OGH 6Ob214/06y

OGH6Ob214/06y9.11.2006

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Pimmer als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schenk und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler und Univ. Doz. Dr. Kodek als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Klaus E*****, wohnhaft bei seiner Mutter Andrea R*****, vertreten durch das Amt für Jugend und Familie - Rechtsfürsorge, ***** über den Revisionsrekurs des Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 30. Mai 2006, GZ 42 R 286/06d-U18, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Hernals vom 6. April 2006, GZ 40 P 110/05t-U12, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben; dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Der am 31. 7. 1990 geborene Antragsteller lebt bei seiner Mutter in Deutschland. Beide sind deutsche Staatsbürger. Der Vater ist österreichischer Staatsbürger und hatte seinen Wohnsitz zunächst in Wien. Er befindet sich seit 24. 11. 2005 bis voraussichtlich 26. 11. 2006 in Strafhaft in einer österreichischen Justizanstalt. Der Minderjährige begehrt Unterhaltsvorschuss nach § 4 Z 3 UVG in Höhe der Richtsätze des § 6 Abs 2 UVG.

Das Erstgericht wies den Antrag ab. Ein Anspruch auf Unterhaltsvorschuss bestehe nicht. Der Minderjährige sei deutscher Staatsbürger mit Wohnsitz in Deutschland. Eine Gleichstellung mit österreichischen Kindern finde nicht statt, weil der Vater weder tätiger noch arbeitsloser Arbeitnehmer sei. Er befinde sich nämlich in Haft.

Das Rekursgericht gewährte dem Minderjährigen Unterhaltsvorschüsse nach § 4 Z 3 UVG für die Zeit zwischen 1. 3. 2006 und 26. 11. 2006 in der in § 6 Abs 2 Z 3 UVG bestimmten Höhe. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil zur Anwendbarkeit der Verordnung (EG) Nr 883/2004 vor Erlassung der Durchführungsverordnung und zur Frage, ob Strafhäftlinge als Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 anzusehen seien, Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehle. Die Verordnung (EG) Nr 883/2004 vom 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit werde erst mit Inkrafttreten der in ihrem Art 89 vorgesehenen Durchführungsverordnung wirksam. Für den vorliegenden Fall sei daher noch die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 (im Folgenden VO 1408/71 ) maßgebend. Im Anwendungsbereich der VO 1408/71 seien Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinn ihres Art 4 Abs 1 lit h unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs 1 UVG (österreichische Staatsbürgerschaft und gewöhnlicher Aufenthalt im Inland) zu gewähren. Der geforderte grenzüberschreitende Bezug zwischen den Mitgliedsstaaten liege vor. Es komme daher nur darauf an, ob der unterhaltspflichtige Vater als Strafhäftling Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung sei.

Dies sei zu bejahen, weil nach ständiger Rechtsprechung bereits die Versicherung gegen bloß ein sozialversicherungsrechtliches Risiko ausreiche, um die Arbeitnehmereigenschaft und damit die Anwendbarkeit der VO 1408/71 zu begründen. Der Vater sei als Strafhäftling zur Arbeit gegen Entgelt verpflichtet und - soweit er dieser Pflicht nachkomme - auch arbeitslosenversichert. Dies reiche zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft aus. Sein in Deutschland wohnender Familienangehöriger habe daher Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse nach dem UVG. Dass der Minderjährige seine Ansprüche vorrangig im Wohnsitzstaat Deutschland geltend machen müsse, stehe einer Vorschussgewährung in Österreich nicht entgegen, weil die Unterhaltsvorschüsse in Deutschland nur bis zur Vollendung des 12. Lebensjahrs gewährt würden.

Der Revisionsrekurs des Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien ist zulässig und im Sinn des darin enthaltenen Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Der Revisionsrekurswerber macht geltend, für die Anwendung der Verordnung fehle es an einem grenzüberschreitenden Sachverhalt. Der Anspruch des Minderjährigen richte sich nach dem Recht seines Aufenthaltsortes. Deshalb habe er auch Unterhaltsvorschüsse bis zur Altersgrenze in Deutschland erhalten. Fraglich sei, ob der Unterhaltsschuldner, der sich in Strafhaft befinde, deswegen als arbeitsloser Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung anzusehen sei.

2. Der Antragsteller ist deutscher Staatsbürger und lebt mit seiner Mutter (sie ist gleichfalls deutsche Staatsangehörige) in Deutschland. Bis zur Erreichung der Altersgrenze (12 Jahre) hat er Unterhaltsvorschuss nach dem deutschen Unterhaltsvorschussgesetz bezogen. Sein Vater ist österreichischer Staatsbürger und befindet sich seit 24. 11. 2005 bis voraussichtlich 26. 11. 2006 in Strafhaft in Österreich. Ob er jemals einer Beschäftigung außerhalb Österreichs nachgegangen ist, steht nicht fest. Es steht auch nicht fest, ob er als Strafgefangener seiner Arbeitspflicht nachkommt.

3. Angesichts des eindeutigen Wortlauts des Art 91 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist nicht zweifelhaft, dass diese Verordnung noch nicht anzuwenden ist, weil die darin vorgesehene Durchführungsverordnung bisher noch nicht erlassen wurde (10 Ob 53/06a mwN).

4. Nach § 2 Abs 1 UVG haben Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind.

5. In seiner Entscheidung vom 15. 3. 2001, C-85/99 - Offermanns (Slg 2001, I-2261, 2285) beurteilte der EuGH Unterhaltsvorschüsse nach dem österreichischen Unterhaltsvorschussgesetz als Familienleistung im Sinn der VO (EWG) 1408/71 . Dies gilt auch für Haftvorschüsse nach § 4 Z 3 UVG (EuGH vom 20. 1. 2005, C-302/02 , Effing; 10 Ob 53/06a). Nach Art 3 der VO 1408/71 haben die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnenden Personen unter denselben Bedingungen wie Inländer Anspruch auf eine im Recht dieses Mitgliedsstaats vorgesehene Leistung, sofern sie in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen. Die Entscheidung Offermanns erweiterte somit den Anwendungsbereich des österreichischen Unterhaltsvorschussgesetzes auf EWR-Bürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich haben und unter den Anwendungsbereich der VO 1408/71 fallen (Neumayr in Schwimann ABGB I³, § 1 UVG Rz 17 mwN; RIS-Justiz RS0115509, RS0115844). Art 2 der VO 1408/71 regelt ihren persönlichen Geltungsbereich. Sie gilt für Arbeitnehmer und Selbständige sowie Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Kinder, die als Mitglieder der Familie eines Arbeitnehmers oder Selbständigen in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung fallen, sind in Bezug auf Familienleistungen als Personen anzusehen, für die diese Verordnung für die Zwecke ihres Art 3 Abs 1 gilt. Der Begriff des Arbeitnehmers ist in Art 1 lit a der VO 1408/71 definiert. Darunter ist jede Person zu verstehen, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Der Europäische Gerichtshof hat in der Entscheidung vom 12. 5. 1998, C-85/96 , Sala, klargestellt, dass eine Person Arbeitnehmer im Sinn dieser Verordnung ist, wenn sie - unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses - auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Art 1 lit a der Verordnung genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist (vgl EuGH vom 7. 6. 2005, C-543/03 - Dodl/Oberhollenzer = wbl 2005/242). Der Oberste Gerichtshof ist dieser Auffassung in einer Reihe von Entscheidungen gefolgt ( 4 Ob 117/02p; 6 Ob 171/03w).

6. Ungeklärt blieb, ob der Vater jemals von seiner Freizügigkeit nach dem EG-Vertrag Gebrauch gemacht hat. Insoweit ist das Verfahren ergänzungsbedürftig.

Normzweck des Art 42 EGV und der aufgrund dieser Bestimmung ergangenen VO 1408/71 ist nur die Koordinierung, nicht die Harmonisierung der verschiedenen sozialrechtlichen Systeme der Mitgliedsstaaten für Personen mit grenzüberschreitendem Berufsverlauf. Diese Regelungen sollen nicht ein einheitliches gemeinschaftsweit gültiges Sozialversicherungssystem schaffen; sie sollen vielmehr die Freizügigkeit durch eine Koordinierung nationaler Regeln sicherstellen. Grundvoraussetzung für die Anwendung der VO 1408/71 ist deshalb das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts (10 Ob 60/03a mwN). Liegt ein derartiger Sachverhalt nicht vor, bedarf es keiner Anwendung der Verordnung, weil die Freizügigkeit in einem solchen Fall nicht sichergestellt werden muss. Ein derartiger grenzüberschreitender Sachverhalt wird nicht schon allein dadurch verwirklicht, dass sich der Wohnsitz des Unterhaltsberechtigten - wie hier seiner Staatsangehörigkeit entsprechend - im Ausland befindet und die Unterhaltsleistung deshalb im Ausland erbracht wird. Der geforderte grenzüberschreitende Bezug wird dadurch hergestellt, dass der Unterhaltsverpflichtete ( oder derjenige, bei dem sich das Kind aufhält) von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist (10 Ob 60/03a; Neumayr aaO § 1 Rz 20). Ist dies nicht der Fall, findet schon aus diesem Grund die VO 1408/71 nicht Anwendung und scheidet ein Anspruch des im Ausland lebenden fremden Staatsangehörigen auf Leistungen nach dem österreichischen Unterhaltsvorschussgesetz nach § 2 Abs 1 UVG aus.

Dass ein „Export" von Unterhaltsvorschussleistungen nach dem österreichischen UVG in der Rechtssache Humer (EuGH vom 5. 2. 2002 C-255/99 - Humer; 7 Ob 40/02m) erfolgen konnte, war darauf zurückzuführen, dass die sorgeberechtigte Mutter (sie war ebenso wie das Kind und der unterhaltsverpflichtete Vater österreichische Staatsbürgerin) die Freizügigkeit in Anspruch genommen und gemeinsam mit dem Kind ins EU-Ausland verzogen war. Der grenzüberschreitende (Gemeinschafts-)Bezug wurde durch die gemeinsame Übersiedlung in einen anderen Mitgliedsstaat hergestellt, sodass es nicht schadete, dass der Vater als Österreicher nur in Österreich erwerbstätig war und von seinem Recht auf Freizügigkeit nie Gebrauch gemacht hatte. Insoweit unterscheidet sich der im vorliegenden Fall zu beurteilende Sachverhalt. Dass die Mutter des Antragstellers in Wahrnehmung ihres Rechts auf Freizügigkeit gemeinsam mit ihm von Österreich nach Deutschland verzogen wäre, wurde nicht geltendgemacht. Ob der Vater jemals - als Voraussetzung für die Anwendung der VO 1408/71 - von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatte, blieb ungeklärt; das Erstgericht wird sein Verfahren entsprechend zu ergänzen haben. Der Nachweis der Anspruchsvoraussetzungen obliegt dem Antragsteller.

7. Der Antragsteller leitet seinen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen Unterhaltsvorschussgesetz vom unterhaltspflichtigen Vater ab, der eine Freiheitsstrafe in einer Strafvollzugsanstalt in Österreich verbüßt.

Kommt ein in Österreich inhaftierter Strafgefangener seiner Arbeitsverpflichtung nach § 44 StVG nach, ist er gemäß § 66a AlVG im System der sozialen Sicherheit gegen Arbeitslosigkeit versichert; er ist damit als Arbeitnehmer im Sinn des Art 1 lit a der VO 1408/71 anzusehen (ebenso EuGH 20. 1. 2005, C-302/02 - Effing) und vermittelt daher gemäß Art 3 der VO 1408/71 seinen Kindern als seinen Familienangehörigen einen Unterhaltsvorschussanspruch nach § 4 Z 3 UVG (10 Ob 53/06a).

Im vorliegenden Fall blieb ungeklärt, ob der Vater seiner gesetzlichen Arbeitspflicht tatsächlich nachkommt. Insoweit blieb das Verfahren ergänzungsbedürftig, sodass nicht endgültig geklärt werden kann, ob der Vater - und damit auch der Antragsteller als sein Familienangehöriger - vom Anwendungsbereich der Verordnung erfasst sind.

8. Dem Revisionsrekurs war Folge zu geben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Ergänzung seines Verfahrens im dargelegten Sinn aufzutragen.

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