OGH 9ObA116/15x

OGH9ObA116/15x26.11.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Sabine Duminger und Johann Sommer als weitere Richter und Richterinnen in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei P*****, gegen die beklagte Partei W***** GmbH & Co KG, *****, vertreten durch Fellner Wratzfeld & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Kündigungsanfechtung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 23. Juli 2015, GZ 10 Ra 56/15a‑50, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:009OBA00116.15X.1126.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1.1. Eine Verletzung des Unmittelbarkeits‑ grundsatzes durch das Berufungsgericht liegt vor, wenn dieses von den Feststellungen des Erstgerichts ohne Beweiswiederholung oder aufgrund einer unvollständigen Wiederholung der mit dem Beweisthema zusammenhängenden Beweise, auf die das Erstgericht entscheidende Feststellungen gestützt hat, abgeht oder wenn es ohne Beweiswiederholung Feststellungen aufgrund der in erster Instanz aufgenommenen Beweise ergänzt, nicht jedoch, wenn offenbar bedenkliche Feststellungen nicht übernommen werden (RIS‑Justiz RS0043057 [T1, T4]).

1.2. Dass das Berufungsgericht die offenbar auf einen Schreibfehler beruhende Feststellung über den prozentuellen Einkommensverlust, von dem das Erstgericht selbst in seiner rechtlichen Beurteilung nicht ausgegangen ist, im Hinblick auf das ziffernmäßig festgestellte erzielbare Einkommen vor und nach der Kündigung als unbeachtlich ansah, begründet daher keine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens.

1.3. Zur Dauer der Arbeitsplatzsuche hat das Berufungsgericht darauf verwiesen, dass aufgrund der Höhe der Einkommenseinbuße auch bei Zugrundelegung der von der Beklagten gewünschten Feststellung keine andere Beurteilung vorzunehmen wäre. Insoweit ist es auch irrelevant, wie das Berufungsgericht die Feststellung des Erstgerichts konkret verstanden hat.

2. Die erfolgreiche Anfechtung einer Kündigung nach § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG wegen Sozialwidrigkeit bedarf des Nachweises durch den Arbeitnehmer, dass die Kündigung wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt (RIS‑Justiz RS0051746). In die diesbezügliche Untersuchung, ist nicht nur die Möglichkeit der Erlangung eines neuen, einigermaßen gleichwertigen Arbeitsplatzes, sondern vielmehr die gesamte wirtschaftliche und soziale Lage des Arbeitnehmers und seiner Familienangehörigen einzubeziehen (RIS‑Justiz RS0051806; RS0051741; RS0051703). Der Oberste Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass es keine starren Prozentsätze der durch die Arbeitgeberkündigung bedingten Einkommensminderung des betroffenen Arbeitnehmers gibt, bei denen das Vorliegen von

Sozialwidrigkeit jedenfalls zu bejahen oder jedenfalls zu verneinen wäre (vgl 9 ObA 61/07x ua). Es sind vielmehr alle wirtschaftlichen und sozialen Umstände zueinander in Beziehung zu setzen und nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls zu gewichten (RIS‑Justiz RS0110944 [T3]). Ob diese Voraussetzung nachgewiesen werden kann, stellt damit regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RIS‑Justiz RS0051640 [T5]).

2.1. Wenn die Revision der Beklagten dem Berufungsgericht vorwirft, seine Beurteilung nicht unter Berücksichtigung dieser Gesamtsituation vorgenommen zu haben, übersieht sie, dass das Berufungsgericht die Beurteilung des Erstgerichts anhand der Argumente in der Berufung zu überprüfen hatte, die sich aber abgesehen von der Beweisrüge zur prozentuellen Einkommensminderung und der Dauer der Arbeitsplatzsuche nicht mit den Ausführungen des Erstgerichts zur Sozialwidrigkeit auseinandersetzte.

2.2. Ausgehend vom Einkommen der Klägerin, ihrem Alter, dem drohenden Einkommensverlust und der gesamtfamiliären Situation ist die Annahme der Sozialwidrigkeit durch die Vorinstanzen jedenfalls nicht unvertretbar. Geht man mit der Revision davon aus, dass auf die gesamte wirtschaftliche und soziale Lage des gekündigten Arbeitnehmers abzustellen ist und eine isolierte Betrachtung einzelner Aspekte nicht zielführend ist (9 ObA 174/01f ua), dann kann mit der Erörterung, ob bei der Klägerin die Dauer der Arbeitsplatzsuche ab Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit sieben oder zehn Monaten anzusetzen ist, keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dargetan werden.

3. Steht fest, dass durch die Kündigung wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt sind und andererseits in der Person des Arbeitnehmers gelegene Umstände betriebliche Interessen nachteilig berühren, dann sind diese Voraussetzungen zueinander in eine Wechselbeziehung zu setzen. Es ist eine Abwägung dieser gegenüberstehenden Interessen vorzunehmen (RIS-Justiz RS0051818).

3.1. Dabei entspricht es der ständigen Rechtsprechung, dass als personenbezogene Kündigungsgründe auch Krankenstände herangezogen werden können (RIS-Justiz RS0051801). Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung ist aber nicht nur die Dauer der bisherigen Krankenstände zu berücksichtigen, sondern es ist auch die zukünftige Entwicklung der Verhältnisse nach der Kündigung soweit einzubeziehen, als sie mit der angefochtenen Kündigung noch in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang steht (RIS-Justiz RS0051785).

Entscheidend ist, dass ein verständiger und sorgfältiger Arbeitgeber bei objektiver Betrachtung berechtigt davon ausgehen kann, dass Krankenstände in erhöhtem Ausmaß mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft zu erwarten sind (vgl RIS-Justiz RS0051888). Bei der Beurteilung ist zu berücksichtigen, dass in der Vergangenheit aufgetretene Krankenstände, die für die künftige Einsatzfähigkeit des Arbeitnehmers nicht unbedingt aussagekräftig sind, weil die zugrunde liegende Krankheit überwunden wurde, nicht als persönlicher Kündigungsrechtfertigungsgrund herangezogen werden können (8 ObA 53/11v).

3.2. Eine starre Grenze für überhöhte Krankenstände in Bezug auf deren Häufigkeit und Dauer besteht nicht (8 ObA 103/06i). Vielmehr ist das Vorliegen dieses Rechtfertigungsgrundes nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (8 ObA 48/08d). Dabei sind an den Rechtfertigungsgrund strenge Anforderungen zu stellen ( Wolligger in Neumayr/Reissner , ZellKomm² § 105 ArbVG Rz 196).

3.3. Das Berufungsgericht ist unter Berücksichtigung dieser Grundsätze davon ausgegangen, dass die Krankenstände der Klägerin vor 2012 ein zwar hohes, aber noch tolerables Ausmaß hatten, wobei auch berücksichtigt wurde, dass die Krankenstände 2010 und 2011 auf psychische Probleme nach einem Arbeitsunfall zurückzuführen waren, die letztlich auch zu einer Änderung des Einsatzbereichs der Klägerin führten. Erst 2012/2013 kam es zu einem wesentlichen Ansteigen der Krankenstandstage, insbesondere da aufgrund eines weiteren Arbeitsunfalls zwei Operationen erforderlich waren, wodurch die Arbeitsfähigkeit aber wieder zur Gänze hergestellt werden konnte. Wenn das Berufungsgericht davon ausgehend die Interessen der Klägerin an der Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses gegenüber den betrieblichen Interessen der Beklagten als überwiegend ansah, liegt darin keine zu korrigierende Fehlbeurteilung.

4. Die außerordentliche Revision ist mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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