OGH 10ObS83/08s

OGH10ObS83/08s26.6.2008

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Hon.-Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Schönhofer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Walter M*****, ohne Beschäftigung, *****, vertreten durch Mag. Markus Hager, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. März 2008, GZ 11 Rs 19/08f-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Steyr vom 3. Oktober 2007, GZ 30 Cgs 206/06v-18, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs der beklagten Partei wird nicht Folge gegeben. Die Kosten der Rekursbeantwortung sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 25. 2. 1967 geborene Kläger hat den Fleischerberuf erlernt. Von 1989 bis Dezember 1996 war er als angestellter Zeitsoldat in der Funktion eines Feldkochs tätig. Er war gelernten Köchen zugeteilt und hat keine Tätigkeiten verrichtet, die üblicherweise von gelernten Köchen ausgeübt werden. Die Anlernzeit betrug maximal ein Jahr. Von Jänner 1997 bis Mai 2005 war er - neben Zeiten der Arbeitslosigkeit - bei verschiedenen Unternehmen als Gießer, Polier, Arbeiter an CNC-gesteuerten Maschinen, Hilfsarbeiter, Betonierer, Fleischer (3 Tage) und Montagearbeiter beschäftigt.

Der Kläger ist noch in der Lage, einen Vier-Stunden-Tag und eine 20-Stunden-Woche einzuhalten. In diesem Ausmaß besteht auch die Fähigkeit, alkoholabstinent zu bleiben. Bei ihm ist eine sechs- bis achtwöchige stationäre Entwöhnungsbehandlung angezeigt, wodurch sich auch die soziale und persönliche Kompetenz verbessern würde. Im Fall einer Wohnsitzverlegung würde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit das Alkoholproblem verschlechtern; Tages- oder Wochenpendeln wäre aber möglich; dadurch würde sich indirekt - über die Aufnahme einer Berufstätigkeit - die soziale Situation verbessern. Mit Bescheid vom 23. 3. 2006 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers auf Invaliditätspension ab.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 1. 2006 gerichtete Klagebegehren ab. Der Kläger sei noch in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Hilfsarbeiten auszuführen. Auch wenn die tägliche Arbeitszeit auf maximal vier Stunden reduziert sei, seien auf dem gesamten Arbeitsmarkt noch ausreichend Arbeitsplätze vorhanden. Wochenpendeln sei dem Kläger zumutbar.

Das Berufungsgericht hob die erstgerichtliche Entscheidung auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. Grundsätzlich habe zwar die Lage des Wohnorts eines Versicherten, sofern nicht medizinische Gründe einen Wohnortwechsel oder Pendeln ausschließen, keinen Einfluss auf die Verweisbarkeit. Allerdings sei einem Versicherten, der nur mehr halbtägig einfache Tätigkeiten in Billiglohnbranchen verrichten könne, eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln wirtschaftlich nicht zumutbar. Einem Pensionswerber, dem dann - wie hier - nicht mehr der gesamte österreichische Arbeitsmarkt, wohl aber ein regionaler Arbeitsmarkt offenstehe, müssten auf dem von ihm erreichbaren Teilarbeitsmarkt nicht mehr mindestens 100 für ihn geeignete Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, sondern es genüge, wenn es in der betreffenden Region für an sich zumutbare Verweisungstätigkeiten eine solche Zahl von - offenen oder besetzten - Stellen gebe, die die Annahme rechtfertige, dass ein Arbeitsfähiger und Arbeitswilliger einen solchen Arbeitsplatz auch erlangen könne. Seien bei einem regional begrenzten durch Tagespendeln erreichbaren Arbeitsmarkt aber 40 Arbeitsplätze vorhanden, liege eine so nennenswerte Zahl von Stellen vor, dass eine für die Verweisbarkeit ausreichende Nachfrage nach Arbeitskräften gewährleistet sei.

Das Erstgericht habe insoweit für die Rechtsfrage der Verweisbarkeit maßgebliche Beweise nicht aufgenommen und entscheidungswesentliche Feststellungen unterlassen. Es werde daher weitere Feststellungen darüber zu treffen haben, ob im Umkreis der dem Kläger möglichen Gehstrecke oder in dem durch die Benützbarkeit eines Massenverkehrsmittels erweiterten Umkreis eine entsprechende Zahl von adäquaten Arbeitsplätzen zur Verfügung stehe. Erst dann sei eine abschließende Beurteilung der Rechtsfrage möglich, ob die in einem Verweisungsberuf zur Verfügung stehende Zahl von Arbeitsplätzen ausreiche, um unter Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen einen Versicherten darauf zu verweisen.

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil eine generelle Unzumutbarkeit des Wochenpendelns bei Versicherten, denen nur mehr eine Halbzeitbeschäftigung in Billiglohnbranchen möglich sei, im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung stehe, wonach individuelle Momente wie die Lage des Wohnorts bei der Prüfung der Invalidität außer Betracht zu bleiben hätten.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs der beklagten Partei aus dem Rekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Entscheidung in der Sache im Sinne einer Wiederherstellung des klagsabweisenden Ersturteils.

Die klagende Partei beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs der beklagten Partei ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber im Ergebnis nicht berechtigt. Zunächst ist festzuhalten, dass das Vorliegen der Invalidität beim Kläger unstrittig nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen ist. Die beklagte Partei macht in ihrem Rekurs zusammengefasst geltend, § 255 Abs 3 ASVG erlaube nicht, bei der Beurteilung der Verweisbarkeit wirtschaftliche oder persönliche Kriterien des Versicherten, vor allem den Wohnsitz und familiäre oder soziale Bindungen, einfließen zu lassen. Die Frage der Lohnhälfte bleibe von der Frage der Zumutbarkeit eines Umzugs oder des Wochenpendelns unberührt. Der vom Berufungsgericht verwendete Begriff der „Billiglohnbranche" sei unbestimmt und lasse offen, bis zu welchem Einkommen von einer derartigen Branche ausgegangen werden könne.

Dazu hat der Senat erwogen:

Der Oberste Gerichtshof hat sich jüngst zu 10 ObS 29/08z ausführlich mit den hier relevanten Rechtsfragen auseinandergesetzt und hat zusammengefasst ausgeführt, dass § 255 Abs 3 ASVG in Bezug auf die zumutbare Entgelthöhe im Verweisungsberuf nur auf die gesetzliche Lohnhälfte als Mindesteinkommensgrenze abstellt. Völlig unabhängig von der Beurteilung der Invalidität wird ein aus sozialen Gründen notwendiges Mindesteinkommen eines Versicherten erst durch die Ausgleichszulage bewerkstelligt, die einen Pensionsanspruch voraussetzt (10 ObS 109/06m = SSV-NF 20/58).

Betreffend die „gesetzliche Lohnhälfte" ist als Vergleichsmaßstab der übliche Verdienst heranzuziehen, den ein gesunder Versicherter durch die Verweisungstätigkeit als Vollzeitbeschäftigter regelmäßig in der Normalarbeitszeit erzielen kann. Der an dieser Entgelthöhe zu messenden vollen Arbeitsfähigkeit der typisierten Vergleichsperson ist sodann die nach denselben Kriterien zu messende individuelle Arbeitsfähigkeit des Versicherten gegenüberzustellen (10 ObS 109/06m mwN).

Soweit der auf den allgemeinen Arbeitsmarkt für gesunde Versicherte regelmäßig erzielbare (durchschnittliche) Verdienst in Kollektivverträgen festgelegt ist, sind die danach zustehenden Löhne auch dann als Vergleichsmaßstab heranzuziehen, wenn in Einzelfällen höhere Verdienste erreicht werden. Werden jedoch in den in Betracht kommenden Berufsgruppen regelmäßig über den Tariflöhnen liegende Entgelte bezahlt, sind diese - ausgehend von dem in der Normalarbeitszeit erzielten Durchschnittsverdienst - zugrunde zu legen.

Diesbezüglich fehlen Feststellungen des Erstgerichts. Insbesondere steht nicht fest, ob in den in Betracht kommenden Verweisungsberufen regelmäßig überkollektivvertragliche Gehälter bezahlt werden bzw ob und welche Kollektivverträge in der Praxis überhaupt zur Anwendung kommen. Schon aus diesem Grund erweist sich die Aufhebung als umgänglich. Es bedarf daher entsprechend repräsentativer Erhebungen, welches Einkommen gesunde Versicherte in den Verweisungsberufen in der Normalarbeitszeit - ohne Anrechnung von Vordienstzeiten - durchschnittlich erzielten und welches Erwerbseinkommen der Kläger mit seinem eingeschränkten Leistungskalkül durch eine Halbtagsbeschäftigung in den Verweisungsberufen - einschließlich Sonderzahlungen und anderen regelmäßigen Gehaltsbestandteilen - konkret erreichen kann (vgl 10 ObS 109/06m). Diese Fragen sind im fortzusetzenden Verfahren mit den Parteien zu erörtern. Der Oberste Gerichtshof teilt die Auffassung, dass einem Versicherten, der nur noch Teilzeit arbeiten kann, in der Regel ein Umzug oder ein Wochenpendeln nicht zuzumuten sei und es infolge dessen nur auf den regionalen Arbeitsmarkt ankomme, den der Versicherte durch tägliches Pendeln von seiner Wohnung aus erreichen

könne, in dieser Allgemeinheit nicht (10 ObS 56/93 = SZ 66/184 =

SSV-NF 7/126 = DRdA 1994/50, 516 [Windisch-Graetz] = ZAS 1995/24, 199

[Pfeil]). Dies beruht auf der Erwägung, dass das Verweisungsfeld und die Anforderungen, die mit der Ausübung einer bestimmten Tätigkeit auch bezüglich der Erreichung des Arbeitsplatzes verbunden sind, in der Regel an den Verhältnissen des gesamten Arbeitsmarkts gemessen werden. Nur auf diese Weise ist nämlich eine gleiche Beurteilung in allen Fällen sichergestellt. Die Lage des Wohnorts im Einzelfall bildet ein persönliches Moment, das bei der Prüfung der Invalidität außer Betracht zu bleiben hat, weil es andernfalls einem Versicherten möglich wäre, durch die Wahl seines Wohnorts die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pensionsleistung zu beeinflussen. Ist ein Versicherter imstande, die unter den üblichen Bedingungen erforderlichen Anmarschwege zurückzulegen, so liegt unabhängig von der Lage seines Wohnorts in einem konkreten Fall ein Ausschluss vom Arbeitsmarkt aus diesem Grund nicht vor, mögen auch die gesundheitsbedingten Einschränkungen seiner Leistungsfähigkeit einer täglichen Zurücklegung des Wegs zwischen Arbeitsplatz und diesem Wohnort entgegenstehen. In diesem Fall ist grundsätzlich vom Versicherten zu verlangen, dass er - sofern nicht medizinische Gründe dem entgegenstehen - durch entsprechende Wahl seines Wohnorts, allenfalls Wochenpendeln, die Bedingungen für die Erreichung des Arbeitsplatzes herstellt, die für Arbeitnehmer im Allgemeinen gegeben sind (RIS-Justiz RS0084939; RS0085017; RS0084871). Diese Grundsätze gelten in der Regel auch für die Verweisung auf Teilzeitarbeitsplätze (10 ObS 56/93).

Die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung vermag der Oberste Gerichtshof insbesondere auch deshalb nicht zu teilen, weil es für die „gesetzliche Lohnhälfte" im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG nur auf die gesetzliche Mindesteinkommensgrenze ankommt, die je nach Verweisungsberuf schwanken kann, ohne das Bedürftigkeitskriterien eine Rolle spielen. Dies schließt im Einzelfall nicht aus, dass mit Rücksicht auf den durch die mögliche Teilzeitbeschäftigung erzielbaren geringeren Lohn eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln nicht zumutbar sein können (10 ObS 56/93 = RIS-Justiz RS0085027). Insoweit kommt es auf die Besonderheiten des Einzelfalls an. Ob im Anlassfall eine Unzumutbarkeit eines Umzugs oder eines Wochenpendelns für den Kläger gegeben ist, lässt sich demnach erst beantworten, wenn feststeht, welches Erwerbseinkommen der Kläger mit seinem eingeschränkten Leistungskalkül durch eine Halbtagsbeschäftigung in den Verweisungsberufen - einschließlich Sonderzahlungen und anderen regelmäßigen Gehaltsbestandteilen - konkret erreichen kann.

Die Frage der Zumutbarkeit einer Wohnsitzverlegung oder eines Wochenpendelns würde sich gar nicht stellen, wenn auf dem regionalen Arbeitsmarkt, den der Kläger durch tägliches Pendeln von seiner Wohnung aus erreichen kann, in den seiner Arbeitsfähigkeit angemessenen Verweisungsberufen eine solche Anzahl von - offenen oder besetzten - Stellen gegeben ist, die die Annahme rechtfertigen, dass ein Arbeitsfähiger und Arbeitswilliger einen solchen Arbeitsplatz auch erlangen kann. Jedenfalls dann, wenn auf einem regional begrenzten, durch Tagespendeln erreichbaren Arbeitsmarkt 40 Arbeitsplätze vorhanden sind, liegt eine so nennenswerte Zahl von Stellen vor, dass eine für die Verweisbarkeit ausreichende Nachfrage nach Arbeitskräften gewährleistet ist (10 ObS 262/03g = SSV-NF 18/5). Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Rekursbeantwortung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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