3 StPO) zum Gegenstand hat (vgl RIS‑Justiz RS0100945).
Der in diesem Zusammenhang erhobene Einwand, es bestünden „daher“ auch erhebliche Bedenken „gegen die wesentlichen Tatsachenfeststellungen“, lässt sowohl die für die Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes des § 345 Abs 1 Z 10a StPO gebotene Bezeichnung der betroffenen entscheidenden Tatsachen als auch die Bezugnahme auf konkretes, in der Hauptverhandlung vorgekommenes Beweismaterial vermissen (RIS‑Justiz RS0119310).
Die Sanktionsrüge (Z 13) verkennt, dass die Sanktionsfindung betreffende Tatsachen nicht Gegenstand der Fragestellung an die Geschworenen sind (Ratz, WK‑StPO § 345 Rz 20), der Wahrspruch und die (auf die Beantwortung der Fragen bezogene) Niederschrift nach § 331 Abs 3 StPO demnach als Bezugspunkt ausscheiden.
Entgegen dem weiteren Vorbringen (der Sache nach Z 13 zweiter Fall) ist die erschwerende Wertungvon – noch nicht getilgten – (Vor‑)Verurteilungen, die auf der gleichen schädlichen Neigung beruhende (großteils) Jugendstraftaten zum Gegenstand hatten, keineswegs nichtigkeitsbegründend.
Im Übrigen beschränkt sich das Vorbringen darauf, zusätzliche Milderungsgründe einzufordern und die vom Geschworenengericht herangezogenen Erschwerungsgründe (US 4) zu bestreiten, ohne eine rechtsfehlerhafte Beurteilung von Strafzumessungstatsachen (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 680) aufzuzeigen. Damit wird nur ein Berufungsvorbringen erstattet.
Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§§ 344, 285d Abs 1 StPO).
Über die Berufung des Angeklagten hat das Oberlandesgericht zu entscheiden (§§ 344, 285i StPO).
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.
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