B-VG Art133 Abs4
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:W104.2138793.2.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Christian BAUMGARTNER über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg vom 4.5.2022, Zl. 1045724906-211528151, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.9.2022 zu Recht:
A) Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte erstmals am 19.11.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am selben Tag statt, die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 21.3.2016.
2. Mit Erstbescheid vom 5.10.2016, Zl. 1045724906-140190225, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 19.11.2014 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan ab (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Er könne eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul in Anspruch nehmen. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.
3. Die fristgerecht erhobene Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des Erstbescheids wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.10.2020, GZ W154 2138793-1/50E, abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers insgesamt äußerst widersprüchlich, gesteigert und nicht plausibel gewesen sei.
4. Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofs vom 8.6.2021, GZ E 4235/2020-8, wurde die Behandlung der Beschwerde gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts abgelehnt.
5. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 9.9.2021, GZ Ra 2021/14/0293-7, wurde der außerordentlichen Revision des Beschwerdeführers gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
6. Der Beschwerdeführer stellte am 14.10.2021 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
7. Im Rahmen seiner Befragung aufgrund des Folgeantrags durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Beschwerdeführer an, er sei konfessionslos. Im Oktober 2020 sei er „aus dem Islam zurückgetreten“. Es habe einige Zeit in Anspruch genommen, aber nun habe er Unterlagen aus dem Iran erhalten, wonach er nicht mehr Muslim sei. Nach Afghanistan könne er nicht mehr zurück, weil er dort von den Taliban wegen des Abfalls vom Islam und seiner Zugehörigkeit zu den Hazara hingerichtet werde.
8. Mit Schriftsatz vom 11.4.2022 beantragte der rechtsanwaltlich vertretene Beschwerdeführer die Einvernahme der Zeugin XXXX , mit der er einige Zeit unter einem Dach gelebt habe und legte eine Austrittsbestätigung aus der islamischen Glaubensgemeinschaft, ausgestellt am 30.8.2021 durch die Bezirkshauptmannschaft St. Johann im Pongau, vor.
9. Am 14.4.2022 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seinem Antrag auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen. Eingangs legte der Beschwerdeführer unter anderem Screenshots von Live-Chats mit dem Atheisten XXXX sowie dem Iman XXXX am 12.4.2022 vor und führte dazu aus, er habe an den Chats zu den Themen „Haben wir Gott erschaffen oder er uns?“ und „Warum Muslime den Islam in den Zielländern weiterhin streng verfolgen“ teilgenommen. Er selbst respektiere alle Religionen und auch Muslime, aber er verstehe nicht, wenn ein Muslim bete und faste und gleichzeitig ein Terrorist sei.
Er habe den Folgeantrag gestellt, weil er vom Islam ausgetreten sei. Er habe den Koran nie verstanden, erst als er in Europa gewesen sei, habe er auf YouTube eine Übersetzung des Korans in seine Muttersprache gehört. Dann habe er verstanden, dass der Koran von Gewalt, Unterdrückung und Gewaltanwendung handle. Als er auch noch erfahren habe, dass im Namen des Islam Männer, Frauen und unschuldige Kinder getötet werden würden, habe er nicht mehr länger Muslim sein wollen. Diesen Entschluss habe er nach Recherchen und reiflicher Überlegung im Oktober 2020 gefasst. Dazu habe er den Koran auf Farsi gelesen und viele Diskussionen von Professoren und Islamkennern online verfolgt, wo im Gegensatz zu den Erzählungen der Mullahs die wahre Geschichte des Islam verbreitet worden sei. Seit er sich in Österreich befinde, habe er nie wieder gebetet, gefastet oder eine Moschee betreten. Das sei „sehr auffallend“ und dadurch sei es offensichtlich, dass er vom Islam abgefallen sei. Diese Verhaltensweise werde von den Taliban nicht toleriert und im Falle einer Rückkehr würde er als Ungläubiger von den Taliban in Afghanistan getötet werden.
Schließlich wurde die Zeugin XXXX befragt, die bestätigte, dass der Beschwerdeführer seit 15.8.2021 im Haus des Ehepaares XXXX leben würde. Der Beschwerdeführer habe ihr auch seine Absicht, aus dem Islam auszutreten, mitgeteilt. Fasten oder beten habe sie den Beschwerdeführer nie gesehen.
10. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom 4.5.2022, Zl. 1045724906-211528151, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 14.10.2021 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde ihm jedoch der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer habe keine asylrelevante Verfolgung seiner Person im Herkunftsstaat glaubhaft machen können. Der behauptete Glaubensabfall sei nur ein Versuch, eine neuerliche Grundlage für einen Asylfolgeantrag zu erwirken. Aufgrund der vorherrschenden schlechten Versorgungslage sei dem Beschwerdeführer jedoch subsidiärer Schutz zu gewähren.
11. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtet sich die Beschwerde vom 31.5.2022 wegen Rechtswidrigkeit infolge nicht nachvollziehbarer unschlüssiger Beweiswürdigung, mangelhafter Begründung, Aktenwidrigkeit sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung ein für den Beschwerdeführer günstigerer Bescheid erlassen worden wäre. Nach einer Darlegung des Verfahrensganges und des Sachverhaltes führt die Beschwerde im Wesentlichen aus, die Behörde hätte bei der gebotenen ganzheitlichen Würdigung des Vorbringens des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund der aktuellen Länderberichte zu dem Ergebnis kommen müssen, dass am Vorbringen des Beschwerdeführers nicht zu zweifeln sei und ihm als Atheist in seinem Herkunftsstaat asylrelevante Verfolgung drohe.
12. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 18.7.2022 zur Entscheidung vorgelegt.
13. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte mit Schreiben vom 25.8.2022 eine mündliche Beschwerdeverhandlung für den 23.9.2022 an, brachte Länderberichte in das Verfahren ein und gab dem Beschwerdeführer sowie der belangten Behörde Gelegenheit zur Stellungnahme.
14. In der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinem Glaubensabfall befragt. Hier gab der Beschwerdeführer an, im Oktober 2021 vom Islam ausgetreten zu sein, weil er durch Lesen des von Mullahs verfassten Buches „Tarikh al-Tabari“ oder auch „Tarikh-i Tabari“ erstmals von den Straftaten des Propheten Mohammad erfahren habe. Weil er nicht in die Moschee gehe, nicht bete, den Bart glattrasiere und nicht faste, wisse jeder, dass er kein Muslim sei. Nun könne er als Atheist nicht in Afghanistan leben. Wenn man unter den Taliban lebe, müsse man Haare und Bart lang wachsen lassen und fünf Mal am Tag beten, ansonsten sei man ein Ungläubiger. Er könne dies zwei, drei Monate verheimlichen, aber am Ende würden die Taliban herausfinden, dass er kein Muslim sei.
Im Anschluss an den Beschwerdeführer wurde die Zeugin XXXX einvernommen, die keine religiösen Anzeichen beim Beschwerdeführer gesehen haben will.
Schließlich wurde mit mündlich verkündetem Beschluss das Verfahren gemäß § 34 Abs. 3 VwGVG bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs in dem zur Zl. Ro 2020/01/0023 anhängigen Verfahren ausgesetzt. Begründend wurde ausgeführt, der Verwaltungsgerichtshof habe das bei ihm anhängige Revisionsverfahren unterbrochen und eine Frage betreffend die Vereinbarkeit des § 3 Abs. 2 AsylG 2005 mit Unionsrecht zur Vorabentscheidung dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Der Beschwerdeführer mache geltend, nach seiner Ankunft in Österreich vom muslimischen Glauben abgefallen zu sein, weshalb ein Fall vorliege, der nach § 3 Abs. 2 AsylG 2005 zu beurteilen wäre. Es seien auch viele derartige Fälle beim BVwG anhängig, sodass die Voraussetzungen des § 34 Abs. 3 VwGVG gegeben seien.
15. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 29.3.2023, GZ Ra 2021/14/0293-12, wurde die außerordentliche Revision des Beschwerdeführers gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.10.2020 zurückgewiesen.
16. Im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 4.4.2024, Ro 2020/01/0023, wurde nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache JF, wonach Art. 5 Abs. 3 StatusRL der Bestimmung des § 3 Abs. 2 zweiter Satz entgegensteht, festgehalten, dass § 3 Abs. 2 zweiter Satz von österreichischen Behörden und Gerichten aufgrund der Verpflichtung zur Durchsetzung des Unionsrechts nicht anzuwenden ist.
17. Mit Schreiben vom 24.6.2024 informierte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer über die Fortsetzung des Verfahrens, brachte aktualisierte Länderberichte in das Verfahren ein und gab dem Beschwerdeführer Gelegenheit, dazu und zu allfälligen Änderungen des Sachverhalts Stellung zu nehmen.
18. In der Stellungnahme vom 4.7.2024 gab der Beschwerdeführer bekannt, dass sein bisheriges Vorbringen und die bisherigen Anträge aufrecht bleiben würden. Die aktualisierten Länderberichte würden zeigen, dass er aufgrund seiner Religionszugehörigkeit eine begründete Furcht vor Verfolgung durch die Taliban habe und ihm somit der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen sei.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl betreffend den Beschwerdeführer;
Einvernahme des Beschwerdeführers im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht;
Einsichtnahme in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden und Dokumenten;
Einsichtnahme in folgende vom Bundesverwaltungsgericht eingebrachten aktuellen Länderberichte:
- Länderinformationen der Staatendokumentation aus dem COI-CMS zu Afghanistan, Version 11 vom 10.4.2024 (im Folgenden: Länderinformationsblatt);
- UNHCR-Position zur internationalen Schutzbedürftigkeit für Menschen, die aus Afghanistan fliehen, aus Februar 2023;
- European Union Agency for Asylum (EUAA): Country Guidance: Afghanistan, aus Mai 2024; https://euaa.europa.eu/publications/country-guidance-afghanistan-may-2024
- European Union Agency for Asylum (EUAA): Afghanistan - Country Focus, aus Dezember 2023; https://euaa.europa.eu/publications/afghanistan-country-focus
2. Feststellungen:
2.1. Zur Person und den Lebensumständen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX im Distrikt Shahristan der afghanischen Provinz Daikundi geboren. Er ist Staatsbürger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekannte sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari, welche er sowohl lesen als auch schreiben kann. Er spricht auch Farsi, seine Deutschkenntnisse liegen auf B1-Niveau. Er ist verheiratet und hat drei Kinder, von denen eine Tochter noch minderjährig ist. Seine Familie lebt derzeit in Mashad im Iran.
Der Beschwerdeführer wuchs mindestens bis zu seinem zehnten Lebensjahr in seinem Heimatdistrikt Shahristan der afghanischen Provinz Daikundi auf, wo er zwar keine Schule besuchte, aber Unterricht zu Hause erhielt. Dann zog er mit seinen Eltern in den Iran, wo er viele Jahre lebte und im Jahr 1996 seine Frau heiratete. Der Beschwerdeführer ist auch dreimal nach Afghanistan zurückgekehrt. Nach der letzten Rückkehr hielt sich der Beschwerdeführer mit seiner Familie noch ca. neun Monate in Afghanistan auf, bevor er sein Heimatland endgültig verlies.
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 19.11.2014 erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Seither hält sich der Beschwerdeführer durchgehend in Österreich auf.
Der Beschwerdeführer ist im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig. Er ist strafgerichtlich unbescholten.
2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Mit rechtskräftig gewordenem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.10.2020, GZ W154 2138793-1/50E, wurde die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 5.10.2016, Zl. 1045724906-140190225, mit dem der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 19.11.2014 abgewiesen wurde, ebenfalls abgewiesen.
Der Beschwerdeführer stellte am 14.10.2021 einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen mit drohender Verfolgung durch die Taliban aufgrund seines Glaubensabfalls vom Islam.
Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom 4.5.2022, Zl. 1045724906-211528151, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 14.10.2021 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab, es wurde ihm jedoch der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.
Dem Beschwerdeführer droht daher in seinem Heimatland Afghanistan auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, wegen eines Glaubensabfalls vom Islam verfolgt zu werden. Der Beschwerdeführer konnte keinen Abfall vom Islam glaubhaft machen.
Dem Beschwerdeführer droht daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine asylrelevante Verfolgung aus den vom ihm geltend gemachten oder aus anderen Gründen.
2.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers
2.3.1. Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation aus dem COI-CMS zu Afghanistan, Version 11 vom 10.4.2024 (im Folgenden: Länderinformationsblatt):
Politische Lage
Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 26.6.2023). Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt (UNSC 1.6.2023a). Sie bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“ (USIP 17.8.2022; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem „islamischen Recht und den afghanischen Werten“ regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweise bestimmen (USIP 17.8.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Im September 2022 betonte der Justizminister der Taliban, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei (AA 26.6.2023). Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban auch schnell staatliche Institutionen (USIP 17.8.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. REU 7.9.2021a, VOA 19.8.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 8.9.2021; vgl. DIP 4.1.2023). Haibatullah hat sich dem Druck von außen, seine Politik zu mäßigen, widersetzt (UNSC 1.6.2023a) und baut seinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen auf nationaler und subnationaler Ebene auch im Jahr 2023 weiter aus (UNGA 20.6.2023). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass andere in Kabul ansässige Taliban-Führer die Politik wesentlich beeinflussen können. Kurz- bis mittelfristig bestehen kaum Aussichten auf eine Änderung (UNSC 1.6.2023a). Innerhalb weniger Wochen nach der Machtübernahme kündigten die Taliban „Interims“-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.8.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.8.2022; vgl. HRW 4.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge „Sittenpolizei“ berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.8.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.8.2021; vgl. USDOS 12.4.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.9.2021; vgl. Guardian 20.9.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 26.6.2023). Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 26.6.2023).
Die Regierung der Taliban wird von Mohammad HassanAkhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 8.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 18.7.2023). Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 7.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 16.2.2022), der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.2.2021 unterzeichnete (AJ m7.9.2021 ; vgl. VOA 29.2.2020), und Abdul Salam Hanafi (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 7.7.2022b), der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 7.7.2022b; vgl. UNSC o.D.a). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 27.11.2023; vgl. 8am 5.10.2021, UNGA 28.1.2022). Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 4.3.2023; vgl. JF 5.11.2021) als Innenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 4.3.2023) und Amir Khan Mattaqi als Außenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 14.12.2023), welcher die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 14.12.2023; vgl. UNSC o.D.b). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 6.9.2023), dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 6.9.2023; vgl. RFE/RL 29.8.2020). Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.8.2022). Diese Dynamik wurde am 23.3.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.8.2022; vgl. RFE/RL 24.3.2022, UNGA 15.6.2022). Seitdem ist die Bildung von Mädchen und Frauen und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von „duellierenden Machtzentren“ zwischen den in Kabul und Kandahar ansässigen Taliban zu sprechen (USIP 17.8.2022) und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 3.6.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.8.2022). In seiner traditionellen jährlichen Botschaft zum muslimischen Feiertag Eid al-Fitr im Jahr 2023 sagte Haibatullah Akhundzada, sein Land wünsche sich positive Beziehungen zu seinen Nachbarn, den islamischen Ländern und der Welt, doch dürfe sich kein Land in deren innere Angelegenheiten einmischen. Er vermied es, direkt auf das Bildungsverbot von Mädchen und die Beschäftigungseinschränkungen von Frauen einzugehen, sagte jedoch, dass die Taliban-Regierung bedeutende Reformen in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Medien und anderen Bereichen eingeleitet hat, und „die schlechten intellektuellen und moralischen Auswirkungen der 20-jährigen Besatzung“ dabei seien, zu Ende zu gehen (AnA 18.4.2023; vgl. BAMF 30.6.2023). Anfang Juni 2023 wurde berichtet, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Taliban die Stadt Kandahar zu ihrem Stützpunkt machen würden. Dies wir als ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der gemäßigteren Taliban-Mitglieder in der Hauptstadt Kabul gesehen, während das Regime seine repressive Politik weiter verschärft. In den letzten Monaten haben Vertreter des Regimes Delegationen aus Japan und Katar nach Kandahar eingeladen, anstatt sich mit anderen Beamten in Kabul zu treffen. Der oberste Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid, und ein zweiter Informationsbeauftragter aus Nordafghanistan, Inamullah Samangani, wurden von ihren Büros in Kabul nach Kandahar verlegt (WP 5.6.2023; vgl. BAMF 30.6.2023). Im Mai 2023 traf sich der Außenminister der Taliban mit seinen Amtskollegen aus Pakistan und China in Islamabad. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Einbeziehung Afghanistans in den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) sowie die Situation von Frauen in Afghanistan (AnA 5.5.2023; vgl. VOA 6.5.2023). Am 22.11.2023 verkündeten die Taliban den Abschluss einer zweitägigen Kabinettssitzung in der Provinz Kandahar unter der Leitung von Hebatullah Akhundzada. Auffallend war, dass Themen wie das Recht der Frauen auf Arbeit und Zugang zu Bildung sowie ihre Teilhabe an der Gesellschaft nicht Gegenstand der Beratungen waren. Es wurden Gespräche über Themen wie die Rückführung von Migranten, die Entwicklung diplomatischer Beziehungen zur Bewältigung bestehender Probleme, Import-Export- und Transitfragen sowie die Beibehaltung der Geldpolitik der Taliban geführt (AT 22.11.2023; vgl. AMU 22.11.2023). Internationale Anerkennung der Taliban Mit Anfang 2024 hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 9.1.2024; vgl. VOA 10.12.2023) dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). Im März 2023 gab der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid bekannt, dass Diplomaten in mehr als 14 Länder entsandt wurden, um die diplomatischen Vertretungen im Ausland zu übernehmen (PBS 25.3.2023; vgl. OI 25.3.2023). Im November 2023 sagte der stellvertretende Taliban-Außenminister, dass derzeit 20 Botschaften in Nachbarländern aktiv wären (TN 29.11.2023), einschließlich der afghanischen Botschaft in Teheran (TN 27.2.2023) und des strategisch wichtigen Generalkonsulats in Istanbul (Afintl 27.2.2023; vgl. KP 23.2.2023a). Berichten zufolge nahm auch die Türkei im Oktober 2023 einen neuen von den Taliban ernannten Diplomaten in der afghanischen Botschaft in Ankara auf (Afintl 14.2.2024). Eine Reihe von Ländern verfügt auch weiterhin über offizielle Botschafter in Afghanistan. Dazu gehören China und andere Nachbarländer wie Pakistan, Iran und die meisten zentralasiatischen Republiken, aber auch Russland, Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Japan (AAN/Ruttig 7.12.2023). Aber auch westliche Länder (mit Ausnahme Australiens) haben weder ihre Botschaften in Kabul offiziell geschlossen noch die diplomatischen Beziehungen offiziell abgebrochen. Vielmehr unterhalten sie kein diplomatisches Personal im Land. Einige Länder haben immer noch amtierende Botschafter oder nachrangige Diplomaten, die nicht in Kabul ansässig sind, und es gibt auch eine (schrumpfende) Anzahl von Sonderbeauftragten für Afghanistan (im Rang eines Botschafters). Die meisten westlichen Kontakte mit Taliban-Beamten finden in Katars Hauptstadt Doha statt, wo Diplomaten unterhalb der Botschafterebene ihre Länder bei den Treffen vertreten (AAN/Ruttig 7.12.2023). Am 24.11.2023 entsandten die Taliban ihren ersten Botschafter in die Volksrepublik China (KP 26.11.2023; vgl. AMU 25.11.2023). Dieser Schritt folgt auf die Ernennung eines Botschafters Chinas in Afghanistan zwei Monate zuvor, womit China das erste Land ist, das einen Botschafter nach Kabul unter der Taliban-Regierung entsandt hat (AMU 25.11.2023; vgl. VOA 10.12.2023). Nach Ansicht einiger Analysten sowie ehemaliger Diplomatinnen und Diplomaten bedeutet dieser Schritt die erste offizielle Anerkennung der Taliban-Übergangsregierung durch eine große Nation (VOA 31.1.2024; vgl. REU 13.9.2023). Nach Angaben des US-Außenministeriums prüfen die USA die Möglichkeit von konsularischem Zugang in Afghanistan. Dies solle keine Anerkennung der Taliban-Regierung bedeuten, sondern dem Aufbau funktionaler Beziehungen dienen, um eigene Ziele besser verfolgen zu können (USDOS 31.10.2023). Ebenso am 24.11.2023 wurde die afghanische Botschaft in Neu-Delhi, die von loyalen Diplomaten der Vor-Taliban-Regierung geleitet wurde, endgültig geschlossen. Einige Tage später erklärten Taliban-Vertreter, dass die Botschaft bald wiedereröffnet und von ihren Diplomaten geleitet werden wird (Wilson 12.12.2023; vgl. VOA 29.11.2023).
Drogenbekämpfung
Im April 2022 verfügte der oberste Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada, dass der Anbau von Mohn, aus dem Opium, die wichtigste Zutat für die Droge Heroin, gewonnen werden kann, streng verboten ist (BBC 6.6.2023).
Die vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) im Jahr 2023 durchgeführte Opiumerhebung in Afghanistan ergab, dass der Schlafmohnanbau nach einem von den Taliban-Behörden im April 2022 verhängten Drogenverbot um schätzungsweise 95 % zurückgegangen ist (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023), wobei ein anderer Experte den Rückgang des Mohnanbaus zwischen 2022 und 2023 auf 80 % schätzt (BBC 6.6.2023). Der Opiumanbau ging in allen Teilen des Landes von 233.000 Hektar auf 10.800 Hektar im Jahr 2023 zurück, was zu einem Rückgang des Opiumangebots von 6.200 Tonnen im Jahr 2022 auf 333 Tonnen im Jahr 2023 führte. Der drastische Rückgang hatte unmittelbare humanitäre Folgen für viele gefährdete Gemeinschaften, die auf das Einkommen aus dem Opiumanbau angewiesen sind. Das Einkommen der Bauern aus dem Verkauf der Opiumernte 2023 an Händler sank um mehr als 92 % von geschätzten 1,36 Milliarden Dollar für die Ernte 2022 auf 110 Millionen Dollar im Jahr 2023 (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Der weniger rentable Weizenanbau hat den Mohn auf den Feldern verdrängt - und viele Landwirte berichten, dass sie finanziell darunter leiden (BBC 6.6.2023).
Am 30.9.2023 veröffentlichte der Oberste Gerichtshof der Taliban eine Reihe von Drogenstrafverfahren, die Strafen für den Anbau, den Verkauf, den Transport, die Herstellung und den Konsum von Mohn, Marihuana und anderen Rauschmitteln vorsehen. Die vorgeschriebenen Freiheitsstrafen reichen von einem Monat bis zu sieben Jahren ohne die Möglichkeit, eine Geldstrafe zu zahlen (UNGA 1.12.2023).
Anfang 2024 verkündete der amtierende Verteidigungsminister der Taliban, dass im Zuge der Bekämpfung der Drogenproduktion im Jahr 2023 4.472 Tonnen Rauschgift vernichtet, 8.282 an der Produktion und am Schmuggel beteiligte Personen verhaftet und 13.904 Hektar Mohnanbaufläche gerodet wurden. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Armut in den ländlichen und landwirtschaftlichen Gemeinden wieder zum Mohnanbau führen könnte (VOA 3.1.2024). So gab ein Farmer, dessen Feld von den Taliban wegen Mohnanbaus zerstört wurde an, dass er durch Weizenanbau nur einen Bruchteil dessen verdienen würde, was er mit Mohn verdienen könnte (BBC 6.6.2023).
Sicherheitslage
Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (UNGA28.1.2022, vgl. UNAMA27.6.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.1.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.6.2023; vgl. UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hat jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.6.2023). UNAMA registrierte im Zeitraum 15.08.2021 - 30.05.2023 mindestens 3.774 zivile Opfer, davon 1.095 Tote (UNAMA 27.6.2023; vgl. AA 26.6.2023) und vom 20.5.2023 bis 22.10.2023 mindestens 344 zivile Opfer, davon 96 Tote (UNGA 18.9.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Im Vergleich waren es in den ersten sechs Monaten nach der Machtübernahme der Taliban 1.153 zivile Opfer, davon 397 Tote, während es in der ersten Jahreshälfte 2021 (also vor der Machtübernahme der Taliban) 5.183 zivile Opfer, davon 1.659 Tote gab. In der Mehrzahl handelte es sich um Anschläge durch Selbstmordattentäter und IEDs. Bei Anschlägen auf religiöse Stätten wurden 1.218 Opfer, inkl. Frauen und Kinder, verletzt oder getötet. 345 Opfer wurden unter den mehrheitlich schiitischen Hazara gefordert. Bei Angriffen auf die Taliban wurden 426 zivile Opfer registriert (AA 26.6.2023). Im Jahr 2023 war ein Rückgang der von ACLED (Armed Conflict Location & Event Data Project) und UCDP (Uppsala Conflict Data Program) erfassten sicherheitsrelevanten Vorfälle zu verzeichnen. Die Zahl der von ACLED bis September 2023 erfassten Ereignisse ging im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2022 um 34,8 % zurück (1.979 gegenüber 689 Ereignissen), während die UCDP-Daten für denselben Zeitraum einen Rückgang um 48,2 % anzeigten (720 gegenüber 347 Ereignissen) (EUAA 12.2023; vgl. ACLED 17.10.2023).
Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgend:
19.8.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.1.2022)
1.1.2022 - 21.5.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.6.2022)
22.5.2022 - 16.8.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.9.2022)
17.8.2022 - 13.11.2022: 1.587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 7.12.2022)
14.11.2022 - 31.1.2023: 1.088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.2.2023)
1.2.2023 - 20.5.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.6.2023)
25.5.2023 - 31.7.2023: 1.259 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 18.9.2023)
1.8.2023 - 21.10.2023: 1.414 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 2 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 1.12.2023)
Ende 2022 und während des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.2.2023; vgl. UNGA 20.6.2023, UNGA 18.9.2023, UNGA 20.6.2023), wobei diese nach Einschätzung der Vereinten Nationen den Taliban die Kontrolle über ihr Gebiet nicht streitig machen können (UNGA 1.12.2023). Die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehenden Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch, darunter am 11.4.2023 eine Operation gegen die Afghanische Freiheitsfront (AFF) im Distrikt Salang in der Provinz Parwan, bei der Berichten zufolge acht Oppositionskämpfer getötet wurden (UNGA 20.6.2023).
Ca. 50 % der sicherheitsrelevanten Vorfälle des Jahres 2023 entfielen auf die Regionen im Norden, Osten und Westen wobei die Provinzen Nangarhar, Kunduz, Herat (UNGA 20.6.2023), Takhar (UNGA 18.9.2023) und Kabul am stärksten betroffen waren (UNGA 1.12.2023).
Die Vereinten Nationen berichten, dass Afghanistan nach wie vor ein Ort von globaler Bedeutung für den Terrorismus ist, da etwa 20 terroristische Gruppen in dem Land operieren. Es wird vermutet, dass das Ziel dieser Terrorgruppen darin besteht, ihren jeweiligen Einfluss in der Region zu verbreiten und theokratische Quasi-Staatsgebilde zu errichten (UNSC 25.7.2023). Die Grenzen zwischen Mitgliedern von Al-Qaida und mit ihr verbundenen Gruppen, einschließlich TTP (Tehreek-e Taliban Pakistan), und der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) sind zuweilen fließend, wobei sich Einzelpersonen manchmal mit mehr als einer Gruppe identifizieren und die Tendenz besteht, sich der dominierenden oder aufsteigenden Macht zuzuwenden (UNSC 25.7.2023).
Hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.1.2022; vgl. UNGA 15.6.2022, UNGA 14.9.2022, UNGA 7.12.2022), so nahmen auch diese im Lauf der Jahre 2022 (UNGA 7.12.2022; vgl. UNGA 27.2.2023) und in 2023 wieder ab (UNGA 20.6.2023; vgl. UNGA 18.9.2023, UNGA 1.12.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (HRW 12.1.2023; vgl. UNAMA 22.1.2024). Die Taliban-Sicherheitskräfte führten Operationen zur Bekämpfung des ISKP durch, unter anderem in den Provinzen Kabul, Herat, Balkh, Faryab, Jawzjan, Nimroz, Parwan, Kunduz und Takhar (UNGA 20.6.2023).
Mit Verweis auf das United Nations Department of Safety and Security (UNDSS) berichtet IOM (International Organization for Migration), dass organisierte Verbrechergruppen in ganz Afghanistan an Entführungen zur Erlangung von Lösegeld beteiligt sind. 2023 wurden 21 Entführungen dokumentiert, 2024 waren es, mit Stand Februar 2024, zwei. Anscheinend werden nicht alle Entführungen gemeldet, und oft zahlen die Familien das Lösegeld. Die meisten Entführungen (soweit Informationen verfügbar waren) fanden in oder in der Nähe von Wohnhäusern statt und nicht auf der Straße. Von den 21 im Jahr 2023 gemeldeten Entführungen ereigneten sich vier in Kabul. Zwei der Vorfälle in Kabul betrafen die Entführung ausländischer Staatsangehöriger, wobei nur wenige Einzelheiten über die Umstände der Entführungen bekannt wurden. Die Taliban-Sicherheitskräfte reagierten aktiv auf Entführungsfälle. Im Juni 2023 leiteten die Taliban beispielsweise in Kabul eine erfolgreiche Rettungsaktion eines entführten ausländischen Staatsangehörigen. In der Provinz Balkh führte eine Reaktion der Taliban gegen die Entführer im Februar 2023 zum Tod eines Entführers und zur Festnahme von zwei weiteren Personen (IOM 22.2.2024).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul-Stadt, Herat-Stadt und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 70,7 % bzw. 79,7 % der Befragen an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.1.2022).
Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul-Stadt. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 3.2.2023).
Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten
Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitsbehörden abzusehen (AA 26.6.2023; vgl. USDOS 20.3.2023), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021a; vgl. DW 20.8.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 1.11.2021; vgl. NYT 29.8.2021), unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.8.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Irisscans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.3.2022). So wurde beispielsweise berichtet, dass ein ehemaliger Militäroffizier nach seiner Abschiebung von Iran nach Afghanistan durch ein biometrisches Gerät identifiziert wurde und danach von den Taliban gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurde. Ein weiterer Rückkehrer aus Iran berichtet, dass im Zuge der Abschiebung aus Iran Daten der Rückkehrer vom iranischen Geheimdienst an die Taliban weitergegeben werden (KaN 18.10.2023). Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung nutzt soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021a, 8am 14.11.2022), was dazu führt, dass Afghanen seit der Machtübernahme der Taliban in den sozialen Medien Selbstzensur verüben, aus Angst und Unsicherheit (Internews 12.2023). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 9.1.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Ein hochrangiges Mitglied der ehemaligen Streitkräfte berichtet, dass ihm vor seiner Rückkehr verschiedene Versprechen gemacht wurden, er bei Ankunft auf dem Flughafen in Kabul jedoch wie ein Feind behandelt wurde. Er wurde sofort erkannt, da die Taliban sein Bild und weitere Informationen zu seiner Person über die sozialen Medien verbreiteten. Mit Stand Oktober 2023 lebt er in Kabul, sein Haus wurde mehrfach durch die Taliban durchsucht und sein Bankkonto gesperrt. Ein anderes Mitglied der ehemaligen Streitkräfte gab an, dass seine Informationen vor seiner Rückkehr auf Twitter [Anm.: jetzt X] verbreitet wurden und ein weiterer Rückkehrer berichtete, dass er eine biometrische Registrierung durchlaufen musste (KaN 18.10.2023). Im Sommer 2023 wurde berichtet, dass die Taliban ein groß angelegtes Kameraüberwachungsnetz für afghanische Städte aufbauen (AI 5.9.2023; vgl. VOA 25.9.2023), das die Wiederverwendung eines Plans beinhalten könnte, der von den Amerikanern vor ihrem Abzug 2021 ausgearbeitet wurde, so ein Sprecher des Taliban-Innenministeriums. Die Taliban-Regierung hat sich auch mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei über eine mögliche Zusammenarbeit beraten, sagte der Sprecher (VOA 25.9.2023; vgl. RFE/RL 1.9.2023), wobei Huawei bestritt, beteiligt zu sein (RFE/RL 1.9.2023). Beobachter befürchten jedoch, dass die Taliban ihr Netz von Überwachungskameras auch dazu nutzen werden, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre repressive Politik durchzusetzen (RFE/RL 1.9.2023), einschließlich der Einschränkung des Erscheinungsbildes der Afghanen, der Bewegungsfreiheit, des Rechts zu arbeiten oder zu studieren und des Zugangs zu Unterhaltung und unzensierten Informationen (RFE/RL 1.9.2023).
Zentral-Afghanistan
Das zentrale Hochland Afghanistans ist eine Bergregion zwischen den Koh-i-Baba-Bergen an den westlichen Enden des Hindukusch, die auch Hazarajat genannt wird. Es ist die Heimat der Hazara, die den größten Teil der Bevölkerung ausmachen. Hazarajat bezeichnet eher eine ethnische und religiöse als eine geografische Zone. Die Region umfasst hauptsächlich die Provinzen Bamyan, Daikundi, Ghor und große Teile von Ghazni, Uruzgan, Parwan und Maidan Wardak. Die bevölkerungsreichsten Städte im Hazarajat sind Bamyan, Yakawlang, Nili, Lal wa Sarjangal und Ghazni (DBpedia o.D.).
Quelle: NSIA 4.2022 *geschätzte Bevölkerungszahl 2022-23
Distrikte nach Provinz (NSIA 4.2022)
Bamyan: Bamyan, Kahmard, Panjab, Saighan, Shebar, Waras, Yakawlang sowie der temporäre Distrikt Yakawlang zwei
Daikundi: Ishterlai, Pato, Kejran, Khedir, Kiti, Miramor, Sang-e-Takht (Sang Takht), Shahristan
Ghazni: Ab Band, Ajristan, Andar, Deh Yak, Gelan, Giro, Jaghatu, Jaghuri, Khwaja Omari, Malistan, Muqur, Nawa, Nawur, Qara Bagh, Rashidan, Waghaz, Wali Muhammad Shahid (Khugyani), Zanakhan
Ghor: Chighcheran (Firuzkoh), Char Sada, Dawlatyar, Duleena, Lal Wa Sarjangal, Pasaband, Saghar, Shahrak, Taywara, Tulak, Murghab
Maidan Wardak: Chak-e-Wardak, Daimir Dad, Hissa-e-Awali Behsud, Jaghatu, Jalrez, Markaz-e-Behsud, Maidan Shahr, Nerkh, Sayyid Abad
Parwan: Bagram, Charikar, Syahgird (auch Ghurband/Ghorband), Jabulussaraj, Koh-e-Safi, Salang, Sayyid Khel, Shaykh Ali, Shinwari, Surkhi Parsa
Uruzgan (auch Urozgan): Chora, Dehraoud, Gizab, Khas Urozgan, Shahidhassas, Tirinkot/Tarinkot
Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen
2023
Am 11.4.2023 wurden mindestens sechs Personen, darunter zwei Kommandanten, von den Taliban bei Kämpfen mit der Afghanistan Freedom Front (AFF) in Parwan getötet (KaN 12.4.2023; vgl. 8am 14.4.2023). Die Taliban hinderten die Menschen gewaltsam daran, an ihren Beerdigungen teilzunehmen. Berichten zufolge wurden in der Provinz etwa 100 Personen festgenommen. In Parwan wurden in weiterer Folge Hausdurchsuchungen durchgeführt (8am 14.4.2023; vgl. KaN 14.4.2023).
In Maidan Wardak wurden Berichten zufolge im Juli 2023 zwei Männer und eine Frau öffentlich ausgepeitscht (8am 10.7.2023; vgl. BAMF 31.12.2023).
Während einer Gedenkfeier zu Aschura [Anm.: An diesem Tag gedenken die Schiiten des Todes des für sie dritten Imams Husain in der Schlacht von Kerbela. Er gilt als Märtyrer, dessen Ermordung sowohl für Schiiten und Aleviten als auch generell in der Geschichte des Islams ein besonderes Ereignis bedeutet (Crisis 24 24.7.2023)], im Juli 2023 wurden in Ghazni drei Menschen, darunter ein Kind, durch die Taliban getötet. Sechs weitere Menschen wurden dabei verletzt (AMU 29.7.2023; vgl. 8am 29.7.2023). Eine andere Quelle berichtet von vier Toten und bis zu 33 Verletzten. Das Gouverneursbüro der Taliban in Ghazni hat in einer Erklärung die Aschura-Teilnehmer als "Randalierer" bezeichnet und sie beschuldigt, die Sicherheit zu stören (KaN 31.7.2023).
In einem Landkonflikt zwischen paschtunischen Kutschi und der sesshaften Bevölkerung des Distrikts Nawur, in Ghazni, nahmen die Taliban Anfang August 2023 17 lokale Bewohner fest. Den Taliban wird vorgeworfen, parteiisch auf der Seite der Kutschi zu stehen (BAMF 31.12.2023; vgl. KaN 1.8.2023). Berichten zufolge wurden die Festgenommenen geschlagen und gefoltert (KaN 1.8.2023).
Am 10.8.2023 gab die National Resistance Front (NRF) in einer Erklärung bekannt, dass ihre Streitkräfte am Mittwoch eine Operation in Takhar eingeleitet hätten, in deren Verlauf zwei Mitglieder der Taliban getötet worden seien (Afintl 10.8.2023; vgl. KaN 16.8.2023).
Die Afghanistan Freedom Front (AFF) verübte nach eigenen Angaben am 15.8.2023 einen Angriff auf einen Taliban-Stützpunkt in Parwan, bei dem fünf Taliban-Mitglieder getötet und drei weitere verletzt wurden (KaN 15.8.2023; vgl. Afintl 15.8.2023).
Aus Uruzgan wird von einer Zunahme der Gewalt gegen Hazara berichtet (BAMF 31.12.2023; vgl. BNN 27.9.2023). Seit der Machtübernahme durch die Taliban gibt es Berichte über zunehmende Zwangsumsiedlungen, Beschlagnahmungen von Eigentum und Gewalt gegen Hazara. In Uruzgan, wo Hazara eine noch kleinere Minderheit darstellen als auf nationaler Ebene, ist die Lage für sie besonders prekär geworden (KaN 21.9.2023).
Am 26.10.2023 wurden in Ghazni 20 vermeintliche Mitglieder der islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir festgenommen. Diese Partei wurde durch die Taliban schon einige Monate nach ihrer Machtübernahme verboten (BAMF 31.12.2023; vgl. 8am 26.10.2023).
Zentrale Akteure
Taliban
Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe (CFR 17.8.2022), die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.8.2022; vgl. USDOS 20.3.2023). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“ (USDOS 20.3.2023; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.8.2022). Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.8.2022; vgl. Rehman A./PJIA 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. CFR 17.8.2022, Rehman A./PJIA 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022; vgl. Afghan Bios 7.7.2022a, REU 7.9.2021a). Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban sich von „einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität“ zu entwickeln (EUAA 8.2022; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021) und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022; vgl. REU 10.9.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021).
Haqqani-Netzwerk
Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre. Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks (GSSR 12.11.2023), eine Beziehung zum Führer von al-Qaida, Osama bin Laden (UNSC o.D.c; vgl. FR24 21.8.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o.D.c; vgl. ASP 1.9.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o.D.c). Der Kern der Ideologie der Gruppe ist eine antiwestliche, regierungsfeindliche und „sunnitisch-islamische Deobandi“-Haltung, die an die Einhaltung orthodoxer islamischer Prinzipien glaubt, die durch die Scharia geregelt werden, und die den Einsatz des Dschihad zur Erreichung der Ziele der Gruppe befürwortet. Die Haqqanis lehnen äußere Einflüsse innerhalb des Islams strikt ab und fordern, dass die Scharia das Gesetz des Landes ist (GSSR 12.11.2023). Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o.D.c, vgl. VOA 4.8.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.8.2021; vgl. UNSC o.D.c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom (FR24 21.8.2021), auch wenn es den Taliban angehört (UNSC 21.11.2023; vgl. FR24 21.8.2021). Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA30.8.2022; vgl. UNSC 26.5.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.5.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.8.2022; vgl. DT 7.5.2022) und den Tehreek-e-Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.5.2022).
Anti-Taliban-Widerstandsgruppen / Opposition
Eine formelle, organisierte politische Opposition im Land ist nicht vorhanden (AA 26.6.2023; vgl. TN 16.8.2023, FH 9.3.2023). Eine Reihe ehemaliger politischer Akteure, sowohl aus ehemaligen Regierungskreisen als auch aus der ehemaligen politischen Opposition, befinden sich im Ausland (AA 26.6.2023). Der Kampf gegen die Taliban ist unter ehemaligen afghanischen Amtsträgern zu einem umstrittenen Thema geworden, auch wenn die politische Opposition gegen das Machtmonopol der Taliban und ihre extremistische Politik stärker geworden ist (VOA 6.12.2023). Auch wenn die politische Opposition im Ausland als zersplittert gilt, wurde diese jedoch aktiver und fordert die Taliban in innen- und außenpolitischen Fragen heraus (UNGA 1.12.2023). Einige prominente Politiker, wie der ehemalige Vorsitzende des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, und der ehemalige Präsident Hamid Karzai, befinden sich weiterhin in Kabul. Ihr Aktionsradius ist äußerst eingeschränkt, ihre öffentlichen Äußerungen sind von großer Zurückhaltung geprägt (AA 26.6.2023). Karzai und auch der andere ehemalige Präsident, Ashraf Ghani, haben sich beide gegen einen Sturz der Taliban durch Krieg ausgesprochen und plädieren stattdessen für eine friedliche Lösung (VOA 6.12.2023). Die ehemalige Bürgermeisterin von Maidan Shar, Zarifa Ghafari, ist eine der wenigen Politikerinnen, die seit der Machtübernahme temporär nach Kabul zurückgekehrt ist (AA 26.6.2023). Abdul Hakim Sharai, amtierender Justizminister der Taliban, untersagte am 16.8.2023 auf einer Pressekonferenz jegliche politische Betätigung von Parteien im Land. Er sagte, dass die Existenz politischer Parteien im Land weder auf der Scharia basiere, noch für die Nation von Vorteil sei (BAMF 31.12.2023; vgl. TN 16.8.2023). In Afghanistan gibt es eine Reihe verschiedener Gruppierungen, die sich der Taliban-Herrschaft widersetzen (EUAA 12.2023). Auch wenn diese ähnliche oder identische Ziele verfolgen, findet zwischen diesen Gruppierungen wenig bis gar keine Koordinierung bzw. Zusammenarbeit statt (EUAA 12.2023; vgl. FP 14.12.2023, VOA 28.4.2022). Obwohl das Taliban-Regime international geächtet und für seine frauenfeindliche Politik verurteilt wird, hat bisher kein Land die Unterstützung für einen Krieg gegen die Taliban angeboten und auch die Vereinigten Staaten, die die Taliban 20 Jahre lang bekämpft haben, haben davon abgesehen, die Anti-Taliban-Aufständischen zu unterstützen. Die Taliban haben den bewaffneten Aufstand heruntergespielt (VOA 6.12.2023) und auch internationale Experten gehen nicht davon aus, dass die bewaffneten Gruppen, die in Afghanistan aktiv sind und gegen die Taliban kämpfen, eine tatsächliche Gefahr für das Regime darstellen (EUAA 12.2023; vgl. AA 26.6.2023, UNGA 1.12.2023). Ein Experte gab an, dass die Aufständischen zumindest in naher Zukunft nicht über genügend Kräfte verfügen, um die Taliban zu stürzen, aber sie scheinen das islamistische Regime vor politische und ordnungspolitische Herausforderungen zu stellen. Auch haben viele Länder, obwohl sie keine der Kriegsparteien in Afghanistan unterstützen, die Anführer der aufständischen Anti-Taliban-Gruppen und andere afghanische Politiker, die gegen die Taliban sind, eingeladen. Die Taliban haben öffentlich ihre Frustration gegenüber Ländern geäußert, die ihre Gegner empfangen, während die meisten Taliban-Führer aufgrund von Sanktionen der Vereinten Nationen nicht reisen können (VOA 6.12.2023). Im Jahr 2023 ging die Zahl der Angriffe der bewaffneten Opposition und der bewaffneten Zusammenstöße mit den Taliban-Behörden im Vergleich zum Vorjahr zurück (UNGA 1.12.2023; vgl. UNGA 20.6.2023). UNAMA verzeichnete Angriffe, zu denen sich die drei wichtigsten in Afghanistan tätigen bewaffneten Widerstandsgruppen bekannten. Die National Resistance Front (NRF), die Afghanistan Freedom Front (AFF) und das Afghanistan Liberation Movement (ALM) übernahmen die Verantwortung für Angriffe in acht Provinzen. Die Sicherheitskräfte, die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehen, führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch (UNGA 20.6.2023).
In den ersten drei Monaten des Jahres 2023 operierten die vorgenannten Gruppen in den Provinzen Badakhshan, Balkh, Helmand, Jawzjan, Kabul, Kandahar, Kapisa, Nangarhar, Nuristan, Parwan, Samangan und Takhar. Bis September führten sie Operationen in fünf weiteren Provinzen durch (Baghlan, Ghazni, Kunduz, Laghman und Paktika). Die Zahl der Angriffe stieg von 23 (Jänner-März) auf 57 (Juni-August). Obwohl die militärischen Fähigkeiten dieser Gruppen insgesamt unklar sind, haben die Taliban immer wieder signalisiert, dass sie die von ihnen ausgehende Bedrohung ernst nehmen, indem sie eine große Zahl von Truppen und Militärführern in den nördlichen Provinzen stationiert haben (ACAPS 1.10.2023). Die AFF war im dritten Quartal 2023 die aktivste Gruppe, auch wenn ihre Angriffe weiterhin von geringem Umfang waren, während die NRF deutlich weniger aktiv war als 2022 und in ihrer traditionellen Hochburg Panjsher keine Angriffe verübte (UNGA 1.12.2023).
Rechtsschutz / Justizwesen
Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia (Hakimi A./Sadat M. 2020). Informelle Rechtssysteme zur Schlichtung von Streitigkeiten waren weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Dies ist nach wie vor der Fall, auch wenn die Taliban seit ihrer Machtübernahme versucht haben, einige lokale Streitbeilegungspraktiken zu kontrollieren (FH 24.2.2022a; vgl. STDOK/VQ AFGH 4.2024). Nach 23 Jahren Krieg (1978-2001) und dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 konnte Afghanistan 2004 eine neue Verfassung verkünden, die sowohl islamische als auch modern-progressive Werte enthält. Die juristischen und politikwissenschaftlichen Fakultäten sowie die Scharia waren zwei Institutionen, die zur Ausbildung des Justizpersonals beitrugen, indem sie Hunderte von jungen Männern und Frauen ausbildeten, die später als Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte tätig waren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die internationale Gemeinschaft zahlreiche Entwicklungsprogramme durchgeführt, die auf den Wiederaufbau des afghanischen Rechtssystems und den Ausbau der Kapazitäten des Personals der Justizbehörden abzielen. Darüber hinaus hat die [Anm.: frühere] afghanische Regierung ein Justizverwaltungssystem eingeführt, das alle Justizeinrichtungen dazu verpflichtet, ihre Fälle und Verfahren aufzuzeichnen und zu dokumentieren (STDOK/Nassery 4.2024). Nach ihrem Sturz im Jahr 2001 gelang es den Taliban, in den von ihnen kontrollierten, meisten ländlichen, Gebieten Gerichte einzurichten und den Menschen den Zugang zur Rechtsprechung auf lokaler Ebene zu erleichtern. Dies geschah zu einer Zeit, als die staatlichen Justizorgane aufgrund der weitverbreiteten Korruption ihre Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung weitgehend verloren hatten. Daher zogen die Menschen es vor, sich an die Gerichte der Taliban zu wenden, anstatt an die Gerichte der Regierung (STDOK/Nassery 4.2024; vgl. AA 22.10.2021). In den vergangenen zwanzig Jahren gelang es dem Justizsystem der Taliban, mit seinen praktischen Maßnahmen das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Die Taliban-Richter fungierten sowohl als Richter im juristischen Bereich als auch als Gelehrte (ulama) im religiösen Bereich. Die Taliban-Richter absolvierten ihre Ausbildung an Deobandi-Schulen in Pakistan und Afghanistan, die sich hauptsächlich auf die hanafitische Rechtsprechung stützten (STDOK/Nassery 4.2024). Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 übernahmen sie die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes (Rawadari 4.6.2023; vgl. AA 26.6.2023) und setzten die Verfassung von 2004 außer Kraft (UNGA 28.1.2022). Bisher haben sich die Taliban noch nicht zu den Gesetzen geäußert, insbesondere nicht zu den Strafgesetzen, zur nationalen Sicherheit und zu den Gerichten (STDOK/Nassery 4.2024). Ein Experte für islamisches Recht schließt aus den Äußerungen der Taliban, dass sie diese Gesetze und Rechtsvorschriften in den meisten Bereichen, insbesondere Strafrecht, Familienrecht, Jugend- und Frauenrechte, ignorieren und erwartet, auch als Folge der Auflösung unabhängiger Institutionen wie der Association of Defense Lawyers und der Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC), weitere schwerwiegende Probleme für die Rechtsprechung in Afghanistan (STDOK/Nassery 4.2024). Den Taliban zufolge bildet die hanafitische Rechtsprechung die Grundlage für das Rechtssystem (USDOS 15.5.2023; vgl. STDOK/Nassery 4.2024), und derzeit verfügt das Land nicht über einen klaren und kohärenten Rechtsrahmen, ein Justizsystem oder Durchsetzungsmechanismen. Den Taliban zufolge bleiben Gesetze, die unter der Regierung vor August 2021 erlassen wurden, in Kraft, sofern sie nicht gegen die Scharia verstoßen (USDOS 15.5.2023; vgl. AA 26.6.2023). Die Taliban-Führer zwingen den Bürgern ihre Politik weitgehend durch Leitlinien oder Empfehlungen auf, in denen sie akzeptable Verhaltensweisen festlegen (USDOS 15.5.2023; vgl. Rawadari 4.6.2023), die sie aufgrund ihrer Auslegung der Scharia und der vorherrschenden kulturellen Normen, die die Taliban für akzeptabel halten, rechtfertigen (USDOS 15.5.2023). Einem Experten für islamisches Recht zufolge betrafen die Änderungen im afghanischen Justizsystem seit der Machtübernahme der Taliban vor allem formale und administrative Bereiche, aber keine konkreten Änderungen in der Rechtsprechung der Gerichte (STDOK/Nassery 4.2024). So wurden beispielsweise Richter und Verwaltungsangestellte der Gerichte durch Angehörige der Taliban ersetzt, von denen die meisten nicht über ausreichend juristische Kenntnisse und Erfahrungen mit der Arbeit an den Gerichten verfügten (STDOK/Nassery 4.2024; vgl. AA 26.6.2023). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Rawadari sind die meisten Richter und „Muftis“ an Taliban-Gerichten Studenten oder Absolventen religiöser Koranschulen, vor allem in Pakistan. Einige der derzeitigen Richter waren während des Krieges als Richter in den von den Taliban kontrollierten Gebieten tätig. Nur wenige Richter, beispielsweise in den Provinzen Herat und Panjsher, verfügen über eine formale Hochschulausbildung und haben an juristischen oder Scharia-Fakultäten von Universitäten studiert (Rawadari 4.6.2023). Des weiteren kam es zur Absetzung von Richterinnen und Anwältinnen und es werden keine Lizenzen mehr an Strafverteidigerinnen vergeben (STDOK/Nassery 4.2024). Die Taliban haben zwar nicht ausdrücklich behauptet, bestimmte Gesetze außer Kraft zu setzen, aber sie haben immer wieder betont, dass sie im Einklang mit der Scharia regieren und jedes Gesetz ablehnen, das ihr zuwiderläuft (USDOS 15.5.2023; vgl. AA26.6.2023). Taliban-Mitglieder haben erklärt, dass sie nur die Teile der Verfassungen von 2004 und 1964 befolgen, die nicht im Widerspruch zur Scharia stehen. Einige Beobachter weisen auch darauf hin, dass keine der beiden Verfassungen in vollem Umfang in Kraft ist, sodass sie nur begrenzte Bedeutung für den geltenden Rechtsrahmen haben. Diesen Beobachtern zufolge wäre jede Abweichung von der Verfassung von 2004 insofern von Bedeutung, als diese besagt, dass Anhänger anderer Religionen als des Islams „ihren Glauben frei ausüben und ihre religiösen Riten innerhalb der Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen vollziehen können“, eine Bestimmung, die die Taliban ablehnen (USDOS 15.5.2023). Die Taliban haben Anfang Juli 2023 ein Tonband veröffentlicht, das dem Emir Hibatullah Akhundzada zugeschrieben wird, der offenbar eine Predigt nach dem Eid al-Adha-Gebet am Mittwoch in Kandahar gehalten hat. Darin verkündet dieser, dass ein neues Rechtssystem auf der Grundlage der Scharia und Hanafi-Rechtsprechung von den entsprechenden Ministerien und der Talibanführung ausgearbeitet wird. Damit werden die unter der ehemaligen Verfassung geltenden Gesetze, u. a. auch gesonderte schiitische Rechtsprechung, ersetzt. Er erklärte, in Afghanistan gebe es jetzt ein vollständiges islamisches System, die Sicherheit sei gewährleistet, und in keinem Teil des Landes herrsche Unordnung oder Ungehorsam. Die meisten Angelegenheiten des Landes werden nun auf der Grundlage von Richtlinien und Dekreten geregelt, die dem Emir zugeschrieben werden. Er sagte, „unter der Herrschaft des Islamischen Emirats wurden konkrete Maßnahmen ergriffen, um Frauen von vielen traditionellen Unterdrückungen zu befreien“. In der Paschto- und Dari-Fassung der Botschaft begrüßt der oberste Taliban-Führer auch die Einführung von Scharia-Gerichten und -Praktiken, einschließlich Qisas (z. B. Auspeitschungen oder Hinrichtungen), die die Öffentlichkeit mit eigenen Augen sieht (BAMF 31.12.2023). Im November 2022 ordnete Taliban-Staatsoberhaupt Emir Hibatullah Akhundzada die Umsetzung der Scharia inklusive Körperstrafen wieder an (AA 26.6.2023). Seitdem wurden zahlreiche öffentliche Auspeitschungen vorgenommen (AP 20.6.2023; vgl. AI 23.2.2024, AA 26.6.2023). Diese Strafe wurde u. a. für Drogen- und Alkoholkonsum (AA 26.6.2023) oder für „moralische“ Verbrechen verhängt (AMU 12.7.2023; vgl. BAMF 31.12.2023). Am 7.12.2022 kam es zur ersten öffentlichen Hinrichtung durch die Taliban seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan (AI 7.12.2022) und im Juni 2023 (AP 20.6.2023; vgl. AJ 20.6.2023) sowie im Februar 2024 kam es zu weiteren Hinrichtungen (AI 23.2.2024; vgl. ABC News 26.2.2024).
Todesstrafe
Die Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung der Taliban im August 2021 sehen die Verhängung der Todesstrafe in bestimmten Fällen vor (AA 26.6.2023; vgl. UNAMA 8.5.2023). Zwischen 2001 und dem 15.8.2021 hat die Regierung der Islamischen Republik Afghanistan Berichten zufolge mindestens 72 Personen hingerichtet (UNAMA 8.5.2023).
Seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan am 15.8.2021 haben die Taliban de facto die Körperstrafen und die Todesstrafe eingeführt (UNAMA 8.5.2023). Die Taliban haben hierzu bisher keine gesetzlichen Regelungen erlassen. Die sowohl während des ersten Taliban-Regimes, als auch vor dem Zusammenbruch der Republik in von den Taliban kontrollierten Gebieten angewandte Rechtspraxis auf Grundlage ihrer Auslegung der Scharia, sieht die Todesstrafe vor (AA 26.6.2023). Ende November 2022 ordnete der oberste Führer der Taliban, Haibatullah Akhundzada, allerdings Richtern an, Strafen zu verhängen, die öffentliche Hinrichtungen, öffentliche Amputationen und Steinigungen umfassen können (BBC 14.11.2022; vgl. Guardian 14.11.2022, UNAMA 8.5.2023).
Am 7.12.2022 fand die erste öffentliche Hinrichtung der Taliban in Afghanistan seit der Machtübernahme im August 2021 statt (AA 26.6.2023; vgl. BBC 7.12.2022, REU 7.12.2022). Der Hingerichtete soll gestanden haben, vor fünf Jahren bei einem Raubüberfall einen Mann mit einem Messer getötet und dessen Motorrad und Telefon gestohlen zu haben (RFE/RL 7.12.2022; vgl. BBC 7.12.2022, REU 7.12.2022). Im Juni 2023 wurde in Laghman ein Mann durch die Taliban hingerichtet, der für schuldig befunden wurde, im vergangenen Jahr fünf Menschen ermordet zu haben (AP 20.6.2023; vgl. AJ 20.6.2023). Im Februar 2024 vollstreckten die Taliban eine Doppelhinrichtung in Ghazni, bei der Angehörige der Opfer von Messerstechereien vor Tausenden von Zuschauern mit Gewehren auf zwei verurteilte Männer schossen (AI 23.2.2024; vgl. ABC News 26.2.2024).
Religionsfreiheit
Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 7 bis 15 % der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 1.2.2024; vgl. AA 26.6.2023). Andere Glaubensgemeinschaften machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus (CIA 1.2.2024; vgl. USDOS 15.5.2023). Die Zahl der Ahmadiyya-Muslime im Land geht in die Hunderte. Zuverlässige Schätzungen über die Gemeinschaften der Baha'i und der Christen sind nicht verfügbar. Es gibt eine geringe Anzahl von Anhängern anderer Religionen. Es gibt keine bekannten Juden im Land (USDOS 15.5.2023).
Anhänger des Baha'i-Glaubens leben vor allem in Kabul und in einer kleinen Gemeinde in Kandahar. Im Mai 2007 befand der Oberste Gerichtshof, dass der Glaube der Baha'i eine Abweichung vom Islam und eine Form der Blasphemie sei. Auch wurden alle Muslime, die den Baha'i-Glauben annehmen, zu Abtrünnigen erklärt. Internationalen Quellen zufolge leben Baha'is weiterhin in ständiger Angst vor Entdeckung und zögerten, ihre religiöse Identität preiszugeben (USDOS 15.5.2023).
Sikhs sehen sich seit Langem Diskriminierungen im mehrheitlich muslimischen Afghanistan ausgesetzt (EUAA 23.3.2022; vgl. DW 8.9.2021). Als die Taliban im August 2021 nach dem Abzug der US-Truppen die Macht in der Hauptstadt wiedererlangt hatten, floh eine weitere Welle von Sikhs aus Afghanistan (EUAA 23.3.2022; vgl. TrI 12.11.2021). Nach der Machtübernahme gaben die Taliban öffentliche Erklärungen ab, wonach deren Rechte geschützt werden würden (EUAA 23.3.2022; vgl. USCIRF 3.2023, USDOS 15.5.2023). Trotz dieser Zusicherungen äußerten sich Sikh-Führer in Medienerklärungen im Namen ihrer Gemeinschaft jedoch besorgt über deren Sicherheit (EUAA 23.3.2022; vgl. USDOS 15.5.2023). Berichten zufolge lebten mit Ende 2022 nur noch neun Sikhs und Hindu in Afghanistan (USDOS 15.5.2023).
Die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime waren und sind durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (USCIRF 3.2023; vgl. AA 26.6.2023). Mit der rigorosen Durchsetzung ihrer strengen Auslegung der Scharia gegenüber allen Afghanen verletzen die Taliban die Religions- und Glaubensfreiheit von religiösen Minderheiten (USCIRF 3.2023). Nominal haben die Taliban religiösen Minderheiten die Zusicherung gegeben, ihre Religion auch weiterhin ausüben zu können (USCIRF 3.2023; vgl. AA 26.6.2023); insbesondere der größten Minderheit, den überwiegend der schiitischen Konfession angehörigen Hazara. In der Praxis ist der Druck auf Nicht-Sunniten jedoch hoch und die Diskriminierung von Schiiten im Alltag verwurzelt (AA 26.6.2023).
Trotz ständiger Versprechen, alle in Afghanistan lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften zu schützen, ist die Taliban-Regierung nicht in der Lage oder nicht willens, religiöse und ethnische Minderheiten vor radikaler islamistischer Gewalt zu schützen, insbesondere in Form von Angriffen der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) und Fraktionen der Taliban selbst (USCIRF 3.2023).
In einigen Gebieten Afghanistans (unter anderem Kabul) haben die Taliban alle Männer zur Teilnahme an den Gebetsversammlungen in den Moscheen verpflichtet und/oder Geldstrafen gegen Einwohner verhängt, die nicht zu den Gebeten erschienen sind (RFE/RL 19.1.2022) bzw. gedroht, dass Männer, die nicht zum Gebet in die Moschee gehen, strafrechtlich verfolgt werden könnten (BAMF 10.1.2022; vgl. RFE/RL 19.1.2022).
Schiiten
Gemäß Vertretern der Religionsgemeinschaft sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jaafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90 % von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (USDOS 15.5.2023).
Trotz ständiger Versprechen, die Hazara zu schützen, kommt es immer wieder zu Angriffen auf diese durch den Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) und Fraktionen der Taliban selbst (USCIRF 3.2023).
Die Taliban haben der schiitischen Gemeinschaft auch untersagt, während des islamischen Neujahrsmonats Muharram religiöse Fahnen und Banner zu hissen, die üblichen Erfrischungsstände aufzustellen, in Konvois zu fahren und in öffentlichen Verkehrsmitteln Klagegedichte zu rezitieren (BAMF 31.12.2023; vgl. KaN 25.7.2023). Bereits im Jahr 2022 strich das Ministerium für Arbeit und Soziales der Taliban den Feiertag Aschura [Anm.: 10. Tag des Monats Muharram. An diesem Tag gedenken die Schiiten des Todes des für sie dritten Imams Husain in der Schlacht von Kerbela. Er gilt als Märtyrer, dessen Ermordung sowohl für Schiiten und Aleviten als auch generell in der Geschichte des Islam ein besonderes Ereignis bedeutet (Crisis 24 24.7.2023)] aus dem afghanischen Kalender. Diese Entscheidung der Taliban wurde von afghanischen Bürgern, insbesondere schiitischen, scharf kritisiert (Afintl 13.7.2023). Trotz der weitverbreiteten Kritik und Verurteilung hat das Innenministerium der Taliban versichert, dass die Gruppe ernsthafte Maßnahmen ergriffen hat, um die Sicherheit bei den Trauerzeremonien und Paraden während des Muharram-Festes zu gewährleisten (KaN 25.7.2023; vgl. Afintl 13.7.2023). Während einer Gedenkfeier zu Aschura im Jahr 2023 wurden in der Provinz Ghazni drei Menschen, darunter ein Kind, durch die Taliban getötet. Sechs weitere Menschen wurden dabei verletzt (AMU 29.7.2023; vgl. 8am 29.7.2023). Eine andere Quelle berichtet von vier Toten und bis zu 33 Verletzten. Das Gouverneursbüro der Taliban in Ghazni hat in einer Erklärung die Aschura-Teilnehmer als "Randalierer" bezeichnet und sie beschuldigt, die Sicherheit zu stören (KaN 31.7.2023).
Apostasie, Blasphemie, Konversion
Es liegen keine zuverlässigen Schätzungen zur Anzahl der Christen in Afghanistan vor (USDOS 15.5.2023), jedoch gibt es Schätzungen, wonach sich etwa 10.000 bis 12.000 Christen im Land befinden (USCIRF 8.2022; vgl. ICC 29.9.2021). Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (AA 26.6.2023). Nach Angaben der NGO International Christian Concern arbeiten die Taliban daran, das Christentum vollständig aus dem Land zu entfernen, und behaupten sogar, dass es in Afghanistan keine Christen gibt. Viele Christen sind in den Untergrund gegangen, aus Angst vor den Gerichten (ICC 12.7.2023) oder Hausdurchsuchungen der Taliban (USDOS 15.5.2023).
Der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion ist nach der vor Gericht geltenden Hanafi-Rechtsschule Apostasie. Proselytenmacherei, also der Versuch, Muslime zu einer anderen Religion zu bekehren, ist nach der hanafitischen Rechtsschule, die vor Gericht gilt, ebenfalls illegal. Diejenigen, die der Proselytenmacherei beschuldigt werden, werden mit der gleichen Strafe belegt wie diejenigen, die vom Islam konvertieren. Auch Blasphemie, zu der unter anderem islamfeindliche Schriften oder Äußerungen gehören können, ist nach der hanafitischen Schule ein Kapitalverbrechen. Angeklagte Gotteslästerer, einschließlich Apostaten, haben drei Tage Zeit, um zu widerrufen, sonst droht ihnen der Tod, obwohl es nach der Scharia kein klares Verfahren für einen Widerruf gibt. Einige Hadithe (Aussprüche oder Überlieferungen des Propheten Muhammad, die als Quelle des islamischen Rechts dienen) empfehlen Gespräche und Verhandlungen mit einem Abtrünnigen, um ihn zum Widerruf zu bewegen (USDOS 15.5.2023).
Vor der Machtübernahme durch die Taliban berichteten christliche Vertreter, dass die öffentliche Meinung, wie sie in den sozialen Medien und anderswo zum Ausdruck kam, Konvertiten zum Christentum und der Idee christlicher Missionierung weiterhin feindselig gegenüberstand. Sie berichteten von Druck und Drohungen, vor allem vonseiten der Familie, dem Christentum abzuschwören und zum Islam zurückzukehren. Sie sagten, dass Christen aus Angst vor gesellschaftlicher Diskriminierung und Verfolgung weiterhin allein oder in kleinen Gemeinden, manchmal mit zehn oder weniger Personen, in Privathäusern beteten. Die Daten, Zeiten und Orte dieser Gottesdienste wurden häufig geändert, um nicht entdeckt zu werden. Öffentliche christliche Kirchen gibt es weiterhin nicht. Nach der Machtübernahme durch die Taliban berichten Christen über Razzien der Taliban in den Häusern christlicher Konvertiten, selbst nachdem diese aus dem Land geflohen oder ausgezogen waren. Christliche Quellen gaben an, dass die Machtübernahme durch die Taliban intolerante Verwandte ermutigt, ihnen Gewalt anzudrohen und die Konvertiten zu verraten, falls sie das Christentum weiter praktizierten (USDOS 2.6.2022).
Hazara
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 15 % der afghanischen Bevölkerung aus (AA 26.6.2023; vgl. BAMF 5.2022). Die Mehrheit der Hazara lebt im Hazarajat (oder „Land der Hazara“) (MRG 5.1.2022; vgl. EB o.D., BAMF 5.2022), das im zerklüfteten zentralen Bergland Afghanistans liegt und eine Fläche von etwa 50.000 Quadratkilometern umfasst. Die Region erstreckt sich auf die Provinzen Bamyan und Daikundi sowie mehrere angrenzende Distrikte in den Provinzen Ghazni, Uruzgan, (Maidan) Wardak, Parwan, Baghlan, Samangan und Sar-e Pul. Es gibt auch sunnitische Hazara-Gemeinschaften in den Provinzen Badghis, Ghor, Kunduz, Baghlan, Panjsher und anderen Gebieten im Nordosten Afghanistans (MRG 5.1.2022). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (JP o.D.; vgl. BAMF 5.2022), auch bekannt als Jaafari-Schiiten (USDOS 15.5.2023). Eine Minderheit der Hazara ist ismailitisch (USDOS 15.5.2023; vgl. MRG 5.1.2022). Ismailitische Hazara leben in den Provinzen Parwan, Baghlan und Bamyan. Darüber hinaus sind sowohl schiitische als auch sunnitische Hazara in erheblicher Zahl in mehreren städtischen Zentren Afghanistans vertreten, darunter Kabul, Mazar-e Sharif und Herat (MRG 5.1.2022). Die Taliban haben insbesondere den überwiegend der schiitischen Konfession angehörigen Hazara, die während des ersten Taliban-Regimes benachteiligt und teilweise verfolgt wurden, Zusicherungen gemacht (AA 26.6.2023). Dennoch berichtete AI (Amnesty International) bereits im Juli 2021 über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni, nachdem die Taliban dort die Kontrolle übernommen hatten (AI 19.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021b), und im August 2021 sollen nach Angaben der NGO in der Provinz Daikundi 13 Angehörige der Hazara-Minderheit, darunter ein 17-jähriges Mädchen, von den Taliban getötet worden sein (AI 5.10.2021; vgl. BBC 5.10.2021). Es gibt weiters Berichte, dass Angehörige der Taliban beschuldigt werden, Zwangsumsiedlungen, vor allem unter Angehörigen der schiitischen Hazara, vorzunehmen, um das Land unter ihren eigenen Anhängern aufzuteilen. Die Quellen verweisen auf Vertreibungen in Daikundi, Uruzgan, Kandahar, Helmand und Balkh (HRW 22.10.2021). In der Provinz Daikundi sollen im September 2021 ca. 400 Hazara-Familien gewaltsam von ihrem Land vertrieben worden sein. Laut Erkenntnissen der UN konnten die meisten mittlerweile wieder zurückkehren (AA 26.6.2023). In Helmand und Balkh wurden Anfang Oktober „Hunderte von Hazara-Familien“, und in 14 Dörfern in Daikundi und Uruzgan im September mindestens 2.800 Hazara-Bewohner vertrieben (HRW 22.10.2021; vgl. USDOS 12.4.2022a). Nach Einschätzung von HRW beruht die Diskriminierung von Hazara bei illegaler Landnahme v. a. auf lokalen Konflikten, wird aber von der Taliban-Führung toleriert. Es gibt darüber hinaus weitere Berichte über lokale Diskriminierung, u. a. durch Enteignungen und besondere Besteuerung, die von der Taliban-Regierung mindestens geduldet wird (AA 26.6.2023). So kam es auch im Frühjahr 2022 dazu, dass Hazara ihre Häuser nach Streitigkeiten mit Nomaden verlassen mussten (AAN 11.1.2023). Am 2.9.2023 wurde berichtet, dass die Taliban Hazara in der Provinz Maidan Wardak befohlen haben, Kutschis eine Entschädigung für den Verlust ihres Viehs zu zahlen. Berichten zufolge ist der Viehbestand der Kutschis vor einigen Jahren in dem Gebiet verschwunden. Auch hier wurde den Taliban Voreingenommenheit vorgeworfen (KaN 2.9.2023). Auch sind Hazara weiterhin besonders gefährdet, Opfer von Anschlägen des Islamischen Staats Khorasan Provinz (ISKP) zu werden (AA 26.6.2023: vgl. HRW 25.10.2021). So kam es auch im Jahr 2022 zu Angriffen des ISKP, welche auf Hazara abgezielt haben (AA 20.7.2022; vgl. UNGA 14.9.2022, HRW 12.1.2023). Beispielsweise wurden bei einem Anschlag auf eine schiitische Moschee in Mazar-e Sharif imApril 2022 mindestens 31 Menschen getötet (UNGA15.6.2022; vgl. PAN 23.4.2022). Am 24.1.2022 wurden bei einem ISKP-Anschlag im Hazara-Viertel HajiAbbas in Herat sieben Menschen getötet und zehn Weitere verletzt (8am 24.1.2022; vgl. REU 23.1.2022). Ebenso in Herat kam es am 1.4.2022 im Hazara-Viertel Jebrail zu einem Bombenanschlag, bei dem 12 junge Männer getötet und 25 weitere verletzt wurden (8am 6.4.2022; vgl. TN 24.1.2023). Mindestens 26 junge Hazara wurden bei zwei Angriffen auf Bildungseinrichtungen in Kabul am 19.4.2022 getötet (8am 20.10.2022; vgl. AN 19.4.2022). Acht Menschen wurden im August in Kabul getötet, als eine Bombe in der Nähe einer schiitischen Moschee explodierte (VOA 5.8.2022; vgl. REU 5.8.2022). Am 13.10.2023 kam es zum Freitagsgebet in der schiitischen Imam-Zaman-Moschee in der Hauptstadt Pul-e Khumri in Baghlan zu einer Explosion (Afintl 13.10.2023; vgl. RFE/RL 14.10.2023). Berichten zufolge sollen bis zu 30 Personen getötet worden sein (BAMF 31.12.2023). Der ISKP bekannte sich zu der Tat (BAMF 31.12.2023; vgl. RFE/RL 14.10.2023). In einem mehrheitlich von Hazara bewohnten Viertel in Herat (BAMF 31.12.2023) wurden am 1.12.2023 bei einem Angriff unbekannter bewaffneter Personen mindestens sechs Menschen, darunter zwei Geistliche, getötet und drei weitere verwundet (KP 1.12.2023; vgl. PAN 1.12.2023). Berichten zufolge wurden in den letzten anderthalb Monaten mindestens vier Hazara-Kleriker oder religiöse Führer in Herat getötet (KP 1.12.2023). Zwischen Oktober 2023 und Jänner 2024 kam es zu einer Reihe von IED (Improvised Explosive Devices)-Angriffen im vornehmlich von Hazara besiedelten Distrikt Dasht-e Barchi, für die der ISKP die Verantwortung übernahm. So wurden am 26.10.2023 bei einem Angriff auf einen Sportklub mindestens vier Menschen getötet (FR24 27.10.2023; vgl. VOA 28.10.2023). Bei einem Angriff auf einen Minibus am 7.11.2023 wurden mindestens sieben Menschen getötet und etwa 20 verwundet (UNAMA 22.1.2024; vgl. TN 7.11.2023). Am 6.1.2024 kam es zu einer weiteren Explosion eines Minibusses (VOA 6.1.2024; vgl. RFE/RL 7.1.2024). Die Angaben zu den Opferzahlen schwanken, jedoch wurden nach Angaben von UNAMA mindestens 25 Menschen getötet oder verwundet (RFE/RL 7.1.2024; vgl. AP 7.1.2024).
Grundversorgung und Wirtschaft
Nach der Machtübernahme verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage massiv (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023, UNDP 18.4.2023), was vor allem auch mit der Einstellung vieler internationaler Hilfsgelder zusammenhängt (WEA 17.7.2022; vgl. UNDP 18.4.2023, NH 31.1.2024). Die humanitäre Lage bleibt angespannt (AA 26.6.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Während Afghanistan gute Fortschritte bei der Aufrechterhaltung von Stabilität und Sicherheit gemacht zu haben scheint, hat sich die afghanische Wirtschaft von dem erheblichen Produktionsrückgang seit 2020 nicht erholt. Dies ist größtenteils auf eingeschränkte Bankdienstleistungen und Operationen des Finanzsektors, Unterbrechungen in Handel und Gewerbe, geschwächte und isolierte wirtschaftliche Institutionen und fast keine ausländischen Direktinvestitionen oder Geberunterstützung für die produktiven Sektoren zurückzuführen (UNDP 12.2023). Fast zwei Drittel der afghanischen Haushalte haben auch zwei Jahre nach dem Regimewechsel mit einem extrem hohen Maß an Entbehrungen zu kämpfen. Im Jahr 2023 sind laut einem Bericht von UNDP (United Nations Development Programme) 69% der afghanischen Bevölkerung existenzgefährdet, da sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, lebensnotwendigen Gütern, angemessenen Lebensbedingungen und Beschäftigungsmöglichkeiten haben, die für ein Leben auf dem Existenzminimum notwendig sind. Dies ist eine Verbesserung um 19% im Vergleich zu den 85 % im Jahr 2022 (UNDP 12.2023). Laut einem Bericht des World Food Programmes hatten im Dezember 2023 38% der Haushalte im Rahmen der Nahrungsmittelaufnahme hohe Bewältigungsstrategien aufzuwenden, was einen Rückgang um 5% gegenüber September 2023 bedeutet. Zu diesen verbrauchsorientierten Bewältigungsstrategien zählen beispielsweise der Kauf billigerer Nahrungsmittel, das Borgen von Lebensmitteln von Verwandten oder Freunden, die Einschränkung der Portionsgröße bei Erwachsenen oder das Reduzieren der Anzahl der Mahlzeiten pro Tag (WFP 11.2.2024). Nach Angaben der Taliban-Behörden wurden die Gehälter aller Staatsbediensteten, einschließlich der Frauen, die zu Hause bleiben mussten, weitergezahlt. Das Taliban-Ministerium für Märtyrer- und Behindertenangelegenheiten gab Anfang September bekannt, dass es die Zahlungen für die Familien von Märtyrern und Behinderten aus den Zeiten der Republik und der de facto-Taliban-Behörde abgewickelt habe, obwohl die Pensionen der pensionierten Staatsbediensteten aus der Zeit der Republik nicht ausgezahlt wurden (UNGA 1.12.2023). Laut einem Rechtsanwalt in Kabul ist das Rentensystem in Afghanistan derzeit ausgesetzt. Mit Stand Februar 2024 gibt es keine wirksamen Vorschriften und Gesetze der Taliban, die zeigen, wie ein Rentensystem funktionieren soll (RA KBL 19.2.2024). Seit April 2023 ist ein anhaltender deflationärer Trend zu beobachten, der durch schwindende Ersparnisse der Haushalte, geringere öffentliche Ausgaben, höhere Arbeitslosigkeit und negative Auswirkungen auf die Einkommen der Landwirte aufgrund des Verbots des Opiumanbaus gekennzeichnet ist (WFP 11.2.2024). Insgesamt haben sich die Lebensbedingungen der Haushalte im Jahr 2023 leicht verbessert, was größtenteils auf internationale Hilfe zurückzuführen ist. Trotz eines Anstiegs des durchschnittlichen monatlichen Realeinkommens der Haushalte um 76% im Vergleich zu 2022 ist der Subsistenzbedarf von mehr als der Hälfte der Haushalte immer noch höher als ihr Einkommen (UNDP 12.2023). Frauen und Mädchen sind unverhältnismäßig stark von der sozioökonomischen Krise betroffen (UNDP 12.2023) und sehen sich größeren Hindernissen bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und finanziellen Mitteln gegenüber (HRW 11.1.2024). 2023 ist der Beschäftigungsanteil der erwerbstätigen weiblichen Haushaltsmitglieder über alle Beschäftigungsarten hinweg um fast die Hälfte zurückgegangen, während der Beschäftigungsanteil der erwerbstätigen männlichen Haushaltsmitglieder im gleichen Zeitraum um 11% gestiegen ist (UNDP 12.2023). Die Politik der Taliban, Frauen von den meisten bezahlten Tätigkeiten auszuschließen, hat die Situation noch verschlimmert (HRW 11.1.2024; vgl. UNDP 18.4.2023), vor allem für Haushalte, in denen Frauen die einzigen oder wichtigsten Lohnempfängerinnen waren. In den Fällen, in denen die Taliban Frauen die Arbeit erlaubten, wurde dies durch repressive Auflagen fast unmöglich gemacht, wie z. B., dass Frauen von einem männlichen Familienmitglied zur Arbeit begleitet werden und dort während des gesamten Arbeitstages beaufsichtigt werden müssen (HRW 11.1.2024). Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchgeführten Studie gaben 90% der Befragten an, Schwierigkeiten bei der Deckung der Grundbedürfnisse zu haben (ATR/STDOK 3.2.2023). Eine weitere Studie, die im Januar 2023 vom Assessment Capacities Project (ACAPS) in der Provinz Kabul durchgeführt wurde, ergab, dass die Haushalte sowohl in den ländlichen als auch in den städtischen Gebieten Kabuls Schwierigkeiten hatten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Als dringendste Probleme nannten die Haushalte unsichere Lebensmittelversorgung und unzureichende Kleidung für die Wintersaison (ACAPS 16.6.2023).
Naturkatastrophen
Afghanischen Haushalte sind nach wie vor stark von Naturkatastrophen betroffen und anfällig für Klimaschocks. Afghanistan hat unter den Ländern mit niedrigem Einkommen in den letzten 40 Jahren die meisten Todesopfer durch Naturkatastrophen zu beklagen und steht weltweit auf Platz 5 der klimatisch am stärksten gefährdeten Länder (UNDP 18.4.2023). Afghanistan erlebte im Jahr 2022 Naturkatastrophen (UNOCHA 1.2023) von denen allein zwischen Jänner 2022 und Jänner 2023 mehr als 241.052 Menschen in 33 von 34 Provinzen betroffen waren. Afghanistan ist anfällig für Erdbeben, Überschwemmungen, Dürre, Erdrutsche und Lawinen. Mehr als drei Jahrzehnte Konflikt, gepaart mit Umweltzerstörung und unzureichenden Investitionen in Strategien zur Verringerung des Katastrophenrisikos, haben dazu beigetragen, dass die afghanische Bevölkerung immer schwerer mit Naturkatastrophen fertig wird. Im Durchschnitt sind jedes Jahr 200.000 Menschen von solchen Katastrophen betroffen (UNOCHA 2.2.2023). Nach einem Bericht von UNOCHA erlebt Afghanistan 2024 das dritte Dürrejahr in Folge, während 30 von 34 Provinzen mit einer schlechten oder sehr schlechten Wasserqualität zu kämpfen haben (UNOCHA 7.1.2024). Im März 2023 kam es zu einem schweren Erdbeben im Norden Afghanistans (REU 22.3.2023; vgl. FR24 22.3.2023). Berichten zufolge kamen bei Überschwemmungen im Juli 2023 mindestens 47 Menschen in elf Provinzen ums Leben (PAN 27.7.2023). Die durch heftige saisonale Regenfälle verursachten Sturzfluten haben Häuser sowie Hunderte von Quadratkilometern landwirtschaftlicher Nutzfläche teilweise oder vollständig zerstört (UNHCR 1.8.2023; vgl. AJ 24.7.2023). Betroffene Provinzen waren vor allem Kabul, Maidan Wardak und Ghazni (AJ 24.7.2023), aber auch die Provinzen Kunar, Paktia, Khost, Nuristan, Nangarhar, Paktika und Helmand hatten Opfer zu verzeichnen (PAN 27.7.2023). Am 7.10.2023 kam es zu einem schweren Erdbeben in Herat, gefolgt von zusätzlichen Nachbeben (UN News 16.10.2023; vgl. UNOCHA 16.10.2023). Das Epizentrum des Bebens war der Distrikt Zendahjan (AP 12.10.2023), den UNOCHA zusammen mit den Distrikten Herat und Enjil als die am stärksten betroffenen Regionen identifizierte (UNOCHA 20.10.2023). Berichten zufolge wurden ganze Dörfer zerstört (CNN 15.10.2023), und Tausende Menschen getötet (AP 11.10.2023; vgl. AAN 11.11.2023). Nach Angaben von UNOCHA waren mehr als 275.000 Menschen in neun Distrikten direkt von den Erdbeben betroffen (UNOCHA 16.11.2023a), die mindestens 1.480 Todesopfer und 1.950 Verletzte forderten (UNOCHA 16.11.2023b). Mehr als 8.429 Häuser wurden zerstört und weitere 17.088 stark beschädigt (UNOCHA 20.10.2023).
Armut und Lebensmittelunsicherheit
Afghanistan gehört zu den Ländern mit der weltweit höchsten Prävalenz von unzureichender Ernährung. Der Hunger ist in erster Linie auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen, die Afghanistan seit August 2021 erfasst hat. Hinzu kommen jahrzehntelange Konflikte, Klimaschocks und starke Einschränkungen der Rechte von Frauen und Mädchen auf Arbeit und Hochschulbildung (WFP 25.6.2023). Die Ernährungsunsicherheit in Afghanistan ist weiterhin hoch (IPC 14.12.2023; vgl. WFP 25.6.2023). Im Oktober 2023, während der Nacherntezeit, waren etwa 13,1 Millionen Menschen, d. h. 29 % der Gesamtbevölkerung, mit einem hohen Maß an akuter Ernährungsunsicherheit konfrontiert (IPC-Phase 3 oder höher) (IPC 14.12.2023). Laut einem Bericht des World Food Programme (WFP) sank der Anteil der Haushalte mit mangelhaftem Nahrungsmittelverbrauch im Juni 2023 kurzfristig auf 48%, stieg jedoch im Dezember wieder auf 54%, wobei Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand sowie Haushalte mit Menschen mit Behinderung überproportional von den negativen Ergebnissen beim Lebensmittelkonsum betroffen sind (WFP 11.2.2024). Zu den Hauptursachen dieser akuten Ernährungsunsicherheit gehören unter anderem die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen (IPC 14.12.2023; vgl. WFP 25.6.2023), die hohe Arbeitslosigkeit sowie die anhaltend hohen Preise für Lebensmittel und landwirtschaftliche Betriebsmittel. Die negativen Auswirkungen der extremen und wechselhaften klimatischen Bedingungen, insbesondere der mehrjährigen Dürre zwischen 2021 und 2023, waren auch 2023 noch zu spüren. Darüber hinaus gefährden andere Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Erdbeben die begrenzten Bewältigungskapazitäten der Bevölkerung, was zu einer anhaltenden ernsten Ernährungsunsicherheit führt (IPC 14.12.2023).
Rückkehr
Nach Angaben von UNHCR sind zwischen Jänner und August 2023 8.029 afghanische Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt (95 % aus Pakistan, 4% aus Iran und 1 % aus anderen Ländern). Die Zahl der Rückkehrer in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 war fünfmal so hoch wie die Zahl der Rückkehrer im gleichen Zeitraum des Jahres 2022 (UNHCR 1.8.2023). Als Hauptgründe für die Rückkehr aus Iran und Pakistan nannten die Rückkehrer die Lebenshaltungskosten und den Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten in den Aufnahmeländern, die verbesserte Sicherheitslage in Afghanistan und die Wiedervereinigung mit der Familie. Im Jahr 2023 kehrten 57 % der Flüchtlinge in fünf Provinzen zurück: Kabul (21 %), Kunduz (13 %), Kandahar (10 %), Nangarhar (7 %) und Jawzjan (6 %). Außerdem hielten sich 72 % der Rückkehrer seit mehr als zehn Jahren im Asylland auf und 25 % wurden im Asylland geboren (UNHCR 24.7.2023). Am 3.10.2023 billigte der nationale Apex-Ausschuss Pakistans einen Plan zur Rückführung von über einer Million Ausländern ohne gültige Papiere, überwiegend Afghanen, die das Land bis zum 1.11.2024 verlassen sollten. Seit dem 15.9.2023 sind mit Stand März 2024 über eine halbe Million Afghanen aus Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt. Der größte Teil dieser Bewegungen fand im November 2023 statt, danach ging die Zahl deutlich zurück, wobei der Januar und die erste Februarhälfte 2024 die niedrigsten Zahlen verzeichneten. In den letzten beiden Wochen des Februars ist wieder ein Anstieg der Rückkehrer zu verzeichnen (UNHCR 8.3.2024).
Auch wenn es nur wenig Informationen zu Rückkehrern aus Europa nach Afghanistan gibt, berichtet das österreichische BMI (Bundesministerium für Inneres) (BMI 27.3.2024) und andere Quellen (MEE 1.6.2022; vgl. AAN 20.1.2024, DRC 28.11.2022), dass es auch nach der Machtübernahme der Taliban zur freiwilligen Rückkehr afghanischer Staatsbürger kommt (MEE 1.6.2022; vgl. AAN 20.1.2024). Dem Afghanistan Analysts Network (AAN) zufolge kehren auch einige Mitarbeiter der ehemaligen Regierung und internationaler NGOs nach Afghanistan zurück, darunter ein Mitarbeiter einer NGO, der mit seiner Familie nach zwei Jahren Aufenthalt in Dänemark nach Afghanistan zurückkehrte (AAN 20.1.2024). Auch die Nachrichtenagentur Middle East Eye berichtet von der freiwilligen Rückkehr von Afghanen, darunter Mitarbeiter von internationalen NGOs (MEE 1.6.2022) und nach Angaben von EUAA gibt es auch freiwillige Rückkehrer aus den USA (EUAA 12.2023). Die Taliban haben am 16.3.2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier. Die Taliban-Regierung trifft widersprüchliche Aussagen darüber, ob es den Rückkehrern gestattet sein wird, sich politisch zu engagieren (AA 26.6.2023).
IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. IOM Afghanistan hält jedoch die Kommunikation mit ehemaligen Rückkehrern aufrecht, um humanitäre Hilfe anzubieten, die Stabilisierung der Gemeinschaft zu unterstützen und die interne Migration in Zusammenarbeit mit den Taliban-Behörden, humanitären Partnern und lokalen Gemeinschaften zu steuern. IOM Afghanistan wendet verschiedene Methoden an, um mit ehemaligen unterstützten Rückkehrern in Afghanistan in Kontakt zu bleiben. Dazu gehören das Engagement in den Gemeinden, eine zentralisierte Datenbank (Displacement Tracking Matrix [DTM]) und die direkte Kommunikation als Folgemaßnahme, insbesondere mit den Begünstigten, die von IOM direkt mit ihren Diensten durch Überwachungs- und Folgebesuche unterstützt wurden (IOM 22.2.2024).
Nach dem deutschen Auswärtigen Amt dürften Rückkehrende nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (AA 26.6.2023). Auch Dr. Liza Schuster, Dozentin für Soziologie an der University of London, spricht über die schwierige wirtschaftliche Lage der Rückkehrende aus Europa und hebt, mit Verweis auf den Afghanistanexperten Thomas Ruttig, die hohe Bedeutung der sozialen Netzwerke im Falle einer Rückkehr hervor (DRC 28.11.2022). Weiterhin sehen sich viele Rückkehrer, dem Stigma versagt zu haben, ausgesetzt (DRC 28.11.2022; vgl. AAN 20.1.2024).
Nach Einschätzung von UNAMA besteht die Möglichkeit, dass im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen werden können; auch eine erneute Verurteilung durch das von den Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt würde (AA 26.6.2023).
2.3.2 Auszug aus der UNHCR-Position zur internationalen Schutzbedürftigkeit für Menschen, die aus Afghanistan fliehen, aus Februar 2023 (im Folgenden: UNHCR-Erwägungen):
Other Profiles with Increased International Protection Needs Since 15 August 2021
16. Based on available reports about widespread human rights violations in Afghanistan, including accounts provided to UNHCR by Afghans in flight and those already abroad as part of UNHCR monitoring activities, many Afghans will have international protection needs. As described in paragraphs 20-25 below, there are serious limitations on information gathering in Afghanistan, which make it difficult to obtain a comprehensive understanding of the treatment of Afghans of different profiles across Afghanistan. However, UNHCR is concerned about an increase in international refugee protection needs for people fleeing Afghanistan since the takeover by the Taliban. In addition to the situation of women and girls as described above, other profiles with increased refugee protection needs compared to the situation prior to the events of 15 August 2021 include:
(i) Afghans associated with the former government or with the international community in Afghanistan, including former embassy staff and employees of international organizations;
(ii) Former members of the Afghan national security forces and Afghans associated with the former international military forces in Afghanistan;
(iii) Journalists and other media professionals; human rights defenders and activists, as well as defence lawyers supporting them;
(iv) Members of minority religious groups and members of minority ethnic groups, including the Hazaras;
(v) Afghans of diverse sexual orientations, gender identities and/or gender expression.
This list does not presume to be an exhaustive enumeration of all profiles of Afghans who may have a well-founded fear of persecution. Each application for international protection should be assessed on its merits, taking into account the evidence provided by the applicant as well as all relevant country of origin information to the extent available. UNHCR notes that family members and others closely associated with persons at risk of persecution are frequently at risk themselves.
[…]
2.3.3 Auszug aus European Union Agency for Asylum (EUAA) Country Guidance: Afghanistan, Mai 2024 (im Folgenden: EUAA Country Guidance):
3.11. Individuals considered to have committed blasphemy and/or apostasy
This profile covers persons who are considered to have abandoned or renounced the religious belief or principles of Islam (apostasy), as well as persons considered to have spoken sacrilegiously about God or sacred things (blasphemy). It includes individuals who have converted to a new faith, based on their genuine inner belief (e.g. converts to Christianity), as well as those who disbelieve or lack belief in the existence of God (atheists).
It can be noted that, often, the latter grounds would be invoked sur place (Article 5 QD).
COI summary
The Taliban de facto government suspended the previous Islamic Republic of Afghanistan’s Constitution and declared that sharia is to be enforced as the legal system in Afghanistan. The de facto government considers itself a guiding body, with the fundamental aim to ensure that people live in accordance with the religious laws. However, various interpretations of sharia laws exist, and no formal legal framework has been established, religious freedom conditions have deteriorated and a harsh interpretation of sharia has been enforced on all Afghans [Country Focus 2023, 1.1.2., pp. 18-19; 1.2.1., pp. 21-24; 4.5.2., pp. 84-85].
Apostasy is a crime defined by sharia and includes conversion to another religion and proselytising to convince individuals to convert from Islam. According to the Taliban’s interpretation of sharia, apostasy is punishable by death. Reportedly, ‘appropriate’ punishments for apostates in Sunni Hanafi jurisprudence are beheading for men and life imprisonment for women, unless the individual repents. Property may also be confiscated, and apostates can be prevented from inheriting property. It is reported that there has not been any formal Taliban policy on hunting down converts, as there is a general expectation that converts are killed by their own families rather than by the authorities [Country Focus 2023, 4.5.2., pp. 84-85; Targeting 2022, 1.3.1., p. 42].
The Taliban see those individuals who preach against them or contravene their interpretations of Islam as ‘apostates’ [Country Focus 2022, 1.4., pp. 25-28; Society-based targeting, 2.7., pp. 29-30; Anti-government elements, 2., pp. 16-19]. According to the ISKP, Muslim allies of the West, but also those individuals who practice forms of ‘impure’ Islam, which includes non-Sunnis and Sunnis who practice Sufism or mystical schools of Islam, can be defined as ‘apostates’ [Targeting 2022, 6.6.1., pp. 143-144, 149, Society-based targeting, 2.8., p. 30; Anti-government elements, 3., p. 29].
A few converts to Christianity have been visible in the past decade in Afghanistan [Society-based targeting, 2.3., pp. 25-26]. One source pointed out that Afghans converting to Christianity were considered apostates and faced ostracism and the threat of honour killings by family and village members [Targeting 2022, 1.3.1., pp. 42-43].
There is low societal tolerance in Afghanistan for criticism of Islam. Blasphemy is also considered a capital crime according to Sunni Hanafi jurisprudence and could include ‘antiIslamic writings or speech’ [Targeting 2022, 1.3.1., p. 42].
Individuals who hold views that can be perceived as having fallen away from Islam, such as converts, atheists and secularists, cannot express their views or relationship to Islam openly, at the risk of sanctions or violence, including by their family. Such individuals must also appear outwardly Muslim and fulfil the behavioural religious and cultural expectations of their local environment, without this being a reflection of their inner conviction [Country Focus 2023, 4.5.2., p. 84; Society-based targeting, 2.3., pp. 25-27; 2.4., pp. 27-28].
Baha’i practitioners and converts to the faith have also been viewed as ‘infidels’ or ‘apostates’ [Targeting 2022, 6.6.2., p. 150; Society-based targeting, 2.5., p. 28].
Conclusions and guidance
Do the acts qualify as persecution under Article 9 QD?
Acts reported to be committed against individuals under this profile are of such severe nature that they amount to persecution (e.g. capital punishment, killing, violent attacks).
What is the level of risk of persecution (well-founded fear)?
For individuals considered to have committed blasphemy and/or apostasy, including converts, well-founded fear of persecution would in general be substantiated.
Are the reasons for persecution falling within Article 10 QD (nexus)?
Available information indicates that persecution of this profile is highly likely to be for reasons of religion.
[…]
3.14.2. Individuals of Hazara ethnicity and other Shias
This profile includes people who belong to the Hazara ethnicity and others belonging to the Shia religion. There are two main Shia communities in Afghanistan: the main Shia branch Ithna Ashariya (‘the Twelvers’) and the smaller Ismaili branch (‘the Seveners’). Mostly, persons of Hazara ethnicity are of Shia religion [Targeting 2022, 6.1., p. 126].
The majority of the Hazara population inhabits the Hazarajat. There are also major Hazara populations in the cities of Kabul, Herat and Mazar-e Sharif [Targeting 2022, 6.4.1., p. 130].
The Hazara ethnicity can usually be recognised by the person’s physical appearance.
COI summary
Hazaras have historically faced severe abuse, including enslavement, mass killings, and systematic discrimination under different rulers in Afghanistan. Under the previous Taliban rule in 1996-2001, several massacres of Hazaras took place [Targeting 2022, 6.4.1., p. 132]. Since the fall of the Taliban regime in 2001, the Hazaras had improved their position in society. However, new security threats emerged for the Shia Muslim (Hazara) community from 2016 and onwards as the ISKP was established as a new armed actor in Afghanistan, carrying out attacks targeting, inter alia, Hazaras [Country Focus 2023, 4.5.3., pp. 85-86; COI query on Hazaras, Shias, 1.1., p. 3; 1.2., p. 4; Country Focus 2022, 2.4., p. 41; Targeting 2022, 6.4.1., p. 132]. In December 2022, the UN Secretary General called on the de facto authorities to implement adequate protection measures due to the IED attacks against civilian targets and in civilian areas, and specifically mentioned places of worship and education facilities and the Hazaras as a community ‘facing heightened risk’ [Country Focus 2023, 2.2.2., p. 33].
a) Treatment by the Taliban
In the months following their coming to power, the Taliban held a series of meetings with Shia Hazara leaders from various parts of the country, promising to provide security for all citizens and expressing the willingness to avoid sectarian divisions [Country Focus 2023, 4.5.3., p. 85]. Shia Muslims were allowed to perform their religious ceremonies, such as annual celebrations of the Ashura. However, in 2023 it was announced that, for security reasons, large gatherings would not be allowed during the celebration of Ashura. Also, Hazaras were appointed to posts in the new Taliban administration at central and provincial level to a very limited extent, and it was debated whether these people were regarded as true representatives of the Hazara minority since they had already been part of the Taliban insurgency [Country Focus 2023, 4.5.3., p. 85; Targeting 2022, 6.4.2., p. 135].
Despite their promises to provide security, the Taliban failed to protect the Shia Hazara communities as several attacks have been carried out by the ISKP. Moreover, harassment and forced displacement of these communities have increased [Country Focus 2023, 4.5.3., pp. 85-88].
Members of the Hazara community have been killed during Taliban raids claimed to be targeting 'armed rebels', and in Ghazni Province the Taliban de facto security forces opened fire against a group of mourners assembled to commemorate the Shia Ashura ceremony. After the Taliban struck down the dissident Taliban member Mawlawi Mehdi, who was Hazara, in June 2022, reports followed of summary executions of civilians in the district of Balkhab (Sar-e Pul Province), an area with a large Hazara population, where Mehdi based his uprising [Country Focus 2023, 2.3., p. 40; 4.3.3., pp. 69-70; Targeting 2022, 1.1.1, p. 19].
Sources noted a discrepancy between the Taliban leadership’s public stance towards Hazaras/Shias and the actual treatment of these communities by Taliban rank-and-file security forces. Hazaras have been facing discriminatory acts from Taliban members in local de facto administrative bodies and from the Taliban rank-and-file. According to a source, while the Hazaras have not been facing ‘targeted discrimination’ by the de facto authorities, the local Taliban would ‘view Hazaras negatively and treat them with contempt (in line with historical norms)’ as ‘there is a view’ that Hazaras ‘benefitted too much’ under the previous rule, which must be ‘corrected’ now. As a result, Hazaras have been ‘systematically treated differently’ by the local Taliban according to the same source. The lack of representation has also caused barriers to Hazaras in accessing passport services, and in accessing justice - for example in land disputes. Thousands of Hazaras have been evicted since the Taliban takeover, and in many decade-old land disputes which have reopened, the Taliban have tended to side with (Pashtun) Kuchi nomads [Country Focus 2023, 4.5.3., pp. 85-86; Targeting 2022, 6.4.2., p. 134].
Since the takeover, ‘a greater number’ of Kuchi nomads, compared to previous years, has moved into Hazarajat, resulting in the forced evictions and displacement of local Hazara population. In some cases, these evictions have been ordered by Taliban local leaders, while in other cases Hazara residents were reportedly evicted by Kuchi nomads or by ‘the Taliban and associated militias’ [Country Focus 2023, 4.5.3., pp. 87-88; Targeting 2022, 6.4.2., p. 134].
b) Treatment by ISKP
Over recent years, attacks by insurgent groups have mainly been attributed to ISKP. Their intention to target Shias from ‘Baghdad to Khorasan’ has been stated in Telegram channels run by the Islamic State. ISKP consider Shia Muslims to be apostates and, hence, a legitimate target for killing [Targeting 2022, 6.4.5., pp. 143-144]. In September 2022, the UN Special Rapporteur stated that the recent years’ attacks on Hazaras and non-Muslim Afghans, often claimed by ISKP, appeared to be ‘systematic in nature and reflect elements of an organisational policy, thus bearing the hallmarks of international crimes, including crimes against humanity’ [COI Update 2022, 3., p. 9].
It was described that there have been two patterns of attacks targeting Shia Hazaras after the Taliban takeover. The first pattern consists of attacks mainly targeting civilian passenger vehicles, particularly public transport minivans favoured by ‘young, educated and professional Hazaras’ such as government employees, journalists, and NGO staff. The second pattern consists of large-scale complex attacks, which have inter alia targeted Shia mosques, hospitals, and schools in Hazara-dominated areas, mainly in the cities of Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar, and Kunduz [Targeting 2022, 6.4.3., p. 138].
According to the UN, from 30 August 2021 to 30 September 2022, there were 22 recorded attacks against civilians in Afghanistan, 16 of which targeted the Hazara population specifically. Attacks carried out by the ISKP and unknown actors have targeted the Shia Hazara community since the takeover. Human Rights Watch estimated that 700 individuals in total had been killed and injured in such attacks. Attacks in the form of IED explosions have targeted Shia Hazaras during the Ashura commemoration in 2022, and a deadly suicide IED attack targeted the Kaaj education center in a Hazara-dominated neighborhood on 30 September 2022. It caused 54 deaths and injured 114 - most were teenage Hazara girls and young women. [Country Focus 2023, 4.5.3., pp. 87-88].
In 2023, the number of attacks against the Shia Hazara community decreased, and no major attacks were reported between January and September 2023 [Country Focus 2023, 4.5.3., pp. 87-88]. However, ISKP claimed responsibility for a suicide attack against a Shia Mosque in Pul-e Kumri in Baghlan province in October 2023, in which UNAMA reported 21 deaths and 30 injured. Between October 2023 and mid-January 2024, ISKP claimed responsibility for a string of IED attacks in Dasht-e Barchi, a Hazara dominated area in Kabul city. Estimates vary, however around 100 casualties, killing at least 19 people, were reported by UNAMA, and examples of incidents’ locations included a sport club, two minibuses and a commercial centre. Three targeted attacks killing five Shia religious leaders took place in Herat city in October, November and December 2023. No one has claimed responsibility for these attacks [COI Update 2024, 4., pp. 6-7]. Attacks against the Hazaras by the ISKP could be related to their Shia religion. Among other reasons, the ISKP also reportedly targets the Hazaras due to
their perceived closeness and support for Iran and the fight against the Islamic State in Syria [COI query on Hazaras, Shias, 1.3., p. 6; 1.4., p. 7; Anti-government elements, 3.3., p. 32; 3.6.1., p. 34].
c) Treatment by the society
Hazaras and Shias have reportedly faced discrimination under the Taliban rule. There is also the perception within conservative parts of the Afghan society that the Hazara minority has embraced a culture not in line with the Taliban’s definition of Islam [COI Update 2022, 3, p. 9]. A source reported that Hazaras have historically tended to face societal discrimination in Afghanistan, from Pashtuns and also from Tajiks, Uzbeks and others. [Country Focus 2023, 4.5.3., pp. 85-86].
As a majority of the Shia Muslims in Afghanistan belong to the Hazara ethnic group, the Hazaras have been the main victims of sectarian targeting against Shias. However, other Shia groups have also become victims of targeted attacks, both before and after the Taliban takeover. For instance, some of the sectarian attacks against Shia Muslims have been carried out in areas that are not Hazara-dominated. A source also noted that the victims of the attack on a Shia mosque in Kandahar in October 2021 were not primarily Hazaras [Targeting 2022, 6.4.5., p. 143].
Conclusions and guidance
Do the acts qualify as persecution under Article 9 QD?
Acts reported to be committed against individuals under this profile are of such severe nature that they amount to persecution (e.g. killing, abduction, sectarian attacks). When the acts in question are restrictions on the exercise of certain rights of less severe nature or (solely) discriminatory measures, the individual assessment of whether they could amount to persecution should take into account the severity and/or repetitiveness of the acts or whether they occur as an accumulation of various measures.
What is the level of risk of persecution (well-founded fear)?
The individual assessment of whether there is a reasonable degree of likelihood for a Hazara and/or Shia applicant to face persecution should take into account their area of origin and whether ISKP has operational capacity there, with those from Hazara-dominated areas in larger cities being particularly at risk.
Being a Hazara may also be a risk-impacting circumstance in relation to other profiles, such as: 3.1. Members of the security institutions of the former government, 3.2. Public officials and servants of the former government and judicial system, 3.10. Humanitarian workers, 3.12. Individuals perceived to have transgressed religious, moral and/or societal norms, 3.13. Individuals (perceived as) influenced by foreign values (also commonly referred to as‘Westernised’), 3.15. Women and girls, 3.16. Children.
Are the reasons for persecution falling within Article 10 QD (nexus)?
Available information indicates that persecution of this profile may be for reasons of religion, (imputed) political opinion (e.g. links to the former government, perceived support for Iran), and/or race (ethnicity).
2.3.4 Auszug aus den Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation aus dem COI-CMS zum Iran, Version 8 vom 26.6.2024 (im Folgenden: LIB Iran):
Religionsfreiheit
In Iran leben schätzungsweise rund 88,4 Millionen Menschen (CIA 22.5.2024), von denen nach offiziellen Angaben ungefähr 99 % dem Islam angehören. Etwa 90 % der Bevölkerung sind demnach Schiiten, ca. 9 % sind Sunniten und der Rest verteilt sich auf Christen, Juden, Zoroastrier, Baha‘i, Sufis, Ahl-e Haqq (Yaresan) und nicht weiter spezifizierte religiöse Gruppierungen (STDOK 3.5.2018; vgl. USDOS 15.5.2023). Im Rahmen einer viel beachteten und breit diskutierten (NYMAG 21.10.2022) Onlinebefragung der Organisation Gamaan aus dem Jahr 2020, an der sich 40.000 innerhalb Irans lebende Iraner sowie rund 10.000 im Ausland lebende Iraner beteiligt haben, wurden folgende Einstellungen bzw. religiösen Ausrichtungen angegeben: nur rund 32 % der Bevölkerung bekennen sich zum Schiitentum, 5 % zum Sunnitentum und rund 8 % zum Zoroastrismus. 9 % identifizierten sich dagegen als Atheisten, 7 % als "spirituell" und 6 % als Agnostiker. Andere gaben an, dem Sufismus, Humanismus, Christentum, dem Baha'i-Glauben oder dem Judentum zu folgen (Anteile zwischen rd. 0,1 und 3 %) und rund 22 % der Befragten wollten sich mit keiner der genannten Gruppierungen identifizieren (GAMAAN 25.8.2020). Auch wenn nicht genau gesagt werden kann, inwiefern die von Gamaan vorgelegten Zahlen auf die Gesamtbevölkerung Irans umlegbar sind, zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zum nationalen Zensus. Aus der Studie lässt sich eine erosionsartige Fragmentierung des religiösen Feldes zumindest bei den befragten Iranern ablesen. Interessant ist unter anderem die Vielfalt an verschiedenen Glaubensbekenntnissen von Konfessionslosigkeit und Atheismus, beides eigentlich Tabus in einer offiziell islamischen Gesellschaft wie der iranischen, über Zoroastrismus und Trends zu spirituellen und esoterischen Sekten, bis hin zum Agnostizismus, zu sufischen Bewegungen, den Bahai und zum Christentum. Letztere stellen laut der Studie lediglich eine relativ kleine Gruppe dar (BAMF 5.2022). In einer im Jänner 2024 geleakten (Amwaj 3.4.2024), vom Informationsministerium (MOIS) in Auftrag gegebenen, unter Verschluss gehaltenen Umfrage gaben 70 % der Befragten an, sich ein säkulares Regierungssystem zu wünschen. Eine Mehrheit lehnte die gesetzlich verordnete Hijab-Pflicht für Frauen ab (Standard 1.3.2024).
[…]
Atheismus
Rechtlich gesehen ist es im Iran nicht möglich, sich nicht zu einer Religion zu bekennen. Es gibt mehrere Situationen, in denen Iraner den Behörden ihre Religionszugehörigkeit mitteilen müssen (MBZ 9.2023). Personen, die sich öffentlich vom Islam lossagen, können wegen Apostasie (DFAT 24.7.2023) und Blasphemie angeklagt werden (SäkF 24.8.2020; vgl. RFE/RL 8.5.2023). Beispielsweise im Mai 2023 exekutierte das iranische Regime zwei atheistische Aktivisten, die wegen Blasphemie zum Tod verurteilt worden waren, da sie in den sozialen Medien angeblich "Atheismus und die Beleidigung von religiösen und islamischen Heiligtümern" gefördert hätten (RFE/RL 8.5.2023; vgl. AJ 8.5.2023). Atheisten sind daher üblicherweise diskret bei der Zurschaustellung ihrer Anschauung (DFAT 24.7.2023; vgl. USDOS 15.5.2023). Wenn sie diese nicht weithin bekannt machen, ist es eher unwahrscheinlich, dass die Behörden auf sie aufmerksam werden (DFAT 24.7.2023). Unter anderem verbietet auch das Pressegesetz ausdrücklich eine Verbreitung von atheistischen Inhalten oder von Inhalten, die als schädlich für die islamischen Kodizes oder als Beleidigung islamischer Rechtsgelehrter angesehen werden. Die weit gefassten Definitionen erleichtern hierbei eine umfassende Zensur und verwehren den Bürgern den Zugang zu verschiedenen Informationsquellen (ARTICLE19 27.2.2018).
Atheisten aus konservativen Familien könnten mit familiärem Druck und potenzieller Ächtung konfrontiert werden, wenn ihr Atheismus bekannt würde. Atheisten aus liberaleren Familien und Teilen des Landes, wie dem Norden Teherans, sind solchem Druck dagegen nicht ausgesetzt (DFAT 24.7.2023). Gemäß einer anderen Quelle gaben Atheisten dagegen an, dass sie ihren Atheismus in den meisten gesellschaftlichen und sogar familiären Kontexten zu ihrer eigenen Sicherheit verbergen müssen (IrWire 27.2.2023).
Rückkehr zum Islam
Wer zum Islam zurückkehrt, tut dies ohne besondere religiöse Zeremonie, um Aufsehen zu vermeiden. Es genügt, wenn die betreffende Person glaubhaft versichert, weiterhin oder wieder dem islamischen Glauben zu folgen. Es gibt hier für den Rückkehrer bestimmte religiöse Formeln, die dem Beitritt zum Islam ähneln bzw. nahezu identisch sind (ÖB Teheran 11.2021). […]
3. Beweiswürdigung:
3.1. Zur Person und den Lebensumständen des Beschwerdeführers
Die Feststellungen zur Herkunft, Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit, ehemaligem Religionsbekenntnis, den Sprachkenntnissen des Beschwerdeführers und seinem Familienstand ergeben sich aus seinen konsistenten Angaben in den beiden Verwaltungsverfahren. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen – im gesamten Verfahren im Wesentlichen gleich gebliebenen – Aussagen zu zweifeln. Die Feststellungen hinsichtlich seiner Identität (Name und Geburtsdatum) ergeben sich aus den glaubhaften und konsistenten Verfahrensangaben.
Die Feststellungen zum Lebenslauf des Beschwerdeführers, insbesondere zu seinem Heimunterricht, seiner familiären Situation sowie zu seiner Ausreise aus Afghanistan, ergeben sich aus den Angaben des Beschwerdeführers in seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde sowie in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, welche nur in den zentralen Punkten mit seinen Angaben im Rahmen der Erstbefragung übereinstimmen. Genauere Feststellungen, wann der Beschwerdeführer mit seinen Eltern in den Iran ausgewandert ist, wie viele Jahre genau er dort lebte und wann er nach Afghanistan zurückgekehrt ist, konnten wegen fehlender bzw. auch zum Teil widersprüchlicher Angaben des Beschwerdeführers nicht getroffen werden. So gab der Beschwerdeführer im Erstverfahren in der mündlichen Verhandlung am 31.5.2019, Niederschrift Seite 3 und 4, an, das erste Mal im Alter von 19 oder 20 Jahren nach Afghanistan zurückgeschoben worden zu sein und sich dann vier Jahre in Afghanistan aufgehalten zu haben. Dies steht im Widerspruch zu seiner im Jahr 1996 erfolgten Heirat im Iran, welche durch Vorlage der Heiratsurkunde nachgewiesen worden ist.
Dass der Beschwerdeführer irregulär einreiste und am 19.11.2014 erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, ist aktenkundig. Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer seither aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgereist wäre, haben sich im Verfahren nicht ergeben.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers gründen auf seinen Angaben im Verfahren. Zuletzt gab der Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung an, gesund zu sein, lediglich Medikamente gegen Kopfschmerzen und Schlaftabletten einzunehmen und sich nicht in medizinischer Behandlung zu befinden (Verhandlungsniederschrift vom 23.9.2022, S. 2). Gegenteiliges wurde nur im Erstverfahren angedeutet. Unterlagen, aus denen sich eine Erkrankung bzw. gesundheitliche Beeinträchtigung des Beschwerdeführers ergeben würde, wurden hingegen nicht vorgelegt. Es war daher festzustellen, dass der Beschwerdeführer im Wesentlichen gesund ist. Die Feststellung zur strafrechtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der im Akt einliegenden aktuellen Strafregisterauskunft.
3.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Zunächst ist festzuhalten, dass der Erstantrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.10.2020 abgewiesen wurde, weil sich das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers insgesamt als widersprüchlich, gesteigert und nicht plausibel herausstellte. Nur ein Jahr nach Erlassung dieses Erkenntnisses stellte der Beschwerdeführer einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz und brachte bei der Erstbefragung am 14.10.2021 vor, er sei im Oktober 2020 „aus dem Islam zurückgetreten“. Er habe Unterlagen aus dem Iran erhalten, welche bestätigen würden, dass er nicht mehr Muslim sei. Er sei vielmehr ohne Bekenntnis und ein Atheist. In der Einvernahme vor der belangten Behörde am 14.4.2022, Niederschrift Seite 6, führte er weiter aus, er sei als Muslim geboren worden und habe sich daher nicht dafür entschieden. Er habe den Koran nie richtig verstanden, erst als er in Europa gewesen sei, habe er zum ersten Mal auf YouTube eine Übersetzung des Korans in seine Muttersprache gehört. Dann habe er verstanden, was im Koran stehen würde. Es handle sich dabei um Gewalt bzw. Gewaltanwendung und Unterdrückung. Nachdem er auch erfahren habe, dass im Namen des Islam Männer, Frauen und unschuldige Kinder getötet werden würden, wollte er nicht mehr länger Muslim sein. Es habe einige Zeit gedauert, bis er zu diesem Entschluss gekommen sei, im Oktober 2020 sei ihm dann klargeworden, dass er kein Muslim und nunmehr ein Atheist sei.
Dazu ist zunächst anzumerken, dass die Behauptung des Beschwerdeführers, er habe aus dem Iran Unterlagen erhalten, die bestätigen würden, dass er nicht mehr Muslim sei, den diesbezüglich einschlägigen Informationen im LIB Iran widerspricht. Demzufolge ist es im Iran rechtlich nicht möglich, sich nicht zu einer Religion zu bekennen. Personen, die sich öffentlich vom Islam lossagen, können wegen Apostasie und Blasphemie angeklagt werden. Vor dem Hintergrund dieser Informationen ist es nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer aus dem Iran eine Bestätigung darüber erhalten haben soll, dass er kein Muslim mehr sei. Zudem hat er eine solche auch nicht vorgelegt, sondern lediglich eine Bestätigung der Bezirkshauptmannschaft St. Johann im Pongau über den Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft. Allerdings erklärte der Beschwerdeführer später, in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, dass er sich im Iran Bestätigungen besorgt habe, dass er schiitischer Moslem sei, offenbar, um überhaupt den Austritt bei der Bezirkshauptmannschaft St. Johann im Pongau beantragen zu können.
Darüber hinaus sind aber die durch den Beschwerdeführer vorgebrachten Beweggründe, die zu seinem Glaubensabfall geführt haben sollen, nicht glaubhaft. So gab der Beschwerdeführer im weiteren Verlauf der Einvernahme vor der belangten Behörde auf Nachfrage seiner Rechtsvertretung an, er habe viel gelesen, er habe den Koran auf Farsi gelesen und viele Diskussionen online gesehen, in denen Professoren und Islamkenner diskutiert hätten (Niederschrift vom 14.4.2022, Seite 10), und dies sei der Grund für seinen Abfall gewesen. Dies steht aber in Widerspruch zu seiner vorherigen Ausssage in freier Erzählung vor der belangten Behörde, den Inhalt des Korans in einem YouTube-Video nur gehört zu haben und wegen der Tötung von unschuldigen Kindern im Namen des Islam vom Glauben abgefallen zu sein.
Dass er in Österreich einen Band des Buches „Tarikh al-Tabari“ gelesen habe, in dem die Sünden des Propheten Mohammed beschrieben seien und dies dazu beigetragen habe, dass er kein Muslim mehr sein wolle, gab der Beschwerdeführer erstmals in der mündlichen Verhandlung am 23.9.2022, Niederschrift Seite 4, an und steht ebenfalls im Widerspruch zu den zuvor erwähnten Beweggründen. Überdies ist es nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer das Buch tatsächlich gelesen hat, da er fälschlicherweise angab, das Buch sei von Mullahs verfasst worden, obwohl der Name des einzigen Autors bereits im Titel ersichtlich ist und es sich nicht um einen Mullah, sondern um einen muslimischen Historiker handelt. Insgesamt erweisen sich die Angaben des Beschwerdeführers zu dessen Gründen, infolge derer er vom Glauben abgefallen sei, somit als widersprüchlich, nicht nachvollziehbar und deshalb als nicht glaubhaft.
Schließlich machte der Beschwerdeführer auch zum Zeitpunkt seines Glaubensabfalls widersprüchliche Angaben. So führte der Beschwerdeführer in der letzten mündlichen Beschwerdeverhandlung des Erstverfahrens am 16.9.2020, Niederschrift Seite 13, noch aus, dass es keinen Unterschied zwischen einem österreichischen und afghanischen Gott gäbe und brachte sohin unmissverständlich zum Ausdruck, dass er zu diesem Zeitpunkt die Existenz Gottes nicht in Frage stellte. Es ist daher zunächst nicht nachzuvollziehen, dass er bereits nur kurze Zeit später aus tiefster Überzeugung vom Glauben abgefallen sein will, noch dazu wo er in der behördlichen Verhandlung zum Folgeantrag dargelegt hat, „erst als ich in Europa war, habe ich zum ersten Mal auf You Tube eine Übersetzung des Koran […]. Erst dann habe ich verstanden, was im Koran steht. […] Das waren alles Gründe, warum ich nicht mehr Moslem sein wollte.“ Dabei ist zu bedenken, dass er bereits 2014 nach Österreich kam und, sollte der Prozess des Glaubensabfalls tatsächlch nach seiner Ankunft in Europa begonnen haben, es nicht glaubwürdig ist, dass dieser Prozess exakt so lange gedauert haben soll, bis das (in Bezug auf den Antrag auf Asyl) negative Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts erlassen war.
In der mündlichen Verhandlung vom 23.9.2022, Niederschrift Seite 7, stellte der Beschwerdeführer zwar in den Raum, dass er bereits im Laufe seines Erstverfahrens - nachdem er den negativen Bescheid erhalten habe (5.10.2016!) - Atheist gewesen sei, dies aber in Ermangelung einer Bestätigung oder eines Beweises nicht vorgebracht habe. Dies ist für das Gericht jedoch ebenfalls nicht glaubhaft, wird doch jemand, der eine neue Überzeugung gewonnen hat und weiß, dass ihn diese Überzeugung zu einem Asylstatus führen könnte, diese Überzeugung vorbringen und mit allen Mitteln das Gericht von der Verinnerlichung dieser Überzeugung zu überzeugen suchen. Insgesamt erweisen sich somit die Angaben zum Zeitpunkt des Glaubensabfalls aufgrund der Widersprüchlichkeiten als nicht glaubhaft.
In Anbetracht des in wesentlichen Punkten widersprüchlichen Vorbringens ist von einer verminderten persönlichen Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers auszugehen. Unter Berücksichtigung der verminderten Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers vermochte auch die durch den Beschwerdeführer angenommene Lebensweise das erkennende Gericht nicht davon zu überzeugen, dass der Beschwerdeführer vom Glauben abgefallen ist und seine behaupteterweise atheistische Lebensweise einen integralen Bestandteil seiner Identität bildet.
So ist zunächst anzumerken, dass von einem nach außen hin präsentierten Lebensstil nicht zwingend auf eine innere Überzeugung geschlossen werden kann. Davon ist auch im Fall des Beschwerdeführers auszugehen. Sofern der Beschwerdeführer monierte, es sei offensichtlich, dass er vom Islam abgefallen sei, da er nicht mehr bete, faste oder in die Moschee gehe, so ist dem entgegenzuhalten, dass der Beschwerdeführer nach dessen eigenen Angaben bereits seit seiner Ankunft in Österreich im Jahr 2014 nicht mehr fastete, betete oder in die Moschee ging (Niederschrift vom 14.4.2022, Seite 10). Auch wenn die Angaben des Beschwerdeführers bezüglich des Zeitpunktes seines Abfalls vom Islam widersprüchlich sind, so ist diesen Angaben jedenfalls zu entnehmen, dass sein Abfall vom islamischen Glauben erst einige Jahre nach seiner Einreise passiert sein soll. Somit war der Beschwerdeführer zu Beginn seines Aufenthaltes in Österreich und einige Zeit danach ein bekennender schiitischer Muslim, der schon damals nicht mehr betete, fastete oder in die Moschee ging. Somit kann der Behauptung des Beschwerdeführers, aus seinem geänderten Verhalten in Österreich sei sein Glaubensabfall offensichtlich, auch nicht gefolgt werden.
Auch die Beobachtungen der Zeugin XXXX , die im Verhalten des Beschwerdeführers keine „religiösen Anzeichen“ wie zum Beispiel Beten gesehen haben will (Niederschrift vom 23.9.2022, Seite 9), sind daher nicht geeignet, um auf die innere Überzeugung des Beschwerdeführers schließen zu können. Zudem führte die Zeugin weiters aus, der Beschwerdeführer wäre aufgrund seiner Erlebnisse mit den Taliban aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten. Einen solchen Beweggrund brachte der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren nicht vor, sodass davon auszugehen ist, dass der Beschwerdeführer die Zeugin über seine wahren Beweggründe getäuscht hat. Der Beschwerdeführer gab eingangs in der mündlichen Verhandlung am 23.09.2022 deutlichst zu verstehen, dass er seine Familie aus dem Iran nach Österreich holen möchte. Das erkennende Gericht gelangte daher zum Schluss, dass der Beschwerdeführer nur vorgibt, vom Islam abgefallen zu sein, um den Status des Asylberechtigten zu erlangen und seine im Iran aufhältige Familie im Zuge der Familienzusammenführung möglichst zeitnah zu sich nach Österreich nachholen zu können.
Da der Besschwerdeführer nur vorgibt, vom Islam abgefallen zu sein, geht das erkennende Gericht auch davon aus, dass sich der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan genauso schnell, wie er sich dem Leben in Österreich angepasst hat, auch dem Leben in Afghanistan anpassen und kein Verhalten setzen würde, welches ihn als Apostat in das Blickfeld der Taliban rücken und der Gefahr der Todesstrafe aussetzen würde (Länderinformationsblatt, Kapitel Religionsfreiheit, Unterkapitel Apostasie, Blasphemie, Konversion; EUAA Country Guidance, Kapitel 3. Refugee status, Unterkapitel 3.11. Individuals considered to have committed blasphemy and/or apostasy). Es war daher festzustellen, dass dem Beschwerdeführer in seinem Heimatland keine Gefahr droht, wegen eines Glaubensabfalls verfolgt zu werden, weil der Beschwerdeführer einen solchen Abfall vom Islam nicht glaubhaft machte.
3.3. Sonstiges
Ein weiteres Vorbringen zu ihm im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat drohenden Übergriffen hat der Beschwerdeführer nicht erstattet, während sich für eine Verfolgung aus anderen als den oben behandelten Gründen im Verfahren keine Anhaltspunkte ergeben haben. Es sind auch keine Umstände amtsbekannt, dass in der Person des Beschwerdeführers vereinigte Merkmale im Herkunftsstaat asylrelevante Verfolgung nach sich ziehen würden.
3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat
Zur Seriosität des beweiswürdigend herangezogenen und oben unter 2.3. teilweise wiedergegebenen Berichtsmaterials ist auszuführen, dass diese länderkundlichen Informationen (Länderinformationsblatt, UNHCR-Erwägungen, EUAA Country Guidance, LIB Iran), einen qualitätssichernden Objektivierungsprozess für die Gewinnung von Informationen zur Lage im Herkunftsstaat durchliefen. Die Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ist insbesondere nach § 5 Abs. 2 BFA-G verpflichtet, die gesammelten Tatsachen nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten (allgemeine Analyse) und in allgemeiner Form zu dokumentieren. Auch die European Union Agency for Asylum (EUAA) ist nach Art. 1 Abs. 3 iVm Art. 2 Abs. 1 lit. e Verordnung (EU) 2021/2303 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2021 über die Asylagentur der Europäischen Union bei ihrer Berichterstattung über Herkunftsländer zur transparent und unabhängig erfolgenden Sammlung von aktuellen Informationen verpflichtet. Weiter ist den UNHCR-Erwägungen nach der Rechtsprechung des VwGH besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“; vgl VwGH 23.1.2019, Ra 2018/18/0521 mwN). Das Bundesverwaltungsgericht stützt seine Feststellungen daher auf die bereits zitierten Quellen, wobei anzumerken ist, dass diese zu den fallrelevanten Gesichtspunkten ein insgesamt übereinstimmendes Bild zur Situation im Herkunftsstaat zeichnen, mögen sie auch im Detailgrad – wie oben im Einzelfall berücksichtigt – eine unterschiedliche Tiefe aufweisen.
Zur Aktualität der herangezogenen Quellen ist auszuführen, dass neuere Berichte und Informationen, denen zufolge es zu einer verfahrensrelevanten Änderung der Lage im Herkunftsstaat gekommen ist, nicht amtsbekannt sind. Das Bundesverwaltungsgericht stützt seine Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat und seine Beweiswürdigung zu den Fluchtgründen daher auf die angeführten Quellen, wobei eine beweiswürdigende Auseinandersetzung im Detail unter II.3.2. erfolgt ist.
4. Rechtliche Beurteilung:
4.1. Zur Abweisung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides (Asyl)
Gemäß § 3 Abs. 1 Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg. cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl.Nr. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist), dem Fremden keine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG 2005 offen steht und dieser auch keinen Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG 2005 gesetzt hat. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 kommt einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird.
Im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw der Rückkehr in das Land des vorherigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 14.7.2021, Ra 2021/14/0066, mwN). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 9.9.1993, 93/01/0284; 15.3.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); diese muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw des Landes seines vorherigen Aufenthaltes befindet.
Auch wenn in einem Staat allgemein schlechte Verhältnisse bzw. sogar bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen sollten, liegt in diesem Umstand für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr iSd GFK. Um asylrelevante Verfolgung erfolgreich geltend zu machen, bedarf es daher einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Heimatstaates treffenden Unbilligkeiten hinausgeht (vgl. VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Zur Beurteilung, ob die Verfolgungsgründe als glaubhaft gemacht anzusehen sind, ist auf die persönliche Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers und das Vorbringen zu den Fluchtgründen abzustellen. Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung setzt positiv getroffene Feststellungen der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.6.1997, 95/01/0627).
„Glaubhaftmachung“ im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK ist die Beurteilung des Vorgetragenen daraufhin, inwieweit einer vernunftbegabten Person nach objektiven Kriterien unter den geschilderten Umständen wohlbegründete Furcht vor Verfolgung zuzugestehen ist oder nicht. Erachtet die Behörde im Rahmen der Beweiswürdigung die Angaben des Asylwerbers grundsätzlich als unwahr, können die von ihm behaupteten Fluchtgründe gar nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden. Zudem ist auch deren Eignung zur Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung gar nicht näher zu beurteilen (vgl. VwGH 9.5.1996, 95/20/0380). Eine Falschangabe zu einem für die Entscheidung nicht unmittelbar relevanten Thema (vgl. VwGH 30.9.2004, 2001/20/0006, betreffend Abstreiten eines früheren Einreiseversuchs) bzw. Widersprüche in nicht maßgeblichen Detailaspekten (vgl. die Erkenntnisse des VwGH 23.1.1997, 95/20/0303, sowie 28.05.2009, 2007/19/1248) reichen für sich alleine nicht aus, um daraus nach Art einer Beweisregel über die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers die Tatsachenwidrigkeit aller Angaben über die aktuellen Fluchtgründe abzuleiten (vgl. VwGH 26.11.2003, 2001/20/0457).
Für eine „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.2.1997, 95/01/0454; 9.4.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr – Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung – bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl VwGH 18.4.1996, 95/20/0239; vgl auch VwGH 16.2.2000, 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose. Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl VwGH 9.3.1999, 98/01/0318; 19.10.2000, 98/20/0233).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.3.1995, 95/19/0041; 27.6.1995, 94/20/0836; 23.7.1999, 99/20/0208; 21.9.2000, 99/20/0373; 26.2.2002, 99/20/0509 mwN; 12.9.2002, 99/20/0505; 17.9.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN). Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.6.1994, 94/19/0183; 18.2.1999, 98/20/0468).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann allerdings nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht – unter dem Fehlen einer solchen ist nicht "zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht" (VwGH 22.3.2000, 99/01/0256) –, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichen Schutzes einen – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (vgl. VwGH 22.3.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law2 [1996] 73; weiters VwGH 26.2.2002, 99/20/0509 mwN; 20.9.2004, 2001/20/0430; 17.10.2006, 2006/20/0120; 13.11.2008, 2006/01/0191). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er aufgrund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat "nicht gewillt oder nicht in der Lage" sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.2.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 22.3.2000, Zl. 99/01/0256; VwGH 13.11.2008, Zl. 2006/01/0191).
Die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Behörden ist grundsätzlich daran zu messen, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob die revisionswerbenden Parteien unter Berücksichtigung ihrer besonderen Umstände in der Lage sind, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben (vgl. VwGH 14.4.2021, Ra 2020/18/0126, mwN).
Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 8.10.1980, VwSlg 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. „inländische Fluchtalternative“ vor. Der Begriff „inländische Fluchtalternative“ trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 8.9.1999, 98/01/0503 und 98/01/0648).
Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 9.3.1999, 98/01/0370; 22.10.2002, 2000/01/0322).
Wie oben festgestellt und im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt wurde, war der Beschwerdeführer nicht in der Lage, durch sein Vorbringen, gemessen an den oben wiedergegebenen Maßstäben, als glaubhaft darzustellen, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer individuellen Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt wäre. Aus den Länderberichten ergibt sich zwar eine asylrelevante Verfolgung von Apostaten bzw. Atheisten im Herkunftsstaat. Der vorgebrachte Abfall vom Islam war nur vorgetäuscht und als ein Versuch zu werten, den Status des Asylberechtigten zu erhalten, um die Familie des Beschwerdeführers so rasch als möglich nach Österreich zu holen und daher nicht geeignet, eine asylrelevante Verfolgung zu begründen.
Ein Konnex zu einem anderen der Fluchtgründe der GFK ist nicht ersichtlich und wurde vom Beschwerdeführer auch nicht dargetan. Andere Anhaltspunkte, die eine mögliche, individuelle Verfolgung des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat für wahrscheinlich erscheinen lassen, sind im Verfahren ebenfalls nicht hervorgekommen.
Eine Betroffenheit seiner Person von Verfolgungshandlungen aus einem der GFK-Fluchtgründe hat der Beschwerdeführer damit nicht glaubhaft machen können. Einer– nicht asylrelevanten – Gefährdung des Beschwerdeführers durch die derzeitige Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan wurde im vorliegenden Fall bereits mit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Rechnung getragen.
Im Ergebnis war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides daher als unbegründet abzuweisen.
4.2. Zu Spruchpunkt B) – Unzulässigkeit der Revision
Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiter ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Im Übrigen ist der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist – sowie diese nicht unvertretbar ist – nicht revisibel (vgl. z.B. VwGH 30.8.2018, Ra 2018/21/0149, mwN).
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