European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0120OS00086.21W.0916.000
Spruch:
In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde werden das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch III./, demzufolge auch im Strafausspruch und im Privatbeteiligtenzuspruch sowie der Beschluss auf Erteilung einer Weisung aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht St. Pölten verwiesen.
Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde zurückgewiesen.
Mit seiner Berufung und seiner Beschwerde wird der Angeklagte auf die kassatorische Entscheidung verwiesen.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde der Angeklagte ***** J***** der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB (I./), der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (II./) sowie der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB schuldig erkannt (III./).
[2] Danach hat er im Zeitraum von Frühjahr 2018 bis April 2019 in P***** in zumindest fünf Angriffen
I./ eine wehrlose Person, und zwar seine am 20. Mai 2008 geborene Nichte ***** K*****, während diese schlief, gerade erwachte und noch unter dem Eindruck des Erwachens stand, unter Ausnützung dieses Zustands dadurch missbraucht, dass er mit ihr dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen vornahm, indem er sie im Genitalbereich leckte, mit mehreren Fingern berührte und sie mit einem Finger vaginal penetrierte,
II./ durch die zu I./ dargestellten Taten mit einer unmündigen Person dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen sowie
III./ durch die zu I./ dargestellten Taten mit einer minderjährigen Person, die seiner Aufsicht unterstand, unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber dieser Person geschlechtliche Handlungen vorgenommen.
Rechtliche Beurteilung
[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 5, 5a, 9 lit a und 10 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – teilweise Berechtigung zukommt:
[4] In der Hauptverhandlung (ON 23 S 58 ff) beantragte der Angeklagte
a./ die Vernehmung des Zeugen Sebastian Ka***** zum Beweis dafür, dass „der Tisch zumindest länger als … drei Jahre, sprich sieben Jahre, im Zimmer des Angeklagten steht“,
b./ die Durchführung eines Ortsaugenscheins „zum Beweis der örtlichen Verhältnisse, zur Lage des Zimmers, der Größe des Bettes, der Größe des Sofas, mit einer Stellprobe, wenn man die Tür mit einem Stecken verkeilt, ob man die dann tatsächlich nicht aufbringt“,
c./ „die Vorlage der Zeugnisse des Opfers, um zu schauen, ob sich der schulische Erfolg tatsächlich verschlechtert hat“,
d./ die Vernehmung der Zeugen ***** K***** und ***** J***** zum Beweis dafür, dass „***** bereits mit neun Jahren pornographisches Material auf ihrem Handy gehabt hat bzw alles zum Beweis der Unschuld des Angeklagten“,
e./ die ergänzende kontradiktorische Vernehmung der ***** K***** „zu den heute stattgefundenen Beweisergebnissen“, „dass sie dem Angeklagten etwas geschrieben hat“ (Anm: Vorlage des Ausdrucks einer WhatsApp‑Nachricht), sowie
f./ die Beischaffung „der Krankenakte der ***** K*****“ zum Beweis dafür, dass diese „an keinen psychischen Folgen leidet, was atypisch ist, weil normalerweise bei solchen Übergriffen psychische Störungen, beispielsweise eine posttraumatische Belastungsstörung oder Depressionen, auftreten und diese beim vermeintlichen Opfer nicht eingetreten sind“.
[5] Der Verfahrensrüge (Z 4) zuwider wurden durch die Abweisung dieser Beweisanträge Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht verletzt, weil sie sich auf keine erheblichen Tatsachen bezogen. Denn die unter Beweis zu stellenden Umstände (örtliche Gegebenheiten im Vorfallszimmer, [Nicht‑]Verschlechterung des schulischen Erfolgs oder des Gesundheitszustands des Opfers, Vorhandensein von „pornographischem Material“ auf dem Mobiltelefon des Opfers, Kontaktaufnahme des Opfers mit dem Angeklagten) waren mit Blick auf die dem Gericht im Antragszeitpunkt bereits vorliegenden Beweisergebnisse nicht geeignet, die zur Feststellung entscheidender – also für Schuldspruch oder Subsumtion relevanter – Tatsachen anzustellende Beweiswürdigung maßgeblich zu beeinflussen (RIS‑Justiz RS0118319, RS0116987 [T3]).
[6] Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer (insbesondere zu den zu a./, b./, c./, d./ und f./ bezeichneten Anträgen) auch nicht darlegte, warum die beantragten Beweisaufnahmen das jeweils behauptete Ergebnis überhaupt erwarten lassen; demnach zielten seine Anträge auf eine unzulässige Erkundungsbeweisführung ab (RIS‑Justiz RS0118444).
[7] Die ausnahmsweise ergänzende Vernehmung einer gemäß § 156 Abs 1 Z 2 StPO von der Aussage befreiten Belastungszeugin ist zwar bei Vorliegen besonders berücksichtigungswürdiger Umstände, die das im Schutz der Zeugin gelegene Beweismittelverbot (vgl Art 8 MRK) gegen das Verteidigungsinteresse an ergänzender Befragung (Art 6 Abs 3 lit d MRK) zurücktreten lassen, nicht ausgeschlossen (RIS‑Justiz RS0128501 [T2]). Derartige Umstände wurden jedoch mit dem Hinweis darauf, dass das Opfer ***** K***** „dem Angeklagten etwas geschrieben“ habe, nicht einmal ansatzweise vorgebracht.
[8] Das die einzelnen Beweisanträge jeweils ergänzende Beschwerdevorbringen hat mit Blick auf das aus dem Wesen des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes resultierende Neuerungsverbot auf sich zu beruhen (RIS‑Justiz RS0099618).
[9] Die – undifferenziert auf Z 5 und Z 5a gestützte – Beschwerde führt aus, dass an der vom Erstgericht der Zeugin ***** K***** attestierten Glaubwürdigkeit „massive Zweifel“ bestünden. So habe sich das Schöffengericht insbesondere nicht mit den „gravierenden Widersprüchen“ in den (vor der Kriminalpolizei und anlässlich der kontradiktorischen Vernehmung erfolgten) Angaben der genannten Zeugin auseinandergesetzt.
[10] Diesem Vorbringen (inhaltlich Z 5 zweiter Fall) ist zu entgegnen, dass die Tatrichter dem Gebot gedrängter Darstellung (§ 270 Abs 2 Z 5 StPO) folgend nicht gehalten waren, den vollständigen Inhalt der – aber ohnehin ausführlich beleuchteten (US 6 f und 8 iVm den gutachterlichen Ausführungen der Sachverständigen Mag. Dr. ***** H***** zur Aussagetüchtigkeit und -fähigkeit [US 8]) – Aussage des Tatopfers ***** K***** oder anderer Aussagen wie überhaupt alle Verfahrensergebnisse im Einzelnen zu erörtern und darauf zu untersuchen, inwieweit sie für oder gegen diese oder jene Darstellung sprechen, oder sich mit jedem gegen ihre Beweiswürdigung möglichen, erst in der Rüge konkret erhobenen Einwand bereits im Voraus auseinanderzusetzen. Dass aus den (logisch und empirisch einwandfrei) ermittelten Prämissen auch andere, für den Angeklagten günstigere Schlussfolgerungen möglich gewesen wären, die Erkenntnisrichter sich aber dennoch mit mängelfreier Begründung für eine diesem nachteilige Variante entschieden haben, ist als Akt freier Beweiswürdigung (§ 258 Abs 2 StPO) mit Mängelrüge (Z 5) nicht bekämpfbar (RIS‑Justiz RS0099455, RS0098717).
[11] Unter dem Blickwinkel einer Tatsachenrüge (Z 5a) unternimmt der Angeklagte insoweit bloß den (unzulässigen) Versuch, die Richtigkeit der den Tatrichtern vorbehaltenen Beweiswürdigung durch eigene Erwägungen zu isoliert herausgegriffenen Details der Aussage des Opfers in Zweifel zu ziehen. Damit verkennt sie das Wesen des geltend gemachten Nichtigkeitsgrundes (RIS‑Justiz RS0118780).
[12] Der weiteren Beschwerdekritik (Z 5 vierter Fall) zuwider wurde die subjektive Tatseite mit Bezugnahme auf die objektiven Tatumstände (zur Zulässigkeit des – bei einem leugnenden Angeklagten methodisch gar nicht zu ersetzenden – Schlusses vom äußeren Tatgeschehen auf ein zu Grunde liegendes Wollen oder Wissen vgl RIS‑Justiz RS0098671) logisch und empirisch einwandfrei begründet (US 10), weshalb auch der Vorwurf der Verwendung einer „reinen Leerformel“ und der Scheinbegründung versagt.
[13] Weiters behauptet der Rechtsmittelwerber (nominell Z 5 und Z 5a), die Feststellung, dass der Angeklagte ***** K***** mit einem Finger penetrierte, „wobei er diesen tief in ihre Vagina einführte“ (US 4), wäre aktenwidrig, weil die Genannte im Rahmen der kontradiktorischen Vernehmung (bloß) ausgesagt hätte, „dass der Angeklagte nur kurz einen Finger in die Scheide hineingesteckt“ habe. Damit wird einerseits keine entscheidende Tatsache angesprochen (vgl RIS‑Justiz RS0095211 [T4], RS0094959, RS0095114), andererseits verkannt, dass aktenwidrig niemals eine Konstatierung, sondern nur die Wiedergabe von Verfahrensergebnissen sein kann (RIS‑Justiz RS0099547 [T6]).
[14] Die prozessordnungsgemäße Geltendmachung eines materiellen Nichtigkeitsgrundes erfordert striktes Festhalten an den Urteilsfeststellungen in ihrer Gesamtheit und die auf dieser Grundlage zu führende Darlegung, dass dem Gericht bei Beurteilung des Urteilssachverhalts ein Rechtsirrtum unterlaufen ist. Demgemäß liegt keine prozessordnungsgemäße Darstellung eines derartigen Nichtigkeitsgrundes vor, wenn eine im Urteil konstatierte Tatsache bestritten, übergangen oder beweiswürdigend ergänzt oder aber ein nicht festgestellter Umstand als gegeben angenommen wird (RIS‑Justiz RS0099810).
[15] Soweit die gegen Punkt II. des Schuldspruchs gerichtete Subsumtionsrüge (Z 10) behauptet, mangels festgestellten Penetrationsvorsatzes wäre der Tatbestand nach § 206 Abs 1 StGB nicht erfüllt, orientiert sie sich jedoch nicht am festgestellten Sachverhalt (US 5 iVm US 4).
[16] In diesem Umfang war die Nichtigkeitsbeschwerde daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).
[17] Die weitere, gegen den Schuldspruch nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB (ⅠⅠⅠ./) gerichtete Subsumtionsrüge (Z 10) ist jedoch im Recht:
[18] Nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB muss der Täter unter Ausnützung seiner ihm zukommenden Autoritätsstellung gegenüber dem Opfer handeln. Vorausgesetzt ist also, dass der Täter seine Autorität gezielt einsetzt, damit die geschützte Person die geschlechtliche Handlung setzt oder an sich geschehen lässt. Entscheidendes Kriterium für ein Ausnützen der Autoritätsstellung ist, dass infolge dieser der Entscheidungsspielraum des Opfers geringer ist als gegenüber Außenstehenden. Aus dem bloßen Bestehen eines Autoritätsverhältnisses darf allerdings nicht auf einen missbräuchlichen Einsatz desselben geschlossen werden; ferner reicht es nicht aus, dass der Täter eine durch seine Autoritätsstellung „gebotene Gelegenheit“ ausnützt (vgl RIS‑Justiz RS0095185, RS0106294 [T3]; Fabrizy, StGB13 § 212 Rz 14; Philipp in WK² StGB § 212 Rz 9 f jeweils mwN).
[19] Die Subsumtionsrüge (Z 10) zeigt zutreffend auf, dass dem Urteil keine Feststellungen zu entnehmen sind, ob und in welcher Weise der Angeklagte seine Autorität (jeweils) gezielt eingesetzt hat, damit das Tatopfer die inkriminierten Missbrauchshandlungen geschehen lasse, und nicht vielmehr bloß das sich ihm (mehrmals) gebotene Gelegenheitsverhältnis ausgenützt hat. In den Entscheidungsgründen findet sich insoweit (US 10 und 13) nur der Passus, dass der Angeklagte ***** K*****, während diese in seinem Bett schlief, beaufsichtigte, und er „die Autorität, die er ihr gegenüber hatte, einsetzte, um die Vornahme der im Urteilsspruch unter Punkt I./ genannten geschlechtlichen Handlungen zu erwirken“; solcherart erschöpft sich die angefochtene Entscheidung jedoch in der substratlosen Wiedergabe der verba legalia.
[20] Demgemäß war die Aufhebung des Schuldspruchs III./ und daraus folgend des Strafausspruchs und des Beschlusses auf Erteilung einer Weisung schon in nichtöffentlicher Beratung geboten (§§ 285e, 498 Abs 3 StPO).
[21] Mit seiner Berufung und seiner impliziten Beschwerde war der Angeklagte auf die Kassation zu verweisen.
[22] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.
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