OGH 12Os183/11w

OGH12Os183/11w26.6.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 26. Juni 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger, Mag. Michel und Dr. Michel-Kwapinski als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Temper als Schriftführerin in der Strafsache gegen Manuel F***** wegen Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und einer anderen strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Jugendschöffengericht vom 19. Mai 2011, GZ 14 Hv 29/10p-68, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Graz zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Manuel F***** dreier Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB idF BGBl I 1998/153 (richtig: idgF; I./) und des Verbrechens der Verleumdung nach § 297 Abs 1 zweiter Fall StGB (II./) schuldig erkannt.

Danach hat er

I./ zu nicht näher bekannten Zeitpunkten im Zeitraum zwischen 1999 und 2000 in R***** vorsätzlich an seiner am 3. März 1988 geborenen und somit im Tatzeitraum unmündigen Cousine Angelika S***** in wiederholten Angriffen den Beischlaf oder dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, indem er

1./ ihr die Hose hinunterzog, ihr Becken anhob und hinter ihr kniend versuchte, sie genital zu penetrieren, wobei er die für einen Geschlechtsverkehr üblichen Bewegungen durchführte und mit seinem erigierten Penis gegen ihre Scheide stieß;

2./ an ihrer nackten Scheide leckte;

3./ ihr mit einem Schal die Augen verband, seinen Penis in ihren Mund steckte, sie aufforderte, an diesem zu lutschen, und Vor- und Rückwärtsbewegungen durchführte, bis er zum Samenerguss kam;

II./ im Oktober 2009 die Gruppeninspektorin des LPK Steiermark Ute E***** im Zuge des wegen Punkt I./ geführten Ermittlungsverfahrens vorsätzlich durch die Behauptung, sie habe ihn im Zuge seiner Beschuldigtenvernehmung am 17. Juli 2009 vor dem LPK Steiermark nicht über seine Rechte belehrt, ihn durch Äußerungen massiv unter Druck gesetzt und seine Angaben falsch protokolliert, einer von Amts wegen zu verfolgenden mit Strafe bedrohten Handlung, nämlich des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach § 302 Abs 1 StGB falsch verdächtigt und dadurch der Gefahr einer behördlichen Verfolgung ausgesetzt, wobei er wusste, dass die Verdächtigung falsch war.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen vom Angeklagten aus Z 5 des § 281 Abs 1 StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde verfehlt ihr Ziel.

Unvollständig (Z 5 zweiter Fall StPO) ist ein Urteil dann, wenn das Gericht bei der für die Feststellung entscheidender Tatsachen angestellten Beweiswürdigung erhebliche, in der Hauptverhandlung vorgekommene (§ 258 Abs 1 StPO) Verfahrensergebnisse unberücksichtigt ließ (RIS-Justiz RS0118316; RS0099578). Im Hinblick auf das Gebot der gedrängten Darstellung der Entscheidungsgründe (§ 270 Abs 2 Z 5 StPO) ist ein unter dem Aspekt der Z 5 relevanter Begründungsmangel jedoch nicht schon dann gegeben, wenn das Gericht nicht den vollständigen Inhalt sämtlicher Aussagen und Verfahrensergebnisse erörtert und darauf untersucht, wieweit sie für oder gegen diese oder jene Darstellung sprechen (RIS-Justiz RS0098377).

Der Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) zuwider hat sich das Schöffengericht zum Schuldspruch I./ hinreichend mit dem Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen Dr. Eva K***** und dem daraus folgenden Spannungsverhältnis zur Expertise der psychologischen Sachverständigen Dr. Heidrun Ei***** auseinandergesetzt, insbesondere das psychiatrische Wahrscheinlichkeitskalkül zum realen Hintergrund der Depositionen der Zeugin Angelika S***** verwertet (US 6) und auf Grundlage der Schilderungen dieser als glaubwürdig erachteten Zeugin in Zusammenschau mit dem (in der Hauptverhandlung erörterten und in Kenntnis sowie unter Berücksichtigung der Einschätzung der psychiatrischen Sachverständigen Dr. K***** und der beim Opfer diagnostizierten psychischen Erkrankung erstatteten) psychologischen Gutachten Dris. Ei***** (ON 29, 35, 47 S 26 ff und ON 67 S 3 ff) sowie den (sexuelle Übergriffe in den Jahren 1995 oder 1996 zugestehenden) Depositionen des Angeklagten vor der Polizei (ON 4 S 14 ff) die Konstatierungen zum Schuldspruch I./ mängelfrei begründet (US 5 ff). Im Übrigen steht das psychiatrische Gutachten der vom Erstgericht vorgenommenen Würdigung, wonach die Zeugin Angelika S***** glaubwürdig sei und die Tathandlungen - wie von ihr geschildert - stattgefunden hätten, insofern nicht zwingend entgegen, als darin ausgeführt wird, dass die im psychologischen Gutachten gezogenen Schlussfolgerungen „eine Variante“ darstellen (ON 64 S 5) und aus der bei Angelika S***** diagnostizierten Persönlichkeitsstörung nicht geschlossen werden könne, dass die Geschehnisse jedenfalls nicht stattgefunden haben (ON 64 S 3).

Mit Behauptungen der Art, das Gericht habe bestimmte Aspekte ohnehin verwerteter Beweismittel (hier: des Gutachtens der psychiatrischen Sachverständigen Dr. K*****) nicht oder nicht den Intentionen des Beschwerdeführers entsprechend berücksichtigt, wird weder eine Unvollständigkeit noch eine offenbare Unzulänglichkeit der Entscheidungsgründe geltend gemacht, sondern nur nach Art einer Schuldberufung unzulässigerweise die schöffengerichtliche Beweiswürdigung bekämpft (RIS-Justiz RS0099599).

Soweit der Nichtigkeitswerber betreffend das Gutachten der Sachverständigen Dr. Ei***** moniert, dass an der „Verlässlichkeit der Gutachtensgrundlagen durch das Gutachten von Dr. K***** massive Zweifel“ bestünden, unterlässt er es, darzulegen, weshalb er an einer Antragstellung in Richtung eines Vorgehens nach § 127 Abs 3 StPO gehindert war (vgl Hinterhofer, WK-StPO § 127 Rz 16).

Zu Punkt II./ des Schuldspruchs spricht die Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) mit dem Hinweis auf die Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen Dr. K*****, es sei „durchaus nachvollziehbar, dass der Angeklagte nach der mehrstündigen Einvernahme am 17. 7. 2009 und der für ihn unerwarteten Konfrontation mit den Anklagepunkten lediglich seine Unterschrift unter das Protokoll setzte, ohne es in Ruhe nochmals durchzulesen, um festzustellen, ob der Inhalt des Protokolls auch tatsächlich seinen Angaben bzw seinen Überlegungen, warum sich seine Cousine zu einer Anzeige entschlossen hatte, entspricht“, keine entscheidende Tatsache an (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 399) und übergeht überdies das Ergebnis der Expertise, wonach sich keine Anhaltspunkte dafür fänden, dass der Angeklagte im Zeitpunkt der gegenständlichen Vernehmung vor der Polizei Einschränkungen der Diskretions- und Dispositionsfähigkeit aufwies (ON 54 S 15).

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Kompetenz des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen folgt (§ 285i StPO).

Bleibt anzumerken, dass die Konstatierungen zu Punkt I./2./ des Schuldspruchs die Annahme eines schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB in Form einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung schon in objektiver Hinsicht nicht tragen. Darunter ist grundsätzlich jede in der Summe der Auswirkungen und Begleiterscheinungen einem Geschlechtsverkehr vergleichbare geschlechtliche Handlung, demnach jede Form der oralen, vaginalen oder analen Penetration zu verstehen. Das vom Schöffengericht festgestellte Lecken an der nackten Scheide (US 3), lässt das für eine Gleichstellung mit einem Geschlechtsverkehr wesentliche Element einer Penetration nicht erkennen (vgl Philipp in WK² § 206 Rz 12; RIS-Justiz RS0095201; RS0094905; RS0095025). Das Ansetzen der Zunge entspricht nur dann einem tatbestandsmäßigen Unternehmen einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung, wenn das Berühren des äußeren Geschlechtsteils mit dem geforderten Penetrationsvorsatz verbunden ist. Dafür bieten die getroffenen Feststellungen allerdings keinen Anhaltspunkt (RIS-Justiz RS0095114; 12 Os 4/10w). Die demnach verfehlte Subsumtion unter § 206 Abs 1 StGB anstelle unter § 207 Abs 1 StGB bietet jedoch angesichts der mit Blick auf § 5 Z 4 JGG (Schuldspruch I./) richtig nach § 297 Abs 1 zweiter Strafsatz StGB vorgenommenen Strafzumessung mangels eines darüber hinausgehenden konkreten Nachteils für den Angeklagten keinen Anlass zu einem amtswegigen Vorgehen nach § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO. Bei der Entscheidung über die Berufungen besteht für das Oberlandesgericht insoweit keine (dem Berufungswerber nachteilige) Bindung an den Ausspruch des Erstgerichts über das anzuwendende Strafgesetz nach § 295 Abs 1 erster Satz StPO (RIS-Justiz RS0118870; Ratz, WK-StPO § 290 Rz 27a).

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 390a Abs 1 StPO.

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