OGH 9ObA94/23y

OGH9ObA94/23y18.3.2024

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Hargassner und die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Gabriele Svirak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Rechtssache des Antragstellers O*, vertreten durch Gerlach Rechtsanwälte in Wien, gegen den Antragsgegner Ö*, vertreten durch Korn Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Feststellung (§ 54 Abs 2 ASGG), in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:009OBA00094.23Y.0318.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Antrag, es werde festgestellt, dass auf die Arbeitsverhältnisse der von der klagenden Partei vertretenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Bestimmungen des § 7a Abs 4 und § 50 Abs 10 und 11 ORF‑G idF BGBl I Nr 112/2023 nicht anzuwenden sind, wird abgewiesen.

 

Begründung:

[1] Mit BGBl I 112/2023 wurden die mit 1. 1. 2024 in Kraft getretenen Regelungen des § 50 Abs 10 und Abs 11 ORF‑G eingeführt. Nach § 50 Abs 10 ORF‑G werden die Abfertigungsanwartschaften von ORF-Mitarbeiter/innen beginnend mit 1. 1. 2029 sukzessive auf maximal 150 % des gemäß § 23 Abs 1 AngG gebührenden Betrags gekürzt; dies unabhängig davon, ob der Anspruch auf Vertrag oder Normen der kollektiven Rechtsgestaltung beruht. § 50 Abs 11 ORF‑G ordnet an, dass beginnend mit 1. 1. 2024 die Ansprüche von ORF‑Mitarbeiter/innen auf Wohnungs-, Familien‑ sowie Kinderzulage ab 1. 1. 2024 um 50 % gekürzt werden, ab 1. 1. 2026 fallen sie zur Gänze weg.

[2] Nach Abs 4 des mit „Transparenzpflicht“ überschriebenen § 7a des ORF‑G ist im Fall von Personen, deren Brutto‑Jahresgehalt einschließlich Zulagen den Betrag von 170.000 EUR übersteigt, in einer eigenen Tabelle in einer Anlage zum Bericht dem konkreten, der Höhe nach aufsteigend geordneten Betrag jeweils der Name der betreffenden Person voranzustellen. Für diese Personen sind zusätzlich die durchschnittlichen monatlichen Bruttobezüge einschließlich von Sachbezügen eines Kalenderjahres aus Nebenbeschäftigungen bekanntzugeben. Auch diese Regelung trat mit 1. 1. 2024 in Kraft (§ 49 Abs 22 ORF‑G idF BGBl I 112/2023).

[3] Der Antragsteller beantragt wie aus dem Spruch ersichtlich. Er bringt zusammengefasst vor, dass die im Antrag genannten Regelungen §§ 7a Abs 4, 50 Abs 10 und 50 Abs 11 ORF‑G idF BGBl I Nr 112/2023 seiner Rechtsansicht nach verfassungswidrig seien und legt die Gründe dafür im Einzelnen dar. Zur Zulässigkeit des Antrags bringt der Antragsteller zusammengefasst vor, es sei ihm bekannt, dass gesetzliche Regelungen vom Antragsgegner und den Gerichten umzusetzen seien. Der Feststellungsantrag diene daher ausschließlich dazu, anzuregen, dass der Oberste Gerichtshof ein Gesetzesprüfungsverfahren gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 lit a B‑VG beantragen möge. Der Antragsteller sei mangels einer gesetzlichen Regelung, die für das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof eine Aktivlegitimation iSd § 54 Abs 2 ASGG einräumt, nicht befugt, einen Individualantrag gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 lit c B‑VG an den Verfassungsgerichtshof zu stellen. Individualanträge betroffener Arbeitnehmer/innen könnten an der verfassungsrechtlichen Judikatur scheitern, nach der derartige Anträge unzulässig seien, wenn ein gerichtliches Verfahren den Betroffenen Gelegenheit zur Anregung einer amtswegigen Antragstellung an den VfGH bieten („Umwegzumutbarkeit“). Die Arbeitnehmer/innen müssten jeweils individuelle Klagen bei den erstinstanzlich zuständigen Gerichten einbringen. Der vorliegende Antrag diene daher der Prozessökonomie. Ein unmittelbarer und aktueller Anlass zur Klagsführung liege darin, dass die vorzunehmenden Kürzungen der Zulagen bereits ab 1. 1. 2024 anzuwenden seien und die Bruttobezüge aus Nebenbeschäftigungen in dem bis zum 31. 3. 2024 vorzulegenden Bericht offenzulegen seien. Es bestehe ein Feststellungsinteresse gemäß § 228 ZPO weil für die vom Antrag betroffenen Arbeitnehmer/innen die gerichtliche Feststellung von wesentlichem rechtlichen Interesse sei, dass die gesetzlich verfügten Eingriffe wegen ihrer Verfassungswidrigkeit auf ihr Dienstverhältnis zum Antragsgegner unanwendbar sind.

[4] Der Antragsgegner nahm Stellung zu diesem Antrag, beantragte aber nicht dessen Abweisung. Er trat dem Vorbringen zur Antragslegitimation weder im Tatsächlichen noch in den rechtlichen Überlegungen entgegen und brachte ausdrücklich vor, keine Ausführungen zur prozessualen Zulässigkeit zu machen. Nicht in Abrede gestellt werde, dass die Gesichtspunkte und Argumente zur Verfassungswidrigkeit, die im Antrag aufbereitet sind, ein erhebliches Gewicht hätten. Es sei aber nicht Aufgabe des Antragsgegners, die vom Gesetzgeber verfolgten Zielsetzungen zu verteidigen, dem – wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergebe – die grundrechtliche Problematik der Regelungen bewusst sei. Dies sei hier auch nicht geboten, da das vorliegende Verfahren nur als „verfahrensrechtliches Vehikel“ dazu dienen solle, die verfassungsrechtliche Problematik an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen. Die begehrte Feststellung, dass die im Antrag genannten Bestimmungen des ORF‑Gesetzes auf die Arbeitsverhältnisse der vom Antragsteller vertretenen Arbeitnehmer/innen nicht anzuwenden seien, könne wohl unstrittig nicht getroffen werden, zumal selbst verfassungswidrige Gesetze einzuhalten seien, solange sie nicht vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben werden. Dennoch bestehe aber auch aus Sicht des Antragsgegners nachhaltiges Interesse an der Klärung der aufgeworfenen Fragen. Solange diese nicht geklärt seien, müssten nämlich infolge der Gebundenheit an das ORF‑Gesetz entsprechende Kürzungen der Entgeltbestandteile vorgenommen und im Gegenzug Rückstellungen gebildet werden, was der vom Gesetzgeber intendierten Ausgabenreduktion entgegenstehe.

Rechtliche Beurteilung

Dazu ist auszuführen:

[5] 1. Die vom Antragsgegner nicht bestrittene Antragslegitimation des Antragstellers ist aus den im Antrag dargelegten und mit der bisherigen Rechtsprechung im Einklang stehenden Gründen zu bejahen (§ 48 Abs 5 ORF‑G; 9 ObA 84/15s mwH).

[6] 2.1 Gemäß § 54 Abs 2 ASGG können kollektivvertragsfähige Körperschaften der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer im Rahmen ihres Wirkungsbereichs gegen eine kollektivvertragsfähige Körperschaft der Arbeitnehmer bzw der Arbeitgeber beim Obersten Gerichtshof einen Antrag auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens von Rechten oder Rechtsverhältnissen anbringen, die einen von namentlich bestimmten Personen unabhängigen Sachverhalt betreffen. Der Antrag muss eine Rechtsfrage des materiellen Rechts auf dem Gebiet der Arbeitsrechtssachen nach § 50 ASGG zum Gegenstand haben, die für mindestens drei Arbeitgeber oder Arbeitnehmer von Bedeutung ist. Gemäß § 54 Abs 4 ASGG hat der Oberste Gerichtshof über den Feststellungsantrag auf der Grundlage des darin angegebenen Sachverhalts zu entscheiden.

[7] 2.2 Ein Feststellungsantrag gemäß § 54 Abs 2 ASGG muss einen Sachverhalt enthalten, der ein Feststellungsinteresse begründet. Die Formulierung der Bestimmung deckt sich mit jener des § 228 ZPO. Danach kann das Bestehen oder Nichtbestehen von Rechten oder Rechtsverhältnissen mit Feststellungsklage dann geltend gemacht werden, wenn ein rechtliches Interesse an dieser Feststellung besteht (9 ObA 116/21f Rz 12). Das Feststellungsinteresse ist auf Grundlage des vom Antragsteller behaupteten Sachverhalts von Amts wegen zu prüfen (RS0085712). Das Fehlen des rechtlichen Interesses führt nach ständiger Rechtsprechung zur Abweisung des Antrags (RS0085712 [T1]). Nichts anderes gilt für den Antrag nach § 54 Abs 2 ASGG (RS0037479 [T1]).

[8] 3.1 Ein Rechtsverhältnis ist die bestimmte, durch den vorgetragenen Sachverhalt gegebene und konkretisierte rechtliche Beziehung zwischen Personen oder zwischen einer Person und einem Gegenstand; weiters fallen darunter auch die einzelnen rechtlichen Folgen einer solchen Rechtsbeziehung (RS0039223; RS0039053; RS0038986). Die ohnehin geregelte objektive Rechtslage ist nach ständiger Rechtsprechung hingegen nicht feststellungsfähig (RS0039014 [T2]; RS0038802; RS0039215 [T3]; RS0037422 [T3, T8]). Das gilt im besonderen für die Kontrolle einer Norm auf ihre Verfassungskonformität (5 Ob 212/21v unter Hinweis auf 3 Ob 594/81 = RS0039612 [Kirchenbeitragsordnung]).

[9] 3.2 Zwar ist eine Feststellungsklage, dass ein Kollektivvertrag auf das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers anwendbar ist, zulässig, wenn dies bestritten wurde (1 Ob 567/36 = Arb 4710; Frauenberger‑Pfeiler in Fasching/Konecny³ III/1 § 228 ZPO Rz 105; vgl auch 9 ObA 22/23k Rz 14 f zu § 54 Abs 1 ASGG). Insofern wurde auch die Feststellungsfähigkeit der Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit von Rechtsnormen bejaht. In diesen Fällen ging es jedoch jeweils um die Frage der Anwendbarkeit von Rechtsnormen auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis, also die Frage, ob deren sachlicher, zeitlicher und personeller Anwendungsbereich im zu beurteilenden Fall eröffnet ist, was aufgrund einer Subsumtion respektive Auslegung im konkreten Fall zu lösen war. Davon ganz grundsätzlich zu unterscheiden ist die hier begehrte Feststellung der generellen Nichtanwendung geltender Rechtsnormen aufgrund deren behaupteter Verfassungswidrigkeit.

[10] 3.3 Weiters sind nach ständiger Rechtsprechung abstrakte Rechtsfragen nicht feststellungsfähig (RS0109383). Auch Feststellungsanträge nach § 54 Abs 2 ASGG zur Klärung abstrakter Rechtsfragen erfüllen nicht die Voraussetzungen eines rechtlichen Interesses (vgl RS0109383 [T7]). So kann etwa die bloße abstrakte Auslegung von Kollektivvertragsbestimmungen nicht Gegenstand einer Entscheidung im besonderen Feststellungsverfahren sein (RS0085702). In der – ein Feststellungsverfahren nach § 54 Abs 1 ASGG betreffenden – Entscheidung 8 ObA 18/07s qualifizierte der Oberste Gerichtshof auch die Frage, ob bestimmte gesetzliche Regelungen verfassungswidrig sind – worauf das dortige Haupt‑ und Eventualbegehren abzielte –, als abstrakte Rechtsfrage.

[11] 3.4 Auch „bloße Rechtslagen“ sind nicht feststellungsfähig (RS0038802; RS0037422 [T3,T8]). So wurde in der Entscheidung 9 ObA 257/92 den ausschließlich auf die Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen des § 77 GewO 1859 und des § 1159b ABGB gestützten Ausführungen entgegengehalten, dass ein Bedürfnis nach Zulassung einer Feststellungsklage nur dann bestehe, wenn das Feststellungsurteil den Zweck erfüllt, den Streitfall bindend (iS einer vollkommenen Bereinigung des streitigen Rechtskomplexes) zu klären. Zur Feststellung bloßer „Rechtslagen“ diene eine Feststellungsklage hingegen nicht. Darin unterscheidet sich der vorliegende Fall auch von der Rechtssache 8 ObA 82/22z, in der nicht die Feststellung der Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes (wegen dessen behaupteter Verfassungswidrigkeit) begehrt wurde, sondern die über die Feststellung der bloßen Rechtslage hinausgehende Feststellung, dass bei der Ermittlung der Verbesserung des Vorrückungsstichtags von Landesvertragsbediensteten des Landes Kärnten gleichwertige inländische Vordienstzeiten zur Gänze berücksichtigt werden.

[12] 3.5 Für die Bejahung eines rechtlichen Interesses ist letztlich ein konkreter, aktueller Anlass erforderlich, der zur Hintanhaltung einer tatsächlichen und ernstlichen Gefährdung der Rechtslage des Klägers eine alsbaldige gerichtliche Entscheidung notwendig macht. Allein prozessuale Vorteile – wie etwa hier die möglichst frühzeitige Wahrnehmung der Möglichkeit, eine Antragstellung auf Aufhebung einer Rechtsvorschrift beim Verfassungsgerichtshof zu erreichen – genügen dafür nicht (RS0039215 [T3]; 9 ObA 72/94).

[13] Bei einer negativen Feststellungsklage wird das rechtliche Interesse nur dann bejaht, wenn der Beklagte ernsthaft behauptet, ein solches Recht zu haben (RS0038974) und dadurch eine Gefährdung der Rechtsstellung des Klägers hervorgerufen wird. Zu der im vorliegenden Antrag begehrten Feststellung, die genannten Bestimmungen seien nicht auf die Arbeitsverhältnisse der betroffenen Arbeitnehmer anzuwenden, verwies der Antragsgegner aber nur darauf, dass Gesetze einzuhalten seien, solange sie nicht vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehoben worden sind. Diese Äußerung stellt keine ein Feststellungsinteresse begründende Rechtsanmaßung („Berühmung“) eines individuellen Rechts dar, die für den Antragsteller Rechtsunsicherheit verursacht. Vielmehr verfolgt der Antragsgegner – übereinstimmend mit dem Antragsteller – die Zielsetzung, das vorliegende Verfahren nach § 54 Abs 2 ASGG als „Vehikel“ zu benutzen, um den Obersten Gerichtshof zu veranlassen, die verfassungsrechtliche Problematik an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen. Auch daraus wird ersichtlich, dass der Antrag im Kern darauf hinausläuft, die Rechtsansicht des Obersten Gerichtshofs zu der von beiden Parteien übereinstimmend vermuteten Verfassungswidrigkeit auszuloten und – gegebenenfalls – prozessuale Vorteile aus einem vom Obersten Gerichtshof veranlassten Gesetzesprüfungsverfahren zu erzielen.

[14] 4.1 Das Vorliegen eines feststellungsfähigen Rechts oder Rechtsverhältnisses ist ein wesentliches Tatbestandsmerkmal des Feststellungsanspruchs. Das Fehlen dieses Tatbestandselements führt daher – wie hier – zur Abweisung des Feststellungsantrags (RS0038898).

[15] 4.2 Der gewünschte Antrag auf Aufhebung einer Rechtsvorschrift beim Verfassungsgerichtshof aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit würde voraussetzen, dass das Gericht diese Rechtsvorschrift anzuwenden hat (Art 89 Abs 1 und Abs 2 B‑VG). Mangels Zulässigkeit des Feststellungsantrags trifft das auf die vom Antragsteller angegriffenen Bestimmungen des ORF‑Gesetzes nicht zu, sodass sie für die vorliegende Entscheidung nicht präjudiziell sind.

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