European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0050OB00154.23T.1019.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
[1] 1. Die behauptete Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens wurde geprüft, sie liegt nicht vor (§ 71 Abs 3 AußStrG).
[2] 2. Der Entscheidung über die Übertragung der Obsorge kommt im Einzelfall keine grundsätzliche Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zu, wenn dabei ausreichend auf das Kindeswohl Bedacht genommen und keine leitenden Rechtsprechungsgrundsätze verletzt wurden (RIS‑Justiz RS0115719; RS0007101). Das gilt insbesondere für die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Obsorgeübertragung gemäß § 181 ABGB erfüllt sind und eine Kindeswohlgefährdung vorliegt (RS0115719 [T16]; RS0007101 [T21]; RS0048633 [T24]).
[3] 3. Dem Rekursgericht ist auch keine Fehlbeurteilung unterlaufen, die vom Obersten Gerichtshof aus Gründen der Rechtssicherheit oder der Einzelfallgerechtigkeit korrigiert werden müsste.
[4] Die Vorinstanzen haben die Entscheidung, die alleinige Obsorge von der Mutter auf den Vater zu übertragen, auf § 181 Abs 1 ABGB gestützt. Nach dieser Bestimmung hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeit, die soziale Integration oder die wirtschaftliche Sphäre des Kindes konkret gefährden (RS0048633 [T22]).
[5] Die Vorinstanzen sahen hier das Wohl des Kindes iSd § 181 Abs 1 ABGB zum einen dadurch gefährdet, dass bei dessen Rückführung in den Haushalt der Mutter aufgrund der (nach wie vor) eingeschränkten Erziehungsfähigkeit der Mutter, die Wiederholung jener Umstände zu befürchten sei, die im Juni 2020 die Kindesabnahme notwendig gemacht hatten (Verwahrlosung, insbesondere unzureichende Hygiene; keine adäquate Reaktion der Mutter auf massive Verhaltensauffälligkeiten und mangelnde Problemeinsicht). Zum anderen verweisen die Vorinstanzen auf die fehlende Bindungstoleranz der Mutter gegenüber dem Vater, bei dem das Kind seit Dezember 2020 untergebracht ist.
[6] Diese Beurteilung ist vor dem Hintergrund des gesamten festgestellten Sachverhalts nicht korrekturbedürftig. Die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen sind ausreichend aussagekräftig und aktuell, um die Annahme einer Kindeswohlgefährdung iSd § 181 ABGB zu rechtfertigen. Die gegenteilige Argumentation der Rechtsmittelwerberin beruht auf dem Versuch, das Gewicht einzelner Fakten mit mehr oder weniger nachvollziehbarer Begründung zu relativieren, kann damit aber im Hinblick auf die gebotene Gesamtschau keine aufzugreifende Fehlbeurteilung aufzeigen.
[7] 4. Es ist richtig, dass die Entziehung der Obsorge – unter Anlegung eines strengen Maßstabs – nur das letzte Mittel sein und nur angeordnet werden darf, wenn sie zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist. Ganz allgemein gelten für die Maßnahme des Gerichts nach § 181 ABGB die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit iSd gelindesten Mittels (§ 182 ABGB; 5 Ob 191/22g mwN).
[8] Ob solche gelindere Mittel ausreichen, ist allerdings wiederum eine Frage des Einzelfalls und wirft daher im Allgemeinen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf (RS0048712 [T 13]; RS0132193 [T2]). Mit ihrer Behauptung, die Vorinstanzen wären hier verpflichtet gewesen, vor dem letzten Mittel der Entziehung der Obsorge die Inanspruchnahme bestimmt bezeichneter Beratungs- und Unterstützungsangebote anzuordnen, negiert die Rechtsmittelwerberin, dass die Vorinstanzen ihr die dafür erforderliche Problemeinsicht und Kooperationsbereitschaft absprechen. Auch diese Beurteilung ist nach den festgestellten Tatsachen und den Verfahrensergebnissen nicht zu beanstanden.
[9] 5. Auch im Außerstreitverfahren gilt in dritter Instanz das Neuerungsverbot (RS0119918). Der Entscheidung sind die Umstände zum Zeitpunkt der Beschlussfassung in erster Instanz zugrunde zu legen (RS0006928). Ungeachtet des Neuerungsverbots ist der Maxime des Kindeswohls im Obsorge‑ und Kontaktrechtsverfahren zwar dadurch zu entsprechen, dass neue Tatsachen auch dann zu berücksichtigen sind, wenn sie erst nach der Beschlussfassung der Vorinstanzen eingetreten sind (RS0122192; RS0048056).
[10] Das bezieht sich aber nur auf unstrittige und aktenkundige Umstände, nicht aber auf solche, die erst noch durch ein Beweisverfahren zu klären wären (RS0122192 [T3, T4]; RS0048056 [T7, T10]). Überdies kommt eine Berücksichtigung nur bei wesentlicher Veränderung der Tatsachengrundlage in Betracht (RS0122192 [T3]; RS0048056 [T6, T10]; RS0006893 [T16]). Schon aus diesem Grund rechtfertigen es die im Revisionsrekurs aufgestellten Behauptungen der Rechtsmittelwerberin, der Vater habe gegen die Informationspflichten verstoßen und dessen „Patch Work Familienstruktur“ habe sich durch die Geburt eines weiteren Kindes wesentlich geändert, nicht, die Ergänzung des Verfahrens aufzutragen. Auch der mit dem Revisionsrekurs vorgelegte Bericht der Volksanwaltschaft, in dem diese das Handeln des KJHT im Zusammenhang mit der vorläufigen Unterbringung des Kindes beim Vater im Dezember 2020 und das verfrühte Aussetzen der unbegleiteten Besuchskontakte im Mai 2021 kritisiert, ist in diesem Sinn für die hier vorzunehmende Beurteilung der endgültigen Obsorgeübertragung nicht erheblich.
[11] 6. Seit dem KindNamRÄG 2013 soll die Obsorge beider Elternteile zwar (eher) der Regelfall sein (RS0128811 [T1]). Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Elternteile setzt nach ständiger Rechtsprechung aber ein gewisses Mindestmaß an Kooperations‑ und Kommunikationsfähigkeit der Eltern voraus. Um Entscheidungen gemeinsam iSd Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen (RS0128812). Es ist notwendig, dass Erziehungs‑ und Betreuungsmaßnahmen besprochen werden, die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes möglichst übereinstimmend beurteilt werden und sich die darauf beziehenden Entscheidungen der Elternteile nicht regelmäßig widersprechen (RS0128812 [T25]). Zu beurteilen ist daher, ob bereits jetzt eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder ob zumindest in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet werden kann (RS0128812).
[12] Dies kann nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden und wirft daher im Allgemeinen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf (RS0128812 [T5, T15, T19]; RS0130248 [T2]). Eine ausnahmsweise zur Wahrung des Kindeswohls aufzugreifende Fehlbeurteilung des Rekursgerichts zeigt die Revisionsrekurswerberin auch in diesem Zusammenhang nicht auf. Dass die Eltern im Besuchscafé einen respektvollen Umgang pflegten und es ihnen (auch nur) vereinzelt gelang, Vereinbarungen über das Kontaktrecht zu treffen, ist vor dem Hintergrund der weiteren Feststellungen zum Umgang der Mutter mit der aktuellen Betreuungssituation und ihrer Einstellung zum Vater und seiner Familie nicht ausreichend. Der Wunsch der Mutter nach einer rechtlichen Befugnis im Außenverhältnis ist angesichts der Maßgeblichkeit des Kindeswohls irrelevant.
[13] 7. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).
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