OGH 10ObS24/23m

OGH10ObS24/23m24.7.2023

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober (Senat gemäß § 11a Abs 3 ASGG) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. H*, vertreten durch Hochsteger, Perz und Wallner, Rechtsanwälte in Hallein, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, 1080 Wien, Josefstädter Straße 80, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens AZ 18 Cgs 137/17f des Landesgerichts Salzburg, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13. Februar 2023, GZ 11 Rs 24/22 m-15, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00024.23M.0724.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Sozialrecht, Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird gemäß § 526 Abs 2 Satz 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist die vom Kläger begehrte Wiederaufnahme des Verfahrens AZ 18 Cgs 137/17f des Landesgerichts Salzburg (künftig: Vorverfahren).

[2] Im Vorverfahren wurde das vom Kläger erhobene, auf Zuspruch einer Versehrtenrente gerichtete Klagebegehren rechtskräftig abgewiesen, weil aufgrund eines medizinischen Sachverständigengutachtens festgestellt worden war, dass eine Minderung der Erwerbsfähigkeit nur für die Dauer der Suspendierung des Klägers (von 16. Mai 2014 bis 27. Juli 2014) 20 % betragen habe, anschließend auf 10 % gesunken sei und schließlich (ab seiner Pensionierung per 1. Oktober 2015) nicht mehr vorgelegen sei.

[3] Seine Wiederaufnahmeklage stützt der Kläger darauf, dass ihm das anlässlich der Verlängerung seines Behindertenpasses erstattete Gutachten des Sachverständigen des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen (BASB) vom 23. November 2021 eine Behinderung von 70 % attestiere, was im eklatanten Widerspruch zu dem im Vorverfahren erstatteten Sachverständigengutachten stehe. Das Gutachten vom 23. November 2021 stelle ein neues Beweismittel dar, das die Wiederaufnahme des Vorverfahrens rechtfertige.

[4] Das Erstgericht wies die Wiederaufnahmeklage nach Zustellung an die beklagte Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau (aber vor Anberaumung einer Tagsatzung) zurück, weil das ins Treffen geführte Gutachten keinen tauglichen Wiederaufnahmegrund darstelle.

[5] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung im zweiten Rechtsgang (zum ersten siehe 10 ObS 82/22i).

Rechtliche Beurteilung

[6] Der – von der Beklagten ohne Freistellung durch den Obersten Gerichtshof beantwortete – außerordentliche Revisionsrekurs des Klägers ist zwar nicht nach § 528 Abs 2 Z 2 ZPO jedenfalls unzulässig (10 ObS 82/22i Rz 11). Eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 528 Abs 1 ZPO wird darin aber nicht aufgezeigt.

[7] 1.1. Wenn der Kläger neuerlich auf die im Rekurs geltend gemachten Nichtigkeitsgründe zurückkommt, hat der Oberste Gerichtshof schon im ersten Rechtsgang darauf verwiesen, dass diese vom Rekursgericht verneint wurden und daher in dritter Instanz nicht mehr zu prüfen sind. Zudem wurde klargestellt, dass diese Rechtsmittelbeschränkung auch nicht durch die hier wiederholte Behauptung umgangen werden kann, das Rekursgericht sei auf bestimmte Argumente nicht (ausreichend) eingegangen oder es sei ihm (deshalb) selbst eine Nichtigkeit unterlaufen (10 ObS 82/22i Rz 12). Ebenso wenig kann eine Nichtigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens durch Berufung auf eine Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens an den Obersten Gerichtshof herangetragen werden (RIS-Justiz RS0043405 [T6]; RS0042981 [T5]).

[8] 1.2. Die überdies behauptete Nichtigkeit der Rekursentscheidung nach § 477 Abs 1 Z 9 ZPO könnte nur dann gegeben sein, wenn diese gar nicht oder so mangelhaft begründet wäre, dass sie sich nicht überprüfen lässt (RS0042133 [T6, T10, T11]; RS0007484). Das ist hier nicht der Fall. Der angezogene Nichtigkeitsgrund wird auch nicht durch eine vermeintlich mangelhafte Begründung (RS0042206) oder das angebliche Fehlen einer rechtlichen Begründung zu einzelnen Fragen verwirklicht (RS0042203). Die dahingehenden Vorwürfe des Klägers sind auch nicht berechtigt.

[9] 2. Die geltend gemachten Mängel des Rekursverfahrens wurden geprüft; sie liegen nicht vor (§ 528a iVm § 510 Abs 3 ZPO). Hervorzuheben ist nur:

[10] 2.1. Zwar kann das Rechtsmittelverfahren selbst mängelbehaftet sein, wenn sich das Gericht zweiter Instanz mit einer Mängelrüge nicht befasst (RS0042963 [T9]; RS0040597 [T4]) oder sie mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verwirft (RS0042963 [T28]; RS0043086 [T5]). Hier trifft jedoch beides nicht zu.

[11] 2.2. Die vermeintlich mangelhafte inhaltliche Beurteilung durch das Rechtsmittelgericht begründet keinen Verfahrensmangel. Dass das Rekursgericht die Wiedergabe der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen auf das Wesentliche beschränkt hat, findet in § 500a iVm § 526 Abs 3 ZPO Deckung; die Relevanz eines etwaigen Verstoßes dagegen legt der Kläger auch nicht dar (vgl 8 Ob 11/04g; A. Kodek in Rechberger/Klicka ZPO5 § 500a Rz 2).

[12] 2.3. Die Nichterledigung der Rüge von (rechtlichen) Feststellungsmängeln kann zwar eine Mangelhaftigkeit des Rechtsmittelverfahrens bewirken (RS0041032 [T2]). Die von den Vorinstanzen durchgeführte – vom Kläger nicht in Frage gestellte – Schlüssigkeitspüfung zielt jedoch darauf ab, ob der Wiederaufnahmeklage unter der Prämisse des Zutreffens der ihr zugrunde liegenden Behauptungen stattzugeben wäre (1 Ob 192/20x; RS0044631). Grundlage dieser Prüfung ist ausschließlich das Klagevorbringen, sodass es keiner Feststellungen bedarf (vgl RS0037755 [T3]). Ebenso wenig kommt es auf (vom Kläger beantragte) Beweise an.

[13] 3. Mit dem Verweis auf das Gutachten des BASB möchte der Kläger die Unrichtigkeit des im Vorverfahren eingeholten Gutachtens und die fehlende Qualifikation der dort tätigen Sachverständigen dartun. Dass sich aus späteren Tatsachen die Unrichtigkeit oder Mangelhaftigkeit des im Vorverfahren eingeholten Sachverständigengutachtens oder die fehlende Eignung des Sachverständigen ergeben soll, ist nach ständiger Rechtsprechung für sich allein aber noch kein tauglicher Wiederaufnahmegrund (RS0044555; RS0044834). Anderes gilt nur, wenn etwa ein später eingeholtes Gutachten auf einer neuen wissenschaftlichen Erkenntnismethode beruht, die zur Zeit des Vorprozesses noch nicht bekannt war (RS0044733 [T1]; RS0044555 [T4]), wenn das dort erstattete Gutachten deshalb auf einer unvollständigen Grundlage beruhte, weil nachträglich neue Tatsachen bekannt wurden, die dem Sachverständigen im Zeitpunkt der Befundaufnahme noch nicht zugänglich waren (RS0044773 [T2]), oder wenn dieser eine behauptete Zwischenerhebung in Wahrheit nicht durchgeführt hat (RS0044834 [T5]; RS0044411 [T2]). Ohne das Hinzutreten derartiger Umstände gibt ein neues Gutachten dagegen kein neues Beweismittel ab (10 ObS 41/14y; RS0044555 [T5]).

[14] 3.1 Die Entscheidungen der Vorinstanzen folgen dieser Rechtsprechung. Ihre Beurteilung, der Kläger habe keine mit den bisher angenommenen Ausnahmen wenigstens vergleichbare Umstände vorgebracht, reicht nicht über den vorliegenden Fall hinaus (vgl RS0044411 [T19]) und bedarf schon deshalb keiner Korrektur im Einzelfall, weil der Kläger selbst davon ausgeht, der Sachverständige des BASB habe „denselben anspruchsbegründenden Sachverhalt beurteilt, wie alle Sachverständigen vor ihm. Unterschiedlich war nur das Rechtsgebiet und deren Rechtsfolgen“ – und nicht etwa die Erkenntnismethode. Ob der Prüfgegenstand der Gutachten überhaupt vergleichbar ist, ist daher nicht mehr entscheidend.

[15] 3.2. Nach der Rechtsprechung rechtfertigt die auf einer behaupteten unrichtigen rechtlichen Beurteilung beruhende (angebliche) Unrichtigkeit einer Entscheidung die Wiederaufnahme nicht (Jelinek in Fasching/Konecny 3 § 530 ZPO Rz 145), was auch für eine Unionsrechtswidrigkeit der Entscheidung gilt (4 Ob 83/12b; vgl RS0121588). Anderes ergibt sich auch aus den Entscheidungen des EuGH C-234/04 , Kapferer und C‑676/17 , Calin nicht. Nach diesen besteht eine Pflicht, unionsrechtswidrige, aber rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen rückgängig zu machen (aufzuheben) nämlich nur dann, wenn dies die nationalen Verfahrensvorschriften ermöglichen. Diesen, schon vom Rekursgericht dargestellten Grundätzen hält der Kläger nur seine (wörtlich wiederholten) Rekursausführungen entgegen (RS0043603 [T15]), beschäftigt sich ansonsten aber nicht näher damit.

[16] 3.3. Der aus dem Behindertenpass und § 14 Abs 1 Satz 2 BEinstG abgeleitete (Umkehr-)Schluss, dass nicht nur die Feststellung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit als Feststellung des Grades der Behinderung gelte, sondern auch umgekehrt, überzeugt nicht, weil begünstigte Behinderte nur eine von mehreren in § 40 BBG genannten Personengruppen sind, die Anspruch auf einen Behindertenpass haben.

[17] 4. Insgesamt macht der Kläger somit keine Rechtsfrage von der Qualität des § 528 Abs 1 ZPO geltend, weshalb der außerordentliche Revisionsrekurs zurückzuweisen ist.

Stichworte