OGH 4Ob183/23z

OGH4Ob183/23z20.2.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden sowie den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Waldstätten und den Hofrat Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei *, vertreten durch Dr. Thomas Juen, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei * Bezirkskrankenhaus *, vertreten durch Dr. Johannes Hibler, Rechtsanwalt in Lienz, wegen 204.262,27 EUR sA und Feststellung (Streitwert 15.000 EUR) über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandegerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 23. August 2023, GZ 4 R 115/23b‑147, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00183.23Z.0220.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin wurde mit einem Herzinfarkt ins Spital der Beklagten eingeliefert und erhielt zur Blutverdünnung ein Medikament mit dem Wirkstoff Enoxaparin. Als bei ihr eine Einblutung in den Wirbelkanal auftrat, wurde sie in ein größeres Spital überstellt. Die Ärzte dort führten keine rückenmarkfunktionserhaltende Operation durch, weil sie aufgrund des blutverdünnenden Medikaments das Risiko einer intra‑ oder postoperativen Blutung bei einem zeitnahen Eingriff als zu hoch erachteten. Die Klägerin ist nun querschnittsgelähmt.

[2] Die Klägerin begehrte Schadenersatz wegen mehrerer Behandlungs‑, Diagnose‑ sowie Aufklärungsfehler sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schäden. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch die Medikation mit dem Wirkstoff Enoxaparin statt Fondaparinux.

[3] Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab. Ex ante sei die kardiologische Diagnose und Therapie mit Enoxaparin anhand der vorliegenden Befunde nachvollziehbar und korrekt gewesen. Einblutungen in den Wirbelkanal seien extrem selten, bei der Klägerin hätten auch keine Kontraindikationen vorgelegen. Diese schicksalhafte Komplikation sei somit unvorhersehbar gewesen. Ein Unterlassen der Medikation wäre dagegen ein medizinischer Fehler gewesen.

Rechtliche Beurteilung

[4] Mit ihrer außerordentlichen Revision will die Klägerin die Klagsstattgebung erreichen. Sie zeigt keine erhebliche Rechtsfrage auf.

[5] 1. Welche medizinischen Maßnahmen in einem konkreten Fall erforderlich bzw zweckmäßig waren oder gewesen wären, ist nach ständiger Rechtsprechung eine nicht revisible Tatfrage (RS0026418). Die Anfechtung der Ergebnisse von Sachverständigengutachten ist mit Revision aber insoweit möglich, als dabei ein Verstoß gegen zwingende Denkgesetze oder zwingende Gesetze des sprachlichen Ausdrucks unterlaufen ist (RS0043404; RS0043168).

[6] Einen solchen Verstoß vermag die Klägerin hier nicht aufzuzeigen. Sie verweist auf Studien, nach denen schwere Blutungen bei Fondaparinux seltener auftreten als bei Enoxaparin (2,2 % vs 4,1 %). Die Verabreichung von Enoxaparin werde von den Leitlinien der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft für die Behandlung bei Nicht‑ST‑Hebungs‑Herzinfarkten daher nur empfohlen, wenn Fondaparinux nicht verfügbar sei.

[7] Den Studien mag bei einer ex post‑Betrachtungdes Falls der Klägerin aus heutiger Sicht Bedeutung zukommen. Die gerichtlichen Sachverständigen hatten in diesem Prozess aber zu prüfen, ob die Wahl des Blutverdünnungsmittels ex ante, also im Moment der Verschreibung, den Regeln der ärztlichen Kunst entsprach. Angesichts der extremen Seltenheit von Wirbelsäulenblutungen im Allgemeinen und dem Fehlen von Kontraindikationen bei der Klägerin im Besonderen, widerspricht es nicht zwingenden Denkgesetzen, wenn im Gutachten auch die guten Erfahrungswerte im Krankenhaus der Beklagten mit dem verabreichten Medikament und der negative Einfluss des Alternativmedikaments auf eine noch geplante Herzkatheteruntersuchung ins Kalkül einflossen.

[8] Von wissenschaftlichen Fachgesellschaften herausgegebene medizinische Leitlinien (Clinical Practice Guidelines) haben allenfalls Indizwirkung und können die Feststellung eines Vorgehens lege artis bzw eines ärztlichen Fehlverhaltens im konkreten Fall nicht ersetzen (RS0132932). Im vorliegenden Fall setzte sich der Gerichtssachverständige in seinem Gutachten, wie in 8 Ob 110/19p [Pkt 1.2.1] gefordert, auch mit einer allfälligen Abweichung von Behandlungsleitlinien auseinander.

[9] 2. Auch die Frage, ob sogenannte „überschießende“ Feststellungen noch in den Rahmen des geltend gemachten Rechtsgrundes oder der Einwendungen fallen (RS0037972; RS0040318) und daher bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden dürfen, ist eine Frage des Einzelfalls, der grundsätzlich keine über den einzelnen Rechtsstreit hinausgehende Bedeutung zukommt (1 Ob 92/23w Rz 5 mwN).

[10] Eine Fehlbeurteilung durch die zweite Instanz zeigt die Klägerin auch hier nicht auf. Vielmehr brachte die Beklagte ausdrücklich vor,

- dass das verabreichte Medikament keine höhere Blutungsneigung verursache als die Alternative (KB ON 4 S 4 letzter Abs);

- dass die Erfahrung im Krankenhaus der Beklagten mit Enoxaparin größer und die Gabe dieses Wirkstoffs daher Standard gewesen sei (KB ON 4 S 4 Abs 4);

- dass die Klägerin keine Risikopatientin hinsichtlich Blutungen gewesen war (KB ON 3 letzter Abs).

[11] Die Klägerin brachte selbst vor, dass sie sich bei genauer Aufklärung über die unterschiedlichen Medikamente nicht für eines mit Enoxaparin entschieden hätte (Klage ON 1 S 14 vorletzter Abs). Damit ist auch die Feststellung des Gegenteils nicht überschießend, dass die Klägerin auch in diesem Fall der Behandlung mit Enoxaparin sehr wohl zugestimmt hätte. Bei der Beurteilung, ob eine überschießende Feststellung vorliegt, ist nämlich nicht darauf abzustellen, ob sich der vom Erstgericht getroffene Sachverhalt wörtlich mit Parteienbehauptungen deckt, sondern nur zu prüfen, ob sich die Feststellungen im Rahmen eines geltend gemachten Klagsgrundes oder erhobener Einwendungen halten (6 Ob 191/23s Rz 23 mwN).

[12] 3. Die Klägerin meint, dass die Vorinstanzen die Beweislast für das (Nicht‑)Vorliegen der Kausalität im Falle eines ärztlichen Fehlers falsch verteilt hätten. Die Beklagte müsse den vollen Beweis erbringen, dass die Einblutung in den Wirbelkanal auch im Falle der Anwendung des Medikaments mit Fondaparinux eingetreten wäre.

[13] 3.1. Im Zivilprozess hat grundsätzlich jede Partei die für ihren Rechtsstandpunkt günstigen Tatsachen zu beweisen (RS0037797).

[14] Bei möglicherweise mit ärztlichen Behandlungsfehlern zusammenhängenden Gesundheitsschäden von Patienten stellt die Rechtsprechung wegen der besonderen Schwierigkeit eines exakten Beweises an den Kausalitätsbeweis geringere Anforderungen (RS0038222 [T3]). Steht demnach ein ärztlicher Behandlungsfehler fest und ist auch unzweifelhaft, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts dadurch nicht bloß unwesentlich erhöht wurde, kommt es zu einer Beweislastumkehr für die Kausalität des Behandlungsfehlers (RS0026768; RS0038222 [T7, T9, T11]; RS0026768 [T4]; RS0106890 [T18]). In diesen Fällen obliegt dem behandelnden Arzt (bzw dem Krankenhausträger) der Beweis, dass sich das Fehlverhalten im konkreten Fall mit größter Wahrscheinlichkeit nicht ausgewirkt hat (RS0026768 [T6, T7, T10]).

[15] 3.2. Richtig ist, dass nach den Feststellungen der Vorinstanzen im Fall der Klägerin die Gabe von blutverdünnendem Enoxaparin (mit‑)ursächlich für die Einblutungen in den Wirbelkanal war und einen chirurgischen Eingriff zur Behebung oder zumindest Verbesserung der entstandenen Lähmung verhinderte.

[16] Die Beweislastumkehr findet aber nur statt, wenn ein Behandlungsfehler vorlag. Das ist aber hier nicht der Fall, denn nach den (keinen Denkgesetzen widersprechenden) Feststellungen der Vorinstanzen entsprach die Gabe eines blutverdünnenden Medikaments und auch konkret des Wirkstoffs Enoxaparin zur Behandlung des Herzinfarkts der Klägerin ex ante den Regeln der ärztlichen Kunst.

[17] 4. Der Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls (RS0026763 [T2]) und wäre daher nur revisibel (RS0026763 [T5]), wenn dem Berufungsgericht eine Fehlbeurteilung unterlaufen wäre, die aus Gründen der Rechtssicherheit oder der Einzelfallgerechtigkeit vom Obersten Gerichtshof korrigiert werden müsste (RS0021095).

[18] Eine solche Fehlbeurteilung kann die Klägerin nicht aufzeigen. Nach den Feststellungen befand sie sich in einem potentiell lebensbedrohlichen Zustand auf der Intensivstation, sodass ihr eine schriftliche oder detaillierte Aufklärung hinsichtlich der wissenschaftlichen Unterschiede der einzelnen Medikamente nicht zumutbar war, zumal es auch keine alternative Behandlungsmöglichkeit gab.

[19] 5. Sekundäre Feststellungsmängel liegen nur dann vor, wenn Tatsachen fehlen, die für die Beurteilung wesentlich sind, und diese nach dem Vorbringen der Parteien und den Ergebnissen des Verfahrens zu prüfen waren (RS0053317). Wurden zu einem bestimmten Thema Tatsachenfeststellungen getroffen, können insoweit auch keine rechtlichen Feststellungsmängel erfolgreich geltend gemacht werden, auch wenn der vom Gericht ermittelte Sachverhalt von den Vorstellungen des Rechtsmittelwerbers abweicht (RS0053317 [T1]).

[20] Das Erstgericht stellte fest, dass die Verabreichung von Enoxaparin im Fall der Klägerin lege artis war, sodass selbstverständlich nicht auch noch die gegenteilige Feststellung zu treffen war. Auch eine Feststellung zur Verfügbarkeit von Fondaparinux war damit nicht mehr erforderlich.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte