OGH 10ObS28/18t

OGH10ObS28/18t17.4.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr.

 Neumayr als Vorsitzenden und durch die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei G*****, vertreten durch Dr. Sebastian Mairhofer und Mag. Martha Gradl, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist‑Straße 1, wegen Invaliditätspension, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 6. Dezember 2017, GZ 12 Rs 95/17b‑29, womit das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 21. September 2017, GZ 8 Cgs 271/16k‑25, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00028.18T.0417.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

 

Entscheidungsgründe:

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Frage, ob die aus der täglichen Verwendung eines privaten Kraftfahrzeugs resultierenden Fahrtkosten zum Arbeitsplatz bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer nur in Teilzeit möglichen Verweisungstätigkeit zu berücksichtigen sind.

Die 1963 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie wohnt im Mühlviertel in einer Gemeinde, in der Arbeitnehmer wegen der Abgelegenheit des Wohnorts vorwiegend und in der Regel den eigenen PKW für die Fahrt zum Arbeitsplatz benützen. Aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen ist die Klägerin nur noch in der Lage, zu einem Drittel der Arbeitszeit leichte Hebe- und Trageleistungen im Stehen, Gehen oder Sitzen zu erbringen, wobei zahlreiche weitere Einschränkungen bestehen. Aus diesen ist hervorzuheben, dass die tägliche Arbeitszeit vier Stunden und die wöchentliche Arbeitszeit zwanzig Stunden nicht überschreiten darf. Eine Verlegung des Wohnsitzes sowie Wochenpendeln ist aus medizinischen Gründen nicht möglich. Ein öffentliches Verkehrsmittel kann benutzt werden. Ohne Überschreitung ihres Leistungskalküls kann die Klägerin als Bürogehilfin/Mitarbeiterin in einer Poststelle, als kaufmännische Hilfskraft im Ein- und Verkauf sowie im Bürowesen arbeiten. Am in Frage kommenden regionalen Arbeitsmarkt sind weniger als 30 freie oder besetzte Arbeitsplätze dieser Art verfügbar. Die Klägerin verfügt über einen Führerschein für PKW und besitzt einen PKW. Sie ist gesundheitlich in der Lage, den PKW von ihrem Wohnort nach Linz und auch im Stadtverkehr in Linz zu lenken. Unter Zuhilfenahme des PKWs kann sie den Ballungsraum Linz in weniger als einer Stunde erreichen, wo ihr mehr als 30 freie oder besetzte kalkülsentsprechende Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Das bei Teilzeitbeschäftigung (vier Stunden täglich) maximal erzielbare Bruttoeinkommen in den der Klägerin offen stehenden Verweisungsberufen beträgt 883 EUR monatlich. Die Kosten der täglichen Fahrten mit einem Privat-PKW zwischen dem Wohnort der Klägerin und der Landeshauptstadt Linz betragen etwa 520 EUR monatlich. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Stadt Linz vom Wohnort der Klägerin nicht innerhalb einer Stunde erreichbar.

Mit Bescheid vom 5. 9. 2016 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab, da Invalidität nicht vorliege. Da Invalidität voraussichtlich auch in absehbarer Zeit nicht eintreten werde, bestehe auch kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation.

Das Erstgericht wies die Klage auf Invaliditätspension, in eventu auf berufliche Rehabilitationsmaßnahmen und Übergangsgeld ab. Die Klägerin, der kein Berufsschutz zukomme, sei nicht invalid, weil sie noch in der Lage sei, eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit zu verrichten. Die Benützung des Privat-PKWs für die Fahrt von ihrem Wohnort zu einem Arbeitsplatz im Ballungsraum Linz sei zumutbar, weil wegen der Abgelegenheit des Wohnorts die überwiegende Anzahl von dort ansässigen Arbeitskräften ihre eigenen Kraftfahrzeuge für die Zurücklegung des Weges zur Arbeit nutzen („Pendlergemeinde“). Das von der Klägerin bei Teilzeitbeschäftigung erzielbare Einkommen liege unter Berücksichtigung der Fahrtkosten noch bei etwa 350 EUR monatlich.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge und ließ die Revision mit der Begründung zu, es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob bei Versicherten mit abgelegenen Wohnorten die aus der Verwendung des privaten Kraftfahrzeugs resultierenden Kosten bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer nur in Teilzeit möglichen Verweisungstätigkeit zu berücksichtigen seien.

Rechtlich ging das Berufungsgericht zusammengefasst davon aus, das Erstgericht habe die Zumutbarkeit der Teilzeitbeschäftigung zutreffend bejaht. Die Klägerin sei in der Lage, ein Einkommen in der Höhe des Ausgleichszulagenrichtsatzes nach § 293 Abs 1 lit a sublit bb ASVG (2016/2017: 882,78 EUR) zu erzielen. Damit sei Tagespendeln grundsätzlich zumutbar. Jene Kosten (wie etwa Fahrtkosten), die der Versicherte bei Wahl eines abgelegenen Wohnorts in Abwägung mit Ersparnissen bzw Vorteilen in anderen Bereichen (etwa geringere Grundstücks- oder Mietkosten) bewusst in Kauf genommen habe, haben bei der zu beurteilenden Zumutbarkeit des Tagespendelns außer Betracht zu bleiben. Nur auf diese Weise sei eine Ungleichbehandlung mit jenen Versicherten vermeidbar, die infolge ihrer Wohnungsnahme in einem Ballungszentrum andere Nachteile (wie höhere Wohn- und Lebenshaltungskosten) zu tragen hätten. Die Klägerin könnte die Fahrtstrecke mit ihrem privaten PKW durch eine Kombination mit öffentlichen Verkehrsmitteln (etwa ab Bad Leonfelden) wesentlich verkürzen und damit die Fahrtkosten erheblich reduzieren, ohne die zumutbare Fahrzeit in den Ballungsraum Linz zu überschreiten.

Die Revision der Klägerin ist zur Klarstellung zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.

Die Revisionswerberin macht im Wesentlichen geltend, aufgrund der hohen Fahrtkosten sei ihr ein Tagespendeln nach Linz wirtschaftlich nicht zumutbar.

Rechtliche Beurteilung

Dazu ist auszuführen:

1.1 In § 255 Abs 3 ASVG und § 273 Abs 2 ASVG wird hinsichtlich der Verweisbarkeit eines Versicherten auf die „Lohnhälfte“ abgestellt, also darauf, ob ein Versicherter in der Lage ist, zumindest die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter in der Normalarbeitszeit regelmäßig zu erzielen pflegt („Durchschnittsverdienst“).

1.2 Auch die Verweisung eines vollzeitig beschäftigt gewesenen Versicherten auf eine Teilzeitarbeit setzt demnach voraus, dass er wenigstens die Hälfte des Entgelts eines gesunden Vollzeitbeschäftigten erzielen kann (RIS-Justiz RS0084587).

1.3 Bei einer Verweisung auf eine Teilzeittätigkeit ist für das Erreichen der Lohnhälfte vor allem von entscheidender Bedeutung, in welchem zeitlichen Ausmaß der Versicherte die jeweilige Verweisungstätigkeit noch verrichten kann (etwa zwei oder sechs Stunden). Nach der Rechtsprechung ist jedenfalls bei einer möglichen Arbeitszeit von vier Stunden täglich (oder zwanzig Stunden wöchentlich) davon auszugehen, dass die gesetzliche Lohnhälfte erzielt werden kann (10 ObS 89/07x; 10 ObS 22/03p, SSV-NF 17/30; Födermayr in SV-Komm [139. Lfg] § 255 ASVG Rz 48). In den entsprechenden Kollektivverträgen wird oftmals auf Stundenlöhne abgestellt; überdies werden Teilzeitbeschäftigte von verschiedenen nationalen und unionsrechtlichen Bestimmungen im Arbeitsrecht vor einer unzulässigen Benachteiligung gegenüber Vollzeitbeschäftigten geschützt (10 ObS 48/14b, SSV-NF 28/27).

2. Im vorliegenden Fall ist die der Klägerin mögliche Tagesarbeitszeit mit vier Stunden begrenzt. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, bei einem Bruttoeinkommen in Höhe von maximal 883 EUR monatlich sei die Klägerin imstande, 50 % jenes Lohns zu verdienen, den eine gesunde Versicherte im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung in den möglichen Verweisungsberufen üblicherweise erzielen kann, wird in der Revision nicht in Zweifel gezogen.

3. Zur Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes:

Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit nach dem ASVG ist auch dann eingetreten, wenn der Versicherte (aus medizinischen Gründen) nicht mehr imstande ist, in zumutbarer Weise einen Arbeitsplatz zu erreichen. Ob diese Voraussetzung besteht, ist eine Rechtsfrage, die ausgehend von den Tatsachenfeststellungen über die körperlichen und geistigen Einschränkungen des Versicherten zu klären ist. Es sind dazu Feststellungen erforderlich, welche Strecke der Versicherte zu Fuß zu bewältigen imstande ist, ob er in der Lage ist, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen und welche Einschränkungen dabei allenfalls bestehen (RIS-Justiz RS0085098). Nach der Rechtsprechung ist ein Versicherter so lange nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, als er ohne wesentliche Einschränkungen ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und vorher sowie nachher ohne zumutbare Pausen eine Wegstrecke von jeweils 500 m zurücklegen kann (RIS‑Justiz RS0085049). Auch dass die Klägerin – mit den im Einzelnen festgestellten Einschränkungen – gesundheitlich in der Lage ist, diesen durchschnittlichen Anforderungen hinsichtlich der Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen nachzukommen, steht nicht in Frage.

4. Strittig ist aber, ob die Klägerin aufgrund ihres abgelegenen Wohnorts imstande ist, in zumutbarer Weise einen adäquaten Arbeitsplatz zu erreichen bzw die aus der Zurücklegung des Arbeitsweges resultierenden Fahrtkosten bei Benutzung des privaten PKWs von monatlich 520 EUR – an welche Feststellung der Oberste Gerichtshof gebunden ist – die Ausübung einer Teilzeitbeschäftigung unzumutbar machen.

4.1 Bei Beurteilung dieser Frage kommt es grundsätzlich nicht auf die Verhältnisse am Wohnort des Versicherten, sondern auf die Verhältnisse am allgemeinen Arbeitsmarkt an, weil der Versicherte sonst durch die Wahl seines Wohnorts die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pension beeinflussen könnte. Ein abgelegener Wohnort des Versicherten, hat als persönliches Moment ebenso wie andere persönliche Umstände – wie etwa die mangelhafte Beherrschung der Landessprache oder die Erziehung von Kindern – bei der Beurteilung der geminderten Arbeitsfähigkeit grundsätzlich außer Betracht zu bleiben (RIS-Justiz RS0085017, RS0084871). Sofern nicht medizinische Gründe einer Wohnsitzverlegung oder dem Pendeln entgegenstehen, hat der Versicherte daher durch entsprechende Wahl seines Wohnorts, allenfalls Wochenpendeln, die Bedingungen für die Erreichung des Arbeitsplatzes herzustellen, die für Arbeitnehmer im Allgemeinen gegeben sind (RIS-Justiz RS0085017 [T7]). Diese Grundsätze gelten in der Regel auch für die Verweisung auf Teilzeitarbeitsplätze (RIS-Justiz RS0085017 [T8]).

4.2 Nach den Feststellungen ist der Klägerin das Verlegen ihres Wohnsitzes aus medizinischen Gründen nicht mehr möglich. Ihr ist nur Tagespendeln, nicht aber auch Wochenpendeln und Übersiedeln zumutbar. Es ist daher nicht von ihr zu verlangen, durch entsprechende Wahl ihres Wohnorts oder Wochenpendeln die Bedingungen für die Erreichung des Arbeitsplatzes herzustellen, die für Arbeitnehmer im Allgemeinen gegeben sind.

5.1 Die – von der rein abstrakten Prüfung abweichende – Zumutbarkeitsprüfung im Einzelfall stellt ein Korrektiv dar, das eine Berücksichtigung verschiedener vom gesundheitlichen Befinden unabhängiger Umstände erlaubt und einen unzumutbaren Einkommensverlust verhindern soll.  Das Zumutbarkeitskriterium findet sich in § 255 Abs 3 ASVG („… unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeit zugemutet werden kann ...“). So ist bei Versicherten, die nur mehr Teilzeitarbeit verrichten können, die Frage, ob zur Erreichung eines entsprechenden Arbeitsplatzes ein Pendeln zum Arbeitsplatz zumutbar oder unzumutbar ist, immer nur bezogen auf die konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilbar (RIS-Justiz RS0085027). Im Einzelfall ist auch nicht auszuschließen, dass wegen des durch die Teilzeitbeschäftigung erzielbaren geringen Lohns eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln nicht zumutbar sein kann (10 ObS 72/10a, SSV-NF 24/41).

Entscheidend ist, ob nach den Feststellungen im Umkreis der dem Versicherten möglichen Gehstrecke oder in dem durch die Benützbarkeit eines Massenverkehrsmittels erweiterten Umkreis eine entsprechende Zahl von adäquaten Arbeitsplätzen zur Verfügung steht (RIS‑Justiz RS0084994), wobei zum Schutz vor unrealistischen Verweisungen grundsätzlich zumindest 100 Arbeitsplätze vorhanden sein müssen (Födermayer, Grundsatz der abstrakten Prüfung der Voraussetzungen für die Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit, JAS 2017, 285 [291 f]).

5.2 Zum regionalen Arbeitsmarkt:

Steht einem Pensionswerber nur der regionale Arbeitsmarkt offen, müssen auf dem von ihm erreichbaren Teilarbeitsmarkt nach der Rechtsprechung nicht mindestens 100 für ihn geeignete Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, sondern genügt es, wenn es in der betreffenden Region für zumutbare Verweisungstätigkeiten eine solche Zahl von offenen oder besetzten Stellen gibt, die die Annahme rechtfertigen, dass ein Arbeitsfähiger einen solchen Arbeitsplatz auch erlangen kann (RIS‑Justiz RS0084415). Die Grenze wird von der Rechtsprechung bei etwa 30 Arbeitsplätzen gezogen (10 ObS 51/08k, EvBl 2009/39, 268 [Hutter] = SSV‑NF 22/55; RIS‑Justiz RS0084415 [T9]).

5.3 Da feststeht, dass auf dem für die Klägerin mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbaren regionalen Arbeitsmarkt (in Rohrbach und Bad Leonfelden) weniger als 30 kalkülsgerechte Teilzeitarbeitsplätze zur Verfügung stehen, ist sie auf den Arbeitsmarkt im Ballungsraum Linz ange-wiesen, wo mehr als 100 derartige Arbeitsplätze vorhanden sind. Dass – wie in der Revision vorgebracht wird – „ein gesunder Versicherter“ nicht darauf angewiesen wäre, in den Ballungsraum Linz auszupendeln, sondern ihm auf dem regionalen Arbeitsmarkt jeweils eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen offen steht, ist nicht festgestellt.

6. Zur Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes mit dem Privat-PKW:

Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Versicherter, der nicht in der Lage ist, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen, grundsätzlich nicht verpflichtet, den Weg zum Arbeitsplatz mit dem eigenen Kraftfahrzeug zurückzulegen (RIS-Justiz RS0085083). Ist der Wohnort des Versicherten abgelegen und daher durch öffentliche Verkehrsmittel kaum oder schlecht erschlossen, sodass die Wege zum und vom Arbeitsplatz bzw zum und vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel üblicherweise mit dem privaten Fahrzeug zurückgelegt werden, ist aber dennoch zu berücksichtigen, ob der Versicherte die Wege zwischen seiner Wohnung und der Arbeitsstätte – gegebenenfalls auch zur Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels – in zumutbarer Weise mit einem privaten Fahrzeug zurücklegen kann (RIS‑Justiz RS0084907; RS0085083 [T1]). Maßgebliches Kriterium zur Beurteilung der Zumutbarkeit der Benutzung eines privaten PKWs ist, ob in einer bestimmten Wohngegend üblicherweise die Wege zum oder vom Arbeitsplatz bzw zum oder vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel mit dem privaten Fahrzeug zurückgelegt werden (10 ObS 145/14t, SSV‑NF 28/77).

7.1 In der Entscheidung 10 ObS 347/88, SSV‑NF 3/142, ging der Oberste Gerichtshof davon aus, dass für einen Versicherten, der aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen, keine Verpflichtung besteht, den Weg zum Arbeitsplatz mit dem eigenen Kraftfahrzeug zurückzulegen. Diese Rechtsauffassung wurde vor allem damit begründet, dass sonst vom Versicherten, der bereits den überwiegenden Teil der Anschaffungskosten für den Pkw getragen hatte, unter Berücksichtigung der regelmäßigen Betriebskosten des Fahrzeugs für die Zurücklegung des Weges zum Arbeitsplatz ein finanzieller Einsatz verlangt würde, der erheblich über dem der Mehrheit der Versicherten liegt, denen die Möglichkeit zur Verfügung steht, ein öffentliches Verkehrsmittel zum Arbeitsplatz zu benützen.

7.2 Dieses Kostenargument kommt aber nicht in jenen Fällen zum Tragen, in denen die Versicherten in vergleichbarer Situation zum Erreichen ihres Arbeitsplatzes auf die Verwendung eines privaten Fahrzeugs angewiesen sind. Ob bei der persönlichen Lebensplanung auch die Kosten des Tagespendeln mit dem privaten Kraftfahrzeug mit einkalkuliert (und allenfalls mit anderen Lebenshaltungskosten – wie etwa geringeren Wohnkosten – abgewogen) werden, hat demnach ohne Bedeutung zu bleiben.

8.1 Diese Rechtsprechung trifft auch auf die in einer „Pendlergemeinde“ lebende Klägerin zu, die über einen eigenen Pkw und einen Führerschein verfügt und gesundheitlich in der Lage ist, die tägliche Fahrt von ihrem Wohnort zu einem im Ballungsraum Linz gelegenen Arbeitsplatz zurückzulegen.

8.2 Gleichzeitig ist aber zu berücksichtigen, dass die Klägerin nicht aus medizinischen Gründen daran gehindert ist, öffentliche Verkehrsmittel in Anspruch zu nehmen. Wie das Berufungsgericht ausführt, wäre es ihr zumutbar, den Ballungsraum Linz durch eine Kombination von Privat-PKW und öffentlichem Verkehrsmittel zu erreichen, etwa die Fahrt von ihrem Wohnort nach Bad Leonfelden mit dem ihr zur Verfügung stehenden Privat-PKW zurückzulegen und von dort den öffentlichen Bus nach Linz zu benutzen. Eine Feststellung dahin, dass der Klägerin aus medizinischen Gründen nur eine exakt einstündige Fahrzeit in eine Richtung zumutbar wäre, nicht aber eine darüber hinausgehende Fahrzeit, besteht nicht. Ist sie aber in der Lage, die Arbeitswege mittels Kombination von Privat-PKW und öffentlichem Verkehrsmittel zurückzulegen, ist davon auszugehen, dass die Fahrtkosten weitaus geringer sind als diejenigen, die vom Erstgericht im Fall der ausschließlichen Benutzung des Privat-PKW (mit 520 EUR monatlich) festgestellt wurden.

9.1 Die Ansicht des Berufungsgerichts, die von der Klägerin – bei zumutbarer Kombination von Privat-PKW und öffentlichen Verkehrsmittel – zu tragenden Fahrtkosten seien ihrer persönlichen Lebensführung zuzurechnen und hätten bei der Beurteilung der Zumutbarkeit nach § 255 Abs 3 ASVG außer Betracht zu bleiben, begegnet somit keinen Bedenken. Auch im vorliegenden Fall ist an dem Grundsatz festzuhalten, dass der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit nicht von rein persönlichen Umständen, wie etwa dem Wohnort abhängig sein soll, um eine Ungleichbehandlung von Versicherten zu vermeiden.

9.2 Aus der Entscheidung 10 ObS 72/10a, SSV‑NF 24/41, ist für die Klägerin kein günstigeres Ergebnis ableitbar. In dieser Entscheidung wurde die Verlegung des Wohnsitzes und das Auspendeln (Wochenpendeln) im Zusammenspiel zwischen der etwa 50 km weiten Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort und dem aus einer Teilzeitbeschäftigung erzielbaren Monatseinkommen (inklusive Sonderzahlungen) von nur 584,19 EUR bis maximal 610 EUR (also einem Einkommen weit unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz nach § 293 Abs 1 lit a sublit bb ASVG) als unzumutbar angesehen.

Demgegenüber ist der vorliegende Sachverhalt dadurch charakterisiert, dass die Klägerin in der Lage ist, beim Tagespendeln ein über dem Ausgleichszulagenrichtsatz („sozialrechtliches Mindesteinkommen“) liegendes Monatseinkommen zu erzielen (10 ObS 34/15w, SSV‑NF 29/24). Aus diesem können zumutbarerweise die Lebenshaltungskosten – darunter auch die durch die Arbeitswege entstehenden Fahrtkosten – abgedeckt werden.

Die Revision bleibt daher erfolglos.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Umstände, die einen Kostenzuspruch im Berufungsverfahren nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.

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