OGH 10Ob36/08d

OGH10Ob36/08d4.11.2008

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Bianca Luca N*****, geboren am *****, vertreten durch die Mutter Agnes N*****, Ungarn, diese vertreten durch Dr. Geza Simonfay, Rechtsanwalt in Wien, infolge Revisionsrekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 10. Oktober 2007, GZ 23 R 243/07v-65, womit infolge der Rekurse der Minderjährigen und des Bundes der Beschluss des Bezirksgerichts Scheibbs vom 9. Mai 2007, GZ 4 P 103/04b-52, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Die Minderjährige ist wie ihre Mutter ungarische Staatsangehörige. Sie leben und lebten stets im gemeinsamen Haushalt in Ungarn.

Der außereheliche Vater ist österreichischer Staatsbürger mit Wohnsitz in Österreich und nach der Aktenlage immer in Österreich aufhältig gewesen. Er ist aufgrund des Versäumungsurteils vom 8. 10. 2001 zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 4.000 S (das sind 290,70 EUR) verpflichtet. Er war vom 10. 10. 2005 bis 17. 7. 2006 als Angestellter beschäftigt, bezog vom 18. 7. bis 27. 7. 2006 Urlaubsabfindung und Urlaubsentschädigung, vom 1. 8. bis 31. 8. 2006 Arbeitslosenunterstützung und ist seit 16. 10. 2006 als geringfügig beschäftigter Angestellter tätig. Die Voraussetzungen für einen Arbeitslosengeldbezug hätte er bis 30. 4. 2007 erfüllt.

Am 15. 10. 2004 beantragte die Minderjährige durch ihre anwaltlich vertretene Mutter Unterhaltsvorschuss nach §§ 3 und 4 Z 1 UVG in Höhe von 260,70 EUR monatlich. Die gegen den unterhaltspflichtigen Vater geführte Fahrnis- und Gehaltsexekution sei ergebnislos verlaufen.

Das Erstgericht gewährte im zweiten Rechtsgang Unterhaltsvorschuss in der beantragten Höhe für den Zeitraum vom 1. 11. 2005 bis 31. 10. 2007 und wies den Antrag für den Zeitraum vom 1. 11. 2004 bis 31. 10. 2005 ab. Dass die Unterhaltsverpflichtung des Vaters in der beantragten Höhe bestehe, sei nicht zweifelhaft.

Das Rekursgericht gab den Rekursen der Minderjährigen und des Bundes nicht statt und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs in Ansehung der Bestätigung der Gewährung des Unterhaltsvorschusses zulässig sei. Der Auffassung des vom Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien vertretenen Rekurswerbers, im Anlassfall sei nie ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorgelegen, der die Anwendung der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 ermöglichte, hielt es entgegen, dass die Antragstellerin EU-Bürgerin und der unterhaltspflichtige Vater im Gewährungszeitraum österreichischer Arbeitnehmer in Österreich gewesen sei. Einem „zusätzlichen grenzüberschreitenden Sachverhalt" komme „insofern keine Bedeutung" zu. Im ersten Rechtsgang des Anlassfalls habe auch der Oberste Gerichtshof einen zusätzlichen grenzüberschreitenden Bezug nicht gefordert. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil der Oberste Gerichtshof zur Frage, „ob ein zusätzlicher grenzüberschreitender Bezug auch in jenem Fall vorliegen muss, als der Vorschusswerber EU-Bürger ist", noch nicht Stellung genommen habe.

Der von der Minderjährigen beantwortete Revisionsrekurs des vom Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien vertretenen Bundes gegen die Bestätigung der Gewährungsentscheidung ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Der Revisionsrekurswerber macht im Wesentlichen geltend, nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (RIS-Justiz RS0115509) werde der für die Anwendbarkeit der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 notwendige grenzüberschreitende Bezug dadurch hergestellt, dass der Unterhaltsverpflichtete oder derjenige, bei dem sich das Kind aufhalte, von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbstständiger Gebrauch mache oder Grenzgänger sei. Im Anlassfall liege der Sachverhalt anders, hätten sich doch die Minderjährige und ihre Mutter ständig in Ungarn aufgehalten. In Ungarn bestehe für den Elternteil, mit dem das Kind im gemeinsamen Haushalt lebe, noch die Möglichkeit, nach den Generellen Regelungen für Kinderbetreuungsunterstützung (GYES und GYET) diese Leistung zu beantragen, deren Höhe dem jeweiligen Mindestbetrag für Altersrenten entspreche (im Jahr 2000: monatlich 16.600 HUF). Bei Bestehen eines Anspruchs auf Unterhaltsvorschuss nach österreichischem Recht wäre „dies vergleichsweise mitüberprüfenswert".

Der Vertreter des Kindes beantragt in seiner Revisionsrekursbeantwortung, dem Rechtsmittel nicht Folge zu geben. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt liege allein schon deshalb vor, weil Kind und Mutter in Ungarn wohnten, der unterhaltspflichtige Vater aber in Österreich. Bei der vom Revisionsrekurswerber unter Missachtung des Neuerungsverbots genannten Kinderbetreuungsunterstützung handle es sich um eine der Familienbeihilfe bzw dem österreichischem Kinderbetreuungsgeld ähnliche Leistung, nicht aber um einen Unterhaltsvorschuss. Nach ungarischem Recht habe die Antragstellerin keinen Anspruch darauf, dass ungarische Behörden oder Sozialeinrichtungen „anstelle des österreichischen Unterhaltsschuldners Unterhalt leisten bzw diesen vorschießen".

Rechtliche Beurteilung

Hiezu hat der erkennende Senat, der nach der Geschäftsverteilung des Obersten Gerichtshofs seit 1. 1. 2008 als Fachsenat für Rechtssachen nach dem UVG (ausschließlich) zuständig ist, erwogen:

1. Nach § 2 Abs 1 UVG haben minderjährige Kinder mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich Anspruch auf Unterhaltsvorschuss, wenn sie entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind.

2. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) ist eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen UVG eine Familienleistung im Sinn des Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Urteil vom 15. 3. 2001, Rs C-85/99 , Offermanns, Slg 2001, I-2261; Urteil vom 5. 2. 2002, Rs C-255/99 , Humer, Slg 2002, I-1205; Urteil vom 20. 1. 2005, Rs C-302/02 , Effing, Slg 2005, I-00553).

2. In den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fallen „Arbeitnehmer ..., für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind ..., sowie für deren Familienangehörige ..." (Art 2 Abs 1 der Verordnung Nr 1408/71).

Nach Art 3 Abs 1 der Verordnung Nr 1408/71 haben die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staats, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.

2.1. Nach der Rechtsprechung des EuGH beweist der Wortlaut des Art 2 Abs 1 der Verordnung Nr 1408/71 (Einbeziehung von Personen, „für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten"), dass die Verordnung keineswegs nur für Wanderarbeitnehmer im strengen Sinn des Wortes gilt, sondern für alle Arbeitnehmer, die sich in einem der in der Verordnung geregelten Rechtsverhältnisse mit internationaler Anknüpfung befinden (vgl Urteil vom 11. 10. 2001, Rs C-95-98/99 und C-180/99 , Khalil ua, Slg 2001, I-07413 Rz 68 mwN).

2.3. Die Bestimmungen des EG-Vertrags über die Freizügigkeit und die zur Durchführung dieser Bestimmungen erlassenen Maßnahmen sind aber - wie der EuGH ausgesprochen hat - nicht auf Tätigkeiten anwendbar, die keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Gemeinschaftsrecht abstellt, und die mit keinem relevanten Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (Urteil vom 11. 10. 2001, Rs C-95-98/99 und C-180/99 , Khalil ua, Slg 2001, I-07413 Rz 69 mwN). Mit Bezug auf die soziale Sicherheit hat der EuGH entschieden, dass Art 51 EWG-Vertrag (jetzt Art 42 EG) und die Verordnung Nr 1408/71, insbesondere ihr Art 3 (Gleichbehandlung), nicht für Sachverhalte gelten, die mit keinem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (Urteil vom 11. 10. 2001, Rs C-95-98/99 und C-180/99 , Khalil ua, Slg 2001, I-07413 Rz 70 mwN).

2.4. In diesem Sinn fordert auch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs als Voraussetzung der Anwendung der Verordnung Nr 1408/71 das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts. Dieser gemeinschaftliche, grenzüberschreitende Bezug setzt voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände können in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen gesehen werden (10 Ob 60/03a; RIS-Justiz RS0117828 [T2]; RS0119548 [T1]; vgl Eichenhofer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 2 VO 1408/71 Rz 6 und 14 mwN).

3. Art 1 lit a Z 1 der Verordnung Nr 1408/71 versteht unter Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung jede Person, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbstständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Dieser Begriff des Arbeitnehmers setzt nicht eine umfassende Vollversicherung voraus, vielmehr genügt schon die Pflichtversicherung gegen ein Risiko - so etwa die verpflichtende Unfallversicherung für geringfügig Beschäftigte zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77). Als Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung gilt auch eine Person, die die Voraussetzungen für den Bezug aus der Arbeitslosenversicherung erfüllt (4 Ob 124/05x).

Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung ist der geldunterhaltspflichtige Vater nach den von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen im relevanten Zeitraum als Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung Nr 1408/71 anzusehen. Dies ist auch nicht strittig.

4. Art 73 der Verordnung Nr 1408/71 - Arbeitnehmer und Selbstständige, deren Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat wohnen - lautet:

„Ein Arbeitnehmer oder ein Selbstständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, hat, vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang VI, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Vorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staats wohnten."

5. Art 74 der Verordnung Nr 1408/71 - Arbeitslose, deren Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat wohnen - bestimmt:

„Ein arbeitsloser Arbeitnehmer oder ein arbeitsloser Selbstständiger, der Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats bezieht, hat, vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang VI, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten."

6. Im Urteil Rs C-255/99 , Slg 2002, I-1205 - Humer, hat der EuGH ausgesprochen, dass

a) eine Person, die zumindest einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer ist, als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers im Sinn des Art 2 Abs 1 iVm Art 1 lit f Z 1 der Verordnung Nr 1408/71 in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fällt;

b) die Art 73 und 74 der Verordnung Nr 1408/71 so auszulegen sind, dass ein minderjähriges Kind, das zusammen mit dem sorgeberechtigten Elternteil in einem anderen als dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat wohnt und dessen anderer, zu Unterhaltszahlungen verpflichteter Elternteil in dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer ist, Anspruch auf eine Familienleistung wie den Unterhaltsvorschuss nach dem UVG hat.

7. Der EuGH hat in den Randzahlen 48 und 49 dieser Entscheidung unter Hinweis auf Vorjudikatur auch ausgeführt, dass sich aus dem Titel der Verordnung Nr 1408/71 und aus deren Art 2 ergibt, dass die Vorschriften der Verordnung grundsätzlich anwendbar sind, wenn ein Familienangehöriger eines Arbeitnehmers in einem anderen Mitgliedstaat wohnt als dieser, und dass dies erst recht gilt, wenn der Wegzug des Kindes des Arbeitnehmers, das zu dessen Familienangehörigen zählt, darauf zurückzuführen ist, dass der frühere Ehegatte des Arbeitnehmers von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat.

8. Im Sinn des Urteils Humer bejahte der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 1 Ob 289/01h einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschuss, wenn zwar das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Österreich hat, der Unterhaltspflichtige aber in Österreich berufstätig oder arbeitslos ist und Arbeitslosengeld bezieht, auch wenn der andere Elternteil weder berufstätig noch arbeitslos ist („Exportverpflichtung"). In diesem Fall hatte die obsorgeberechtigte Mutter gemeinsam mit dem Kind ihren gewöhnlichen Aufenthalt nach Griechenland verlegt.

Die Entscheidung 2 Ob 83/05b spricht aus, dass seit dem Urteil Humer § 2 Abs 1 Satz 1 UVG so zu lesen ist, dass Ansprüche auf Unterhaltsvorschuss minderjährige Kinder haben, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem EWR-Staat haben und entweder EWR-Bürger oder staatenlos sind, wenn der Unterhaltspflichtige in Österreich arbeitstätig oder arbeitsloser Arbeitnehmer ist. In diesem Fall hielten sich das Kind und die obsorgeberechtigte Mutter - beide deutsche Staatsbürger - in der Bundesrepublik Deutschland auf. Dass sich diese vorher in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten haben, verlangt diese Entscheidung zur Herstellung des notwendigen grenzüberschreitenden Bezugs nicht.

8.1. Die Entscheidung 8 Ob 100/06y spricht aus, dass der für die „Exportverpflichtung" erforderliche grenzüberschreitende Bezug nicht nur dadurch zustandekommen kann, dass der im Inland aufhältige Unterhaltsschuldner von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbstständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist, sondern auch dadurch, dass dies den Elternteil betrifft, bei dem sich das Kind aufhält. Diesen Rechtssatz wiederholt die Entscheidung 6 Ob 214/06y und leitet daraus ab, dass der notwendige grenzüberschreitende Sachverhalt nicht schon allein dadurch verwirklicht wird, dass sich der Wohnsitz des Unterhaltsberechtigten im Ausland befindet und die Unterhaltsleistung deshalb im Ausland erbracht wird (ebenso 9 Ob 129/06w).

8.2. Die der unter Punkt 8.1 referierten Rechtsprechung widersprechenden Auffassung, dass der für die „Exportverpflichtung" notwendige grenzüberschreitende Bezug im EWR (+ Schweiz, s 1 Ob 183/04z; BGBl III 2002/133) nicht dadurch verwirklicht wird, dass das unterhaltsberechtigte Kind in einem EWR-Mitgliedstaat (in der Schweiz) wohnt, teilt der erkennende Senat nicht, weil sie mit dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Humer nicht verträglich ist. Im Anlassfall weisen Aufenthalt und Staatsbürgerschaft der Antragstellerin und der im gemeinsamen Haushalt lebenden Mutter ins EU-Ausland. Dies reicht für die Bejahung des für die Anwendung der Verordnung Nr 1408/71 auch notwendigen gemeinschaftlichen grenzüberschreitende Bezug aus (wovon der Oberste Gerichtshof im ersten Rechtsgang in der Entscheidung 4 Ob 124/05x im ersten Rechtsgang unausgesprochen ausgegangen ist). Der im Inland lebende Vater der Antragstellerin ist - wie schon ausgeführt - im hier relevanten Zeitraum Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung Nr 1408/71.

Nach alldem liegt der Anlassfall im Anwendungsbereich der Verordnung Nr 1408/71. In den vom Anwendungsbereich der Verordnung erfassten Fällen ist - entgegen § 2 Abs 1 UVG - die österreichische Staatsbürgerschaft des antragstellenden minderjährigen Kindes nicht Anspruchsvoraussetzung (vgl 1 Ob 86/01f = SZ 74/61; 10 Ob 76/08m).

Die Vorinstanzen haben den Anspruch der Antragstellerin auf Unterhaltsvorschuss zutreffend bejaht.

9. Die Verordnung Nr 1408/71 wird durch die Durchführungsverordnung (EWG) Nr 574/72 ergänzt. Die Antikumulierungsregel des Art 10 Abs 1 lit a dieser Verordnung erfasst den Fall der Ausübung einer Erwerbstätigkeit nur durch einen Elternteil (10 ObS 109/07p; EuGH 7. 6. 2005, Rs C-543/03 , Dodl und Oberhollenzer, Slg 2005, I-5049 Rz 55). Diese Bestimmung sieht unter anderem vor, dass, wenn die Familienleistungen im Wohnmitgliedstaat des Kindes unabhängig von Versicherungs- oder Beschäftigungsvoraussetzungen geschuldet werden, diese Ansprüche dann ruhen, wenn „während desselben Zeitraums für dasselbe Familienmitglied Leistungen allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats oder nach Artikel 73, 74, 77 oder 78 der Verordnung geschuldet werden, bis zur Höhe dieser geschuldeten Leistungen". Die Aktenlage gibt keinen Hinweis auf eine Berufstätigkeit oder Versicherung der Mutter der Antragstellerin in Ungarn. Hätte sie Anspruch auf eine dem österreichischen Unterhaltsvorschuss vergleichbare (gleichartige, s 10 ObS 109/07p mwN aus der Rsp des EuGH) ungarische Leistung, so hätte dies gemäß Art 10 Abs 1 lit a der Durchführungsverordnung Nr 574/72 keinen Einfluss auf die Höhe des der Antragstellerin nach Art 73, 74 der Verordnung Nr 1408/71 geschuldeten Unterhaltsvorschusses. Das erstmals im Revisionsrekurs erstattete Vorbringen zur ungarischen Kinderbetreuungsunterstützung ist demnach ohne Relevanz.

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