OGH 1Ob86/01f

OGH1Ob86/01f30.3.2001

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Vincent O*****, geboren am *****, und der mj. Esther O*****, geboren am *****, vertreten durch deren Mutter Barbara S*****, diese vertreten durch Winkler-Heinzle, Rechtsanwaltspartnerschaft in Bregenz, wegen Gewährung von Unterhaltsvorschüssen infolge ordentlichen Revisionsrekurses der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgerichts vom 23. September 1998, GZ 1 R 455/98i-14, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Bregenz vom 3. September 1998, GZ 7 P 637/98z-11, bestätigt wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Ergänzung des Verfahrens an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

Die minderjährigen Antragsteller (Vincent, geboren am *****, und Esther, geboren am *****), entsprossen der mit Beschluss des Bezirksgerichts Bregenz am 1. Februar 1995 geschiedenen Ehe deutscher Staatsangehöriger. Sie sind selbst gleichfalls deutsche Staatsangehörige. Deren Eltern haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt seit 1987 in Vorarlberg. Die Mutter betreibt als Selbständige eine Buchhandlung für Kinderbücher. Der Vater ist als selbständiger Handelsvertreter (auch) in Österreich mit dem Vertrieb von "Bauartikeln" befasst. Die Kinder lebten immer im Haushalt ihrer Eltern. Nach deren Scheidung nimmt die Mutter die Obsorge für die Kinder wahr. Am 17. Jänner 1996 verpflichtete sich der Vater in einem gerichtlichen Vergleich, für jedes der beiden Kinder einen Unterhaltsbeitrag von ATS 3.500 monatlich zu zahlen. Die Kinder haben nach wie vor ihren gewöhnlichen Aufenthalt - wie ihre Eltern - in Österreich.

Am 1. September 1998 (Einlangen bei Gericht) beantragten die Kinder die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen in der Höhe von je ATS 3.500 monatlich "seit dem frühestmöglichen Zeitraum". Sie brachten vor, sie hätten die zwangsweise Hereinbringung des vollstreckbaren Unterhaltsanspruchs gegen ihren Vater versucht, die Exekution sei jedoch ins Leere gegangen, weil der Unterhaltsschuldner, der seit Februar 1998 nichts mehr zahle, keine Gehaltsforderung habe. Die Regelung des § 2 Abs 1 UVG, die den Unterhaltsvorschussanspruch an die österreichische Staatsbürgerschaft bzw an die Staatenlosigkeit der Antragsteller knüpfe, verletze das Diskriminierungsverbot des Art 6 EGV, gehöre doch zum Anwendungsbereich dieses Vertrags auch die Sozialpolitik. Das österreichische Unterhaltsvorschussgesetz sei eine Maßnahme der Sozialpolitik und müsse daher im bezeichneten Punkt wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts zurücktreten. Minderjährigen, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats seien und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hätten, seien daher Unterhaltsvorschüsse nach dem österreichischen Unterhaltsvorschussgesetz zu gewähren.

Das Erstgericht wies die Anträge auf Vorschussgewährung unter Berufung auf § 2 Abs 1 UVG und die deutsche Staatsangehörigkeit der Minderjährigen ab.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu. Es erwog in rechtlicher Hinsicht, die Regelung des § 2 Abs 1 UVG sei ungeachtet des Beitritts Österreichs zur Europäischen Union bisher nicht geändert worden. Für das Unterhaltsvorschussrecht fehle es an Verträgen gemäß Art 220 EGV. Insoweit gebe es aber auch kein sekundäres Gemeinschaftsrecht. Unterhaltsvorschüsse seien keine Familienleistungen im Sinne der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 und auch keine soziale Vergünstigung entsprechend Art 7 Abs 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 je zu Art 51 EGV. Insofern eine Diskriminierung bei Fahrpreisermäßigungen für kinderreiche Familien, bei Darlehen wegen Familiengründung und Geburt, beim Gebrauch einer nationalen Minderheitensprache vor Gericht, bei der Zuweisung von Sozialwohnungen und bei der Gewährung von Mutterschafts- und Geburtenbeihilfen unzulässig sei, handle es sich um andere Sachgebiete. Das Diskriminierungsverbot gemäß Art 6 EGV, das auch in den Art 48,51 und52 EGV "eine besondere Ausprägung" erfahren habe, erstrecke sich nur auf den Anwendungsbereich des Vertrags. Mangle es in einem Sachgebiet - wie hier - an Gemeinschaftsrecht und sei das inländische Sachrecht auch nicht Gegenstand einer gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung, so sei das vertragliche Diskriminierungsverbot unanwendbar. Deshalb sei die Beschränkung von Unterhaltsvorschüssen auf österreichische Staatsbürger und Staatenlose auch keine Verletzung des erörterten Diskriminierungsverbots. Mangels anwendbaren Gemeinschaftsrechts zur Lösung der entscheidungswesentlichen Rechtsfrage bedürfe es auch nicht der Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften gemäß Art 177 EGV.

Rechtliche Beurteilung

Aufgrund des Revisionsrekurses der Antragsteller legte der erkennende Senat dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit Beschluss vom 23. 2. 1999 zu 1 Ob 319/98p (= ÖA 1999, 146) eine Haupt- und eine Eventualfrage zur Vorabentscheidung vor. Mit Urteil dieses Gerichtshofs vom 15. 3. 2001 zu C-85/99 wurde die Hauptfrage auf folgende Weise beantwortet:

"Eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen Bundesgesetz über die Gewährung von Vorschüssen auf den Unterhalt von Kindern (Unterhaltsvorschussgesetz) ist eine Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung. Daher haben die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnenden Personen, für die diese Verordnung gilt, gemäß deren Artikel 3 unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf eine solche im Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehene Leistung."

Der Revisionsrekurs ist im Sinne des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsbegehrens berechtigt.

Nach Art 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 gilt diese Regelung "für Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene". Nach Art 3 Abs 1 dieser Verordnung haben "die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, ... die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, ...".

Aus diesen Normen des Gemeinschaftsrecht folgt in Verbindung mit dem voranstehend wiedergegebenen Spruch des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 15. 3. 2001 zu C-85/99 , dass die Antragsteller trotz deutscher Staatsangehörigkeit - entgegen § 2 Abs 1 UVG - Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen wie Inländer haben. Demnach widerspricht die Abweisung der Gewährungsanträge allein unter Hinweis auf die deutsche Staatsangehörigkeit der Antragsteller dem Gemeinschaftsrecht.

Somit ist dem Revisionsrekurs der Minderjährigen, dessen Erledigung von der Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechts von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 14 Abs 1 AußStrG abhängt, Folge zu geben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind aufzuheben. Der Oberste Gerichtshof kann die von den Minderjährigen primär beantragte Sachentscheidung nicht fällen, weil es an Feststellungen zu den - neben der Eigenschaft der Antragsteller als Familienangehörige des Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats - weiteren Voraussetzungen für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen mangelt.

Das Erstgericht - nunmehr nach einer rechtskräftigen Zuständigkeitsübertragung also das Bezirksgericht Dornbirn - wird die erwähnten Sachentscheidungsvoraussetzungen im fortgesetzten Verfahren in gleicher Weise wie bei Antragstellern, die österreichische Staatsbürger sind, zu prüfen und daraufhin neuerlich zu entscheiden haben.

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