OGH 1Ob289/01h

OGH1Ob289/01h22.3.2002

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden sowie den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Jeanette Elise S*****, geboren am 10. August 1998, infolge Revisionsrekurses der Minderjährigen, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien als Unterhaltssachwalter, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 22. August 2001, GZ 43 R 411/01m-59, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Donaustadt vom 18. Juni 2001, GZ 1 P 48/01w-51, abgeändert wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Erstgericht zurückverwiesen und diesem die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Die Minderjährige, ihre in Athen geborene Mutter und ihr unehelicher Vater sind österreichische Staatsbürger. Die allein obsorgeberechtigte Mutter verlegte gemeinsam mit dem Kind ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Dezember 1999 nach Griechenland; dort hat das Kind seither seinen ständigen Wohnsitz. Der Vater hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich.

Mit rechtskräftigem Beschluss vom 27. Dezember 2000 stellte das Erstgericht den der Minderjährigen mit Beschluss vom 15. November 1999 gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG für die Zeit vom 1. Oktober 1999 bis 30. September 2002 gewährten Vorschuss auf den gesetzlichen Unterhalt von monatlich 1.990 S mit Wirksamkeit vom 1. Februar 2000 ein, weil sich das Kind mit seinem gesetzlichen Vertreter seit Jänner 2000 endgültig im Ausland aufhalte.

Mit dem am 31. Mai 2001 beim Erstgericht eingelangten Antrag begehrte das durch den Jugendwohlfahrtsträger (§ 212 Abs 2 ABGB) vertretene Kind unter Berufung auf §§ 3, 4 Z 1 UVG Titelvorschüsse von monatlich 1.990 S, wozu es vorbrachte, die Führung einer weiteren Exekution gegen den Vater scheine aussichtslos, weil dieser ständig die Dienstgeber wechsle, wobei auch auf "das Urteil des EuGH vom 8. Februar 2001, C-255/99 - Anna Humer" (tatsächlich stammen die Schlussanträge des Generalanwalts Alber von diesem Tag) hingewiesen wurde.

Das Erstgericht gewährte mit der gemäß § 11 Abs 2 UVG vom Antrag übernommenen Begründung dem Kind die beantragten Unterhaltsvorschüsse in der Titelhöhe von monatlich 1.990 S für die Zeit vom 1. Mai 2001 bis 30. April 2004.

Das Rekursgericht änderte über Rekurs des Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien diesen Beschluss im antragsabweisenden Sinn ab. Da das Kind seit Dezember 1999 seinen ständigen Wohnsitz in Griechenland habe - ein gegenteiliges Vorbringen sei auch dem Vorschussantrag nicht zu entnehmen -, fehle demnach die Anspruchsvoraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes im Inland (§ 2 Abs 1 UVG). Entgegen der im Vorschussantrag vertretenen Auffassung liege noch kein Urteil des EuGH im Fall Humer vor, sondern seien nur die Schlussanträge des Generalanwalts erstattet worden. Nach dem Inhalt des Urteils des EuGH vom 15. März 2001, C-85/99 , sei § 2 Abs 1 UVG ab der Verkündung dieses Urteils so zu lesen, als ob anstelle des Begriffs "österr. Staatsbürger" der Begriff "EWR-Bürger" stehen würde, dass somit alle in Österreich wohnenden EWR-Bürger unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf Unterhaltsvorschuss haben (siehe Erlass des BMJ vom 20. Juni 2001, JMZ 4 549/358-I 1/2001). Aus diesem Urteil gehe aber nicht hervor, dass die weitere Voraussetzung des § 2 Abs 1 UVG, nämlich jene des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes im Inland, dem EU-Recht widersprechen würde, sondern nur, dass die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnenden Unionsbürger unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf Unterhaltsvorschuss als eine im Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehene Leistung haben. Der Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 23. Juni 1999, 7 Ob 348/98x, mit dem das Vorabentscheidungsverfahren im Fall Anna Humer (C-255/99 des EuGH) eingeleitet worden sei, begründe keine Unterbrechungs- oder Aussetzungspflicht eines anderen Gerichts, das wie hier dieselbe Rechtsfrage wie das Anfragegericht zu beurteilen habe. Im Übrigen hindere das genannte Vorabentscheidungsverfahren nur die Sachentscheidung des anfragenden Gerichts (§ 90a GOG).

Die zweite Instanz erachtete den ordentlichen Revisionsrekurs unter Bedachtnahme auf das vom Obersten Gerichtshof eingeleitete Vorabentscheidungsverfahren als zulässig, zumal das Höchstgericht in seiner Entscheidung 6 Ob 318/99d in der aus § 2 Abs 1 UVG zu entnehmenden Anspruchsvoraussetzung des inländischen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes keine vom EuGH zu beantwortende entscheidungserhebliche Rechtsfrage erblickt habe.

Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

a) Entgegen der erkennbaren Auffassung der zweiten Instanz besteht keine Judikaturdifferenz zu § 2 Abs 1 UVG: Zu 7 Ob 348/99x (JBl 2000, 49 = EFSlg 90.525) legte der Oberste Gerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:

I. a) Sind Unterhaltsvorschüsse an minderjährige Kinder von Erwerbstätigen oder Arbeitslosen, die Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den österreichischen Rechtsvorschriften beziehen, nach dem UVG 1985 idgF Familienleistungen nach Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie der Familienangehörigen, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, idgF (im Folgenden nur Wanderarbeitnehmerverordnung) und gilt daher in einem solchen Fall auch Art 3 der Verordnung über die Gleichbehandlung?

b) Begründen Art 73 und 74 der Wanderarbeitnehmerverordnung ein Recht des mit seiner Mutter in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden ehelichen Kindes eines in Österreich wohnhaften und in Österreich beschäftigten oder arbeitslosen Vaters, der Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach österreichischen Vorschriften bezieht, auf Gewährung eines Unterhaltsvorschusses nach dem UVG?

II. Im Fall der Verneinung einer der zu I. formulierten Fragen:

a) Sind Unterhaltsvorschüsse nach dem UVG soziale Vergünstigungen iSd Art 7 Abs 2 der Verordnung (EWG) Nr 1612/68 des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft vom 15. Oktober 1968 (im Folgenden nur Freizügigkeitsverordnung)?

b) Stellt die Voraussetzung des inländischen Aufenthalts des Kindes für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen eine verbotene einschränkende Bestimmung gemäß Art 3 Abs 1 zweiter Fall der Freizügigkeitsverordnung im Lichte des in Art 48 EGV für Arbeitnehmer verankerten Freizügigkeitsgebots dar?

c) Begründen die Bestimmungen der Freizügigkeitsverordnung ein Recht auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen in der Person des Kindes von Arbeitnehmern?

Dagegen stellte sich zu 6 Ob 318/99d (ÖA 2000, 144 = ZfRV 2000, 148) die Frage einer Vorabentscheidung durch den EuGH schon deshalb nicht, weil der Aufenthalt des Kindes bei einer amerikanischen Gastfamilie zu Zwecken des Schulbesuchs während eines ganz bestimmten Schuljahrs in den USA ohnehin als weiterer gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes in Österreich beurteilt wurde und daher einer Bevorschussung unter dem Gesichtspunkt des § 2 Abs 1 UVG kein Hindernis entgegenstand.

b) § 2 Abs 1 UVG lautet: "Anspruch auf Vorschüsse haben minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind. Hat derjenige, mit dem das Kind im gemeinsamen Haushalt lebt, in Erfüllung seiner Dienstpflicht gegenüber einer inländischen öffentlich-rechtlichen Körperschaft seinen Aufenthalt im Ausland, so ist für die Vollziehung dieses Bundesgesetzes anzunehmen, daß das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sprengel seines Vormundschafts- oder Pflegschaftsgerichts hat." Nach den Materialien (Bericht des Justizausschusses, 199 BlgNR 14.GP, 5) hielt der Justizausschuss an der sowohl in der Regierungsvorlage als auch grundsätzlich im Initiativantrag umschriebenen Anspruchsvoraussetzung des "gewöhnlichen Aufenthalts im Inland" fest. Eine nähere Begründung findet sich darin nicht.

Dass eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österr. UVG eine Familienleistung iSd Art 4 Abs 1 lit h der Wanderarbeitnehmerverordnung ist, hat der EuGH bereits in seinem - dem Vorlageersuchen des erkennenden Senats vom 23. Februar 1999, 1 Ob 319/98p (EFSlg 90.527), entsprechenden Urteil vom 15. März 2001, C-85/99 - Offermanns ausgesprochen. Der Oberste Gerichtshof übernahm diese Auffassung in seiner Entscheidung 1 Ob 86/01f (ÖA 2001, 314). Zur Wanderarbeitnehmerverordnung bestätigte der EuGH nun mit seinem Urteil vom 8. Februar 2002 in der Rechtssache C-255/99 - Anna Humer diese Auffassung, eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen UVG sei eine Familienleistung iSd Art 4 Abs 1 lit h der Wanderarbeitnehmerverordnung idgF, um dann weiter wie folgt auszuführen: Eine Person, die zumindest einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer iSd Art 2 Abs 1 iVm Art 1 lit f Z 1 der VO Nr. 1408/71 ist, falle in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung. Die Art 73 und 74 dieser VO seien so auszulegen, dass ein minderjähriges Kind, das zusammen mit dem sorgeberechtigten Elternteil in einem anderen als dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat wohnt und dessen anderer, zu Unterhaltszahlungen verpflichteter Elternteil in dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer ist, Anspruch auf eine Familienleistung wie den Unterhaltsvorschuss nach dem UVG habe.

Aus diesen Normen des Gemeinschaftsrecht folgt iVm dem oben wiedergegebenen Spruch des Urteils des EuGH, dass die Antragstellerin trotz fehlenden gewöhnlichen Aufenthalts in Österreich entgegen § 2 Abs 1 UVG Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen hat, sofern ihr Vater in Österreich berufstätig ist oder aber arbeitslos ist und Arbeitslosengeld bezieht, auch wenn ihre Mutter nach dem Aktenstand weder berufstätig noch arbeitslos ist. Voraussetzung ist nicht eine berufliche Tätigkeit oder Beschäftigungslosigkeit des in einen Mitgliedstaat der Gemeinschaft verzogenen obsorgeberechtigten Elternteils, sondern es genügt, dass der im Inland verbleibende andere Elternteil berufstätig oder beschäftigungslos ist. Dass dies hier beim Vater der Fall ist, kann nach dem Aktenstand noch nicht gesagt werden. Es steht nur fest, dass er arbeitslos ist, aber nicht, dass er Arbeitslosengeld bezieht oder bezog. Insoweit bedarf das Verfahren noch einer Ergänzung in erster Instanz. Wenn er Arbeitslosengeld bezog, besteht gegen die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen der von der zweiten Instanz angenommene Hinderungsgrund nicht.

Dass anders als in der genannten Entscheidung im vorliegenden Fall die Eltern der Antragstellerin nicht verheiratet sind oder waren, ist nicht entscheidungswesentlich.

Hinweise dafür, dass auch in Griechenland Unterhaltsvorschüsse gewährt werden, fehlen vollständig.

Demnach ist spruchgemäß zu entscheiden.

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