Spruch:
Die Revision der beklagten Partei wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 373,68 EUR (darin 62,28 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.
Text
Begründung
Mit der ihr verbliebenen Leistungsfähigkeit kann die am 10. 3. 1957 geborene Klägerin, die in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 10. 2008) als Hilfsarbeiterin in einer Tischlerei (Anmerkung: in einem Familienbetrieb in unmittelbarer räumlicher Nähe zu ihrem ländlichen Lebensmittelpunkt im Mühlviertel) tätig war, nur mehr eine Arbeitszeit von 20 Stunden pro Woche und 4 Stunden täglich absolvieren. Es sind ihr noch leichte Hilfstätigkeiten wie Fertigungsarbeiten in der Leichtmetall-, Kunststoff-, Spielwaren- oder Schmuckindustrie, leichte Verpackungsarbeiten, Tischmontagearbeiten sowie die Tätigkeiten einer gastgewerblichen Hilfskraft, einer Bürohausbotin, einer Garderobiere, einer Platzanweiserin oder einer Billeteurin möglich. Weiters ist sie zu leichten kaufmännischen Innendiensttätigkeiten, wie etwa im Archiv, in der Registratur oder in der Statistik oder als Postexpedientin in der Lage.
Bundesweit (einschließlich des Großraums Linz) besteht für solche Verweisungstätigkeiten ein Arbeitsmarkt von mehr als 100 freien oder besetzten Stellen; der regionale, mit dem öffentlichen Verkehrsmittel in einer Stunde erreichbare Arbeitsmarkt weist allerdings in Summe weniger als 30 dem Leistungskalkül der Klägerin entsprechende Arbeitsplätze auf.
Das erzielbare Nettoeinkommen inklusive Sonderzahlungen beläuft sich unter Berücksichtigung der noch möglichen Teilzeitarbeit von 20 Wochenstunden für eine gewerbliche Hilfskraft auf 584,19 EUR, für Industriearbeiter auf 593,79 EUR und für eine Handelsangestellte im ersten Berufsjahr in Verwendungsgruppe 2 auf 610 EUR monatlich.
Das Erstgericht sprach aus, dass das auf Gewährung der Invaliditätspension ab 1. 10. 2008 gerichtete Klagebegehren dem Grund nach zu Recht bestehe, und trug der beklagten Partei eine vorläufige Zahlung von 400 EUR monatlich auf.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nur dahin Folge, dass es den Anspruch der Klägerin auf den Zeitraum vom 1. 10. 2008 bis 30. 9. 2010 befristete.
Die Klägerin habe sich ausschließlich auf die wirtschaftliche Unzumutbarkeit eines Wohnortwechsels berufen. Grundsätzlich sei von einem Versicherten zu verlangen, dass er durch entsprechende Wahl seines Wohnorts, allenfalls Wochenpendeln, die Bedingungen für die Erreichung des Arbeitsplatzes herstelle, die für Arbeitnehmer im Allgemeinen gegeben seien (RIS-Justiz RS0084939). Das gelte in der Regel auch für die Verweisung auf Teilzeitarbeitsplätze. Selbst wenn für die gesetzliche Lohnhälfte Bedürftigkeitskriterien keine Rolle spielten, schließe das aber trotzdem im Einzelfall nicht aus, dass mit Rücksicht auf den durch die mögliche Teilzeitbeschäftigung erzielbaren geringeren Lohn eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln nicht zumutbar sein können. Ob im Anlassfall eine Unzumutbarkeit des Umzugs oder des Wochenpendelns gegeben sei, hänge davon ab, welches Erwerbseinkommen die versicherte Person mit ihrem eingeschränkten Leistungskalkül durch eine Halbtagsbeschäftigung in den Verweisungsberufen - einschließlich Sonderzahlungen und anderer regelmäßiger Gehaltsbestandteile - konkret erreichen könne.
Im Fall der Klägerin sei ein erzielbares monatliches Nettoeinkommen inklusive Sonderzahlungen zwischen 584,19 EUR und 610 EUR festgestellt. Bei einer derart angespannten Einkommenssituation sei es offenkundig, dass ein Wohnsitzwechsel in ein Ballungszentrum mit einem entsprechenden Arbeitsmarkt nicht finanziert werden könne. Die Klägerin sei nicht in der Lage, zusätzlich zu den laufenden Lebenshaltungskosten auch noch die nicht unerheblichen Übersiedlungskosten zu tragen. Daraus folge, dass in diesem Einzelfall ein Wohnsitzwechsel unzumutbar sei. Das treffe im Übrigen auch auf ein Wochenpendeln zu, bei welchem zu den Kosten für den Hauptwohnsitz noch zusätzliche Fixkosten für den Nebenwohnsitz hinzukämen. Auch wenn am Arbeitsort nur eine einfache Schlafstelle erforderlich sei, ergebe das eine wirtschaftlich nicht tragbare Kostensituation.
Auch wenn grundsätzlich im Einzelfall zu beurteilen sei, ob mit Rücksicht auf den durch eine mögliche Teilzeitbeschäftigung erzielbaren, geringen Lohn eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln zumutbar sei, sei die Revision zulässig, weil in der bisherigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung offen geblieben sei, ab welchem Einkommen (oder bei welchen sonstigen wirtschaftlichen Kriterien) eine (Un-)Zumutbarkeit anzunehmen ist. Im Sinne der Rechtseinheit und Rechtssicherheit wäre eine weitere Konkretisierung der Kriterien für die wirtschaftliche Zumutbarkeit eines Wohnsitzwechsels oder eines Wochenpendelns bei nur noch möglicher Teilzeitbeschäftigung durch das Höchstgericht wünschenswert.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsabweisenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision nicht zulässig.
1. Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung 10 ObS 56/93 (SSV-NF 7/126 = DRdA 1994/50, 516 [Windisch-Graetz] = ZAS 1995/24, 199 [Pfeil]) ausgesprochen, dass er die Auffassung, dass einem Versicherten, der nur noch Teilzeit arbeiten kann, in der Regel ein Umzug oder ein Wochenpendeln nicht zuzumuten sei und es infolge dessen nur auf den regionalen Arbeitsmarkt ankomme, den der Versicherte durch tägliches Pendeln von seiner Wohnung aus erreichen könne, in dieser Allgemeinheit nicht teilt. Dies beruht auf der Erwägung, dass das Verweisungsfeld und die Anforderungen, die mit der Ausübung einer bestimmten Tätigkeit auch bezüglich der Erreichung des Arbeitsplatzes verbunden sind, in der Regel an den Verhältnissen des gesamten Arbeitsmarkts gemessen werden. Die Lage des Wohnorts im Einzelfall bildet ein persönliches Moment, das bei der Prüfung der Frage, ob Invalidität besteht, außer Betracht zu bleiben hat. In diesem Fall ist grundsätzlich vom Versicherten zu verlangen, dass er - sofern nicht medizinische Gründe dem entgegenstehen - durch entsprechende Wahl seines Wohnorts, allenfalls Wochenpendeln, die Bedingungen für die Erreichung des Arbeitsplatzes herstellt, die für Arbeitnehmer im Allgemeinen gegeben sind (vgl RIS-Justiz RS0084939; RS0085017; RS0084871). Dies schließt jedoch im Einzelfall nicht aus, dass mit Rücksicht auf den durch die mögliche Teilzeitbeschäftigung erzielbaren geringeren Lohn eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln nicht zumutbar sein können. Insoweit kommt es auf die Besonderheiten des Einzelfalls an (ebenso 10 ObS 29/08z = SSV-NF 22/38 und 10 ObS 83/08s).
2. Dieses Zumutbarkeitskriterium findet sich in § 255 Abs 3 ASVG, wonach ein Versicherter, der nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war, als invalid gilt, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.
Die - von der rein abstrakten Prüfung abweichende - Zumutbarkeitsprüfung im Einzelfall stellt ein Korrektiv dar, das eine Berücksichtigung verschiedener vom gesundheitlichen Befinden unabhängiger Umstände erlaubt (Tomandl, Die Verweisung im Sozialrecht [2002] 5 f) und - wie oben unter 1. dargestellt - auch einen unzumutbaren Einkommensverlust verhindern soll (siehe auch Enzlberger, Entscheidungsanmerkung zu 10 ObS 78/95 = DRdA 1996/21, 239 [243]). Von Födermayr (Geminderte Arbeitsfähigkeit [2009] 47) wird dies pointiert so formuliert, dass es nicht zu rechtfertigen wäre, wenn ein gesundheitlich beeinträchtigter Versicherter durch pensionsrechtliche Verweisungen in den finanziellen Ruin getrieben würde.
3. In ihrer Revision weist die beklagte Partei darauf hin, dass die abstrakte Betrachtungsweise der Verweisbarkeit im Pensionsversicherungsrecht verlassen würde, würde darauf abgestellt, welches Einkommen gesunde Versicherte in den Verweisungsberufen in der Normalarbeitszeit durchschnittlich erzielen und welches Einkommen die Klägerin mit ihrem eingeschränkten Leistungskalkül durch eine Halbtagsbeschäftigung konkret erreichen könnte. Die Abgrenzungsproblematik liege darin, dass die dieser Rechtsfrage zugrunde liegende „Einkommensschere“ sehr schmal sei und sich mit Sozialhilferichtsätzen nahezu decke. Daher werde der Oberste Gerichtshof um Entscheidung ersucht, dass nach der Besonderheit des Einzelfalls gegenständlich noch von einer Zumutbarkeit eines Umzugs oder eines Wochenpendelns bei Halbtagstätigkeit ausgegangen werden könne.
4. In Übereinstimmung mit den bereits zitierten höchstgerichtlichen Entscheidungen 10 ObS 56/93, 10 ObS 29/08z und 10 ObS 83/08s (RIS-Justiz RS0085027) geht die beklagte Partei in diesem Vorbringen davon aus, dass die Frage der Zumutbarkeit der Wohnsitzverlegung bzw des Pendelns nur bezogen auf den konkreten Einzelfall beurteilt werden kann.
Fragen der Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit bilden in aller Regel keine erheblichen Rechtsfragen gemäß § 502 Abs 1 ZPO, sofern keine auffallende Fehlbeurteilung zu korrigieren ist (RIS-Justiz RS0021095 uva).
5. Ebenfalls in Übereinstimmung mit den bisherigen höchstgerichtlichen Ausführungen zu dieser Thematik hat das Berufungsgericht im konkreten Fall bei einem zu erwartenden Einkommen im Verweisungsberuf von zwischen 584,19 EUR und 610 EUR sowohl eine Wohnsitzverlegung als auch ein Auspendeln (offenbar in den gut 50 km entfernten Zentralraum Linz) als wirtschaftlich unzumutbar angesehen. Im Zusammenspiel zwischen der Entfernung (des bisherigen Wohnorts von Orten, in denen Arbeitsstellen in Verweisungsberufen zur Verfügung stehen) und dem zu erwartenden Einkommen begegnet die Rechtsansicht des Berufungsgerichts keinen Bedenken, liegt doch vor allem das zu erwartende Einkommen weit unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz nach § 293 Abs 1 lit a sublit bb ASVG als „sozialrechtlichem Existenzminimum“ und in etwa in der Höhe des oberösterreichischen Sozialhilferichtsatzes (577,50 EUR) nach § 1 der Oö Sozialhilfeverordnung 1998.
6. Mangels einer erheblichen Rechtsfrage nach § 502 Abs 1 ZPO ist die Revision der beklagten Partei zurückzuweisen.
7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
Die Klägerin hat in ihrer Revisionsbeantwortung auch auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.
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