OGH 10ObS111/17x

OGH10ObS111/17x13.9.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm, die Hofrätin Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Jelinek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ing. J*****, vertreten durch Dr. Gernot Moser, Mag. Philipp Moser und Mag. Dominik Kellerer, Rechtsanwälte in Schwaz, gegen die beklagte Partei V*****, vertreten durch Dr. Peter Schaden und Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 20. Juli 2017, GZ 25 Rs 50/17i‑18, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00111.17X.0913.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

B e g r ü n d u n g :

Der Kläger ist bei der ÖBB Infrastruktur AG im Geschäftsbereich Bahnsysteme als Energietechniker und Energiehändler tätig. An seinem Arbeitsplatz verrichtet er gemeinsam mit einem Kollegen abwechselnd 12‑stündige Tag- und Nachtdienste. Am 30. 3. 2016 hatte er von 18:45 bis 7:30 Uhr Nachtdienst. Konkrete Pausen sind bei diesem Dienst nicht vorgesehen. Die Dienstnehmer machen kurze Pausen, wenn es die Arbeit zulässt. Während des Nachtdienstes bekam der Kläger gegen 3:30 Uhr Hunger. Zu dieser Zeit war es nach der Arbeitsbelastung gerade möglich, eine kurze Pause zu machen. Der Kläger ging in die unmittelbar an seinen Arbeitsplatz angrenzende Betriebsküche, um sich einen Teller und ein Messer zu holen. Daraufhin kehrte er unverzüglich an seinen Arbeitsplatz zurück und nahm dort sein Essen ein, wobei er die Augen stets auf den Bildschirm gerichtet hatte. Nach dem Verzehr seiner Mahlzeit brachte er den Teller und das Messer wieder in die Betriebsküche und räumte sie in den dort befindlichen Geschirrspüler. Als er sich wieder aufrichtete und umdrehte, um an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren, kam er ins Stolpern, stürzte und verletzte sich dabei. Die Ursache des Stolperns steht nicht fest.

Die Vorinstanzen bejahten das Vorliegen eines Arbeitsunfalls.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision der Beklagten zeigt keine erhebliche Rechtsfrage auf.

 

1. § 175 Abs 2 Z 7 ASVG schützt die Versicherten während der Arbeitszeit auf dem Weg von und zur Nahrungsaufnahme sowie bei dieser selbst, soferne diese Tätigkeit in der Nähe der Arbeitsstätte erfolgt oder erfolgen soll. Die Frage, ob diese Bestimmung nicht ohnehin auch Unfälle im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme innerhalb des Betriebsgebäudes erfasst, muss nicht weiter erörtert werden, weil sich die Qualifikation des Unfalls als Arbeitsunfall aus der Generalklausel des § 175 Abs 1 ASVG ergibt.

2. Ein Arbeitsunfall liegt dann vor, wenn sich der Unfall im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründeten Beschäftigung ereignet hatte (RIS‑Justiz RS0084229 [T1]). Die Beurteilung einer sachlichen Verknüpfung zwischen einem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Sie stellt nur dann eine erhebliche Rechtsfrage dar, wenn eine zu korrigierende Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts vorliegt, was hier nicht der Fall ist.

2.1 Die Beklagte bezieht sich auf die zu RIS‑Justiz RS0084679 dokumentierte Rechtsprechung, welche die zur Befriedigung der lebensnotwendigen Bedürfnisse zählende Nahrungsaufnahme im Allgemeinen zumindest überwiegend dem privaten unversicherten Lebensbereich zuordnet. Die Mehrzahl der Entscheidungen betrifft allerdings nicht vergleichbare Fallkonstellationen, weil sich die Unfälle in der eigenen Wohnung oder außerhalb der Arbeitszeit ereigneten bzw die Tätigkeit weder betrieblichen Interessen noch der Verfolgung eines lebensnotwendigen Bedürfnisses diente:

10 ObS 50/01b, SSV‑NF 15/36, betraf das Aufsuchen der eigenen Wohnung zur Versorgung eines kranken Kindes.

Zu 10 ObS 145/00t, SSV‑NF 14/73 war die Frage zu klären, ob der Versicherte auf einer Dienstfahrt den unmittelbar vor dem Unfall gewählten Weg zu einer Tankstelle im dienstlichen oder im privaten Interesse eingeschlagen hatte.

In der Entscheidung 10 ObS 2141/96t, SSV‑NF 10/106, wurde das vormittägliche Trinken aus einer (vermeintlich) mit Wein gefüllten Flasche während der Arbeitszeit grundsätzlich nicht als der Befriedigung eines lebensnotwendigen Bedürfnisses dienend qualifiziert.

Zu 10 ObS 264/95, SSV‑NF 10/2, wurde der Einkauf von Lebensmitteln für die folgenden Tage als nicht § 175 Abs 2 Z 7 ASVG zu unterstellende unaufschiebbare Verrichtung angesehen.

In 10 ObS 73/93, SSV‑NF 7/45, ging es um eine Verletzung infolge einer während der verordneten Ruhezeit (Nachtfahrverbot) und nicht der Arbeitszeit erfolgten Nahrungsaufnahme.

2.2 Die Entscheidung 10 ObS 48/03m, welche die Beklagte für sich reklamiert, betrifft den Unfall eines Bundesheerangehörigen, der während der im Zuge eines Assistenzeinsatzes befohlenen Nachtruhezeit – demnach nach Dienstende – die Toilette aufsuchen musste.

3. Selbst wenn das Unfallgeschehen (Einräumen von Essgeschirr und Besteck im Geschirrspüler der Betriebsküche nach Nahrungsaufnahme am Nachtarbeitsplatz) in dem von der Beklagten gewünschten Sinn als rein eigenwirtschaftliche Tätigkeit anzusehen wäre, führt diese nach ihrer Art und Dauer nur zu einer geringfügigen Unterbrechung der versicherten Tätigkeit, die den Versicherungsschutz im Sinn der Rechtsprechung nicht entfallen lässt, weil noch ein innerer Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit besteht (RIS‑Justiz RS0084686; 10 ObS 98/09y, SSV‑NF 23/48, RIS‑Justiz RS0124749). Zudem wird für Verrichtungen, die sowohl privaten als auch betrieblichen Interessen dienen – sogenannte gemischte Tätigkeiten – Versicherungsschutz bejaht, wenn diese Tätigkeit im Einzelfall dazu bestimmt war, auch betrieblichen Interessen wesentlich zu dienen (10 ObS 59/01a; RIS‑Justiz RS0084271 [T6]; Müller in SV‑Komm [161. Lfg] § 175 Rz 89).

3.1 Es ist keine unvertretbare Fehlbeurteilung, wenn das Berufungsgericht das Freihalten eines Bildschirmarbeitsplatzes von benutztem Essgeschirr und das Einräumen in den Geschirrspüler in der unmittelbar daneben befindlichen Betriebsküche entweder als geringfügige Unterbrechung oder als im nicht gänzlich untergeordneten betrieblichen Interesse erfolgt ansieht und daher das Geschehen unter § 175 Abs 1 ASVG subsumiert hat.

3.2 Im Rechtsmittel wird gegen die Ansicht des Berufungsgerichts noch ins Treffen geführt, ein „Alltagsunfall“, also ein Unfall, der sich in gleicher Weise im privaten Bereich ereignen könnte (wie etwa ein beim normalen Gehen vorkommendes unvermutetes Stolpern, das auf keine spezielle äußere Ursache zurückzuführen ist), sei auch dann kein Arbeitsunfall, wenn er sich auf dem Betriebsgelände ereignet (siehe auch Müller in Mosler/Müller/Pfeil, SV‑Komm [161. Lfg] § 175 ASVG Rz 37), außer es wäre die versicherte Tätigkeit die wesentliche Ursache für den Unfall oder es hätten besondere Eigenschaften des Betriebsgeländes am Unfallgeschehen wesentlich mitgewirkt. Soweit diese Ausführungen der beklagten Partei daraus hinauslaufen, dass es zur Verneinung des Unfallversicherungsschutzes ausreichte, wenn sich ein gleicher Unfall auch im privaten Bereich ereignen hätte können, stehen sie nicht in Einklang mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. So wurde etwa zu 10 ObS 79/07a (SSV‑NF 21/65) der Unfallversicherungsschutz bei einem Sturz auf einer Treppe des eigenen Wohnhauses (infolge Ausrutschen auf einer Stufe) auf dem Rückweg von der Toilette ins überwiegend für Betriebszwecke genutzte Obergeschoss bejaht. Dabei hat der Oberste Gerichtshof im Wesentlichen darauf abgestellt, dass sich der dortige Kläger bereits wieder in einem „wesentlich betrieblichen Zwecken dienenden Teil des Gebäudes“ befunden hatte.

4. Die ungeklärte Ursache des Stolperns geht zu Lasten der Beklagten, die nicht nachweisen konnte, dass kein in der betrieblichen Sphäre liegender Umstand kausal war und der betriebliche Zusammenhang gelöst wurde (RIS‑Justiz RS0083992). Mit ihren Überlegungen zur alleinigen Unfallursache (Ungeschicklichkeit oder Übergewicht) geht die Beklagte nicht vom festgestellten Sachverhalt aus.

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