OGH 4Ob117/02p

OGH4Ob117/02p28.5.2002

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Kodek als Vorsitzenden und durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Graf, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Griß und Dr. Schenk sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Vogel als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Robert E*****, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Salzburg-Umgebung (Jugendamt) als Unterhaltssachwalter, wegen Gewährung von Unterhaltsvorschüssen, infolge Revisionsrekurses des Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 6. März 2002, GZ 21 R 372/01d-10, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Neumarkt bei Salzburg vom 3. Oktober 2001, GZ P 91/01w-6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Der Minderjährige ist wie sein unehelicher Vater deutscher Staatsbürger. Der Wohnsitz der allein obsorgeberechtigten Mutter und des Minderjährigen liegt im Inland. Der Vater hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Er ist zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 444 DM (= 227,03 EUR) verpflichtet. Die Mutter ist als Hauswirtschafterin geringfügig beschäftigt und erzielt ein Einkommen von rund 566 DM.

Mit dem am 3. 10. 2001 beim Erstgericht eingelangten Antrag begehrt das durch den Jugendwohlfahrtsträger (§ 212 Abs 2 ABGB) vertretene Kind unter Berufung auf §§ 3, 4 Z 1 UVG Titelvorschüsse von monatlich 444 DM, wozu es vorbrachte, die Führung einer weiteren Exekution gegen den Vater scheine aussichtslos, weil dieser in Deutschland keiner angemeldeten Beschäftigung nachgehe und Sozialhilfe von der Sozialhilfeverwaltung Berchtesgadener Land beziehe.

Das Erstgericht gewährte mit der gemäß § 11 Abs 2 UVG vom Antrag übernommenen Begründung dem Kind die beantragten Unterhaltsvorschüsse in der Titelhöhe von monatlich 3.124 S für die Zeit vom 1. 10. 2001 bis 30. 9. 2004.

Das Rekursgericht bestätigte infolge Rekurses des Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz diesen Beschluss und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels höchstgerichtlicher Rechtsprechung zum gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff zulässig sei. Geringfügig Beschäftigte seien nur unfallversichert und im übrigen gesetzlich von einer vollen Pflichtversicherung ausgenommen. Dessen ungeachtet fielen sie unter den weiten gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff, zumal nach der Rechtsprechung des EuGH Arbeitnehmer jeder sei, der Versicherteneigenschaft nach den für die soziale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften auch nur eines Mitgliedstaates besitze. Der Minderjährige als Angehöriger eines Arbeitnehmers sei zum Bezug von Leistungen nach dem UVG berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil zur Frage, ob geringfügig Beschäftigte Arbeitnehmer im Sinn gemeinschaftsrechtlicher Normen sind, höchstgerichtliche Rechtsprechung fehlt; das Rechtsmittel ist aber nicht berechtigt.

Der EuGH hat bereits wiederholt ausgesprochen, dass eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen UVG eine Familienleistung iSd Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige (in der Folge: VO 1408/71 ) ist (Urteil vom 15. 3. 2001, Rs C-85/99 - Offermanns; Urteil vom 8. 2. 2002, Rs C-255/99 - Anna Humer, ELP 2002, 121 [Mayr]). Eine Person, die zumindest einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer iSd Art 2 Abs 1 iVm Art 1 lit f Z 1 der VO 1408/71 ist, fällt daher in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung (Urteil vom 8. 2. 2002, Rs C-255/99 - Anna Humer, ELP 2002, 121 [Mayr]).

Der Oberste Gerichtshof folgerte aus dieser Rechtsprechung in seiner Entscheidung 1 Ob 86/01f = ÖA 2001, 314, dass auch deutsche Staatsangehörige - entgegen § 2 Abs 1 UVG - Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen wie Inländer haben. Zu 1 Ob 289/01h sprach er aus, dass eine Antragstellerin trotz fehlenden gewöhnlichen Aufenthalts in Österreich entgegen § 2 Abs 1 UVG Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen hat, sofern auch nur ein Elternteil in Österreich berufstätig ist oder aber arbeitslos ist und Arbeitslosengeld bezieht; Voraussetzung ist nicht eine berufliche Tätigkeit oder Beschäftigungslosigkeit des in einen Mitgliedstaat der Gemeinschaft verzogenen obsorgeberechtigten Elternteils, sondern es genügt, dass der im Inland verbleibende andere Elternteil berufstätig oder beschäftigungslos ist.

Der Präsident des Oberlandesgerichtes Linz stellt diese Grundsätze zutreffend nicht in Frage. Er vertritt aber die Auffassung, das österreichische Sozialversicherungsrecht kenne für geringfügig Beschäftigte keine Vollversicherung, sondern nur eine Pflichtversicherung im Teilbereich der Unfallversicherung, weil der Gesetzgeber davon ausgegangen sei, dass die von dieser Beschäftigtengruppe erzielbare geringe Entlohnung eine zu schmale wirtschaftliche Basis für den Aufbau einer Sozialversicherung als einer Selbsthilfeeinrichtung abgebe und deren Existenzgrundlage gerade nicht im geringfügigen Beschäftigungsverhältnis liege. Eine derartige Teilversicherung könne aber keine ausreichende Grundlage dafür sein, geringfügig Beschäftige dem Arbeitnehmerbegriff der VO 1408/71 zu unterstellen. Damit falle die Antragstellerin nicht unter den persönlichen Anwendungsbereich dieser Vorschrift des Gemeinschaftsrechts. Dem kann nicht gefolgt werden.

Nach den zuvor dargestellten Grundsätzen ist der Antragsteller ungeachtet seiner deutschen Staatsbürgerschaft und der fehlenden Arbeitnehmereigenschaft seines - Sozialhilfe beziehenden - Vaters dann zum Bezug von Leistungen nach dem UVG berechtigt, wenn seine Mutter Arbeitnehmerin im Sinne der VO 1408/71 ist.

Der Arbeitnehmerbegriff der VO 1408/71 hat einen gemeinschaftsspezifischen Inhalt und wird nach der Rechtsprechung des EuGH im Bereich der sozialen Sicherheit sozialversicherungsrechtlich, nicht arbeitsrechtlich definiert. Danach ist jede Person als Arbeitnehmer anzusehen, die, ob sie nun eine Erwerbstätigkeit ausübt oder nicht, die Versicherteneigenschaft nach den für die soziale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten besitzt (Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts Band I, D II Rz 68 ff mwN). Entscheidend ist, ob jemand in einem für Arbeitnehmer geschaffenen System der sozialen Sicherheit pflicht- oder freiwillig versichert ist. Dabei genügt es, wenn die Person die materiellen Voraussetzungen des Begriffs erfüllt, ohne vom System konkret administrativ erfasst worden zu sein (Eichenhofer in Fuchs, Kommenar zum Europäischen Sozialrecht² VO 1408/71 Art 1 Rz 12 mwN). Arbeitnehmer ist auch ein Teilzeitbeschäftigter, selbst wenn er die Beschäftigung nur für zwei Stunden an zwei Tagen ausübt (EuGH Rs C-2/89 - Kits van Heijningen, Slg 1990, I-1755). Bei dieser Auslegung umfasst der Arbeitnehmerbegriff auch Geringverdienende, selbst wenn sie auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sind (Dauses aaO Rz 70).

Zutreffend zeigt der Rekurswerber auf, dass Dienstnehmer, die nach der Höhe des Entgelts geringfügig beschäftigt sind (geringfügig Beschäftigte nach § 5 Abs 1 Z 2 ASVG) nicht verpflichtend vollversichert sind. Sie sind nämlich bloß in der Unfallversicherung teilversichert, nicht hingegen etwa in der Kranken- und Pensionsversicherung, in der sie sich allerdings im Rahmen eines "Optionsmodells" freiwillig selbst (voll-)versichern können (Brodil/Windisch-Graetz, Sozialrecht in Grundzügen³ 35). Gemäß § 1 Abs 2 lit d AlVG sind geringfügig Beschäftigte auch von der Arbeitslosenversicherungspflicht ausgenommen. Dieser Umstand einer fehlenden gesetzlichen Vollversicherungspflicht steht aber einer Beurteilung geringfügig Beschäftigter als Arbeitnehmer im Sinn der VO 1408/71 nicht entgegen.

Art 1 lit a Z 1 VO 1408/71 versteht unter Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung jede Person, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert sind. Abgestellt wird hier schon nach dem klaren und eindeutigen Wortlaut der Definition nicht auf eine umfassende Vollversicherung, die sämtliche Zweige des Sozialsystems umfasst; schon die Pflichtversicherung gegen auch nur ein Risiko genügt demnach zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft. Diesem Erfordernis ist im Fall geringfügiger Beschäftigung gemäß § 5 Abs 1 Z 2 ASVG demnach schon dadurch Genüge getan, dass geringfügig Beschäftigte im Rahmen der Unfallversicherung gegen das Risiko von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten pflichtversichert sind, ohne dass es weiter darauf ankäme, ob sie daneben zugunsten einer freiwilligen Selbstversicherung in weiteren Zweigen der Sozialversicherung optiert haben.

Der Antragsteller fällt demnach als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers iSd Art 2 Abs 1 iVm Art 1 lit f Z 1 VO 1408/71 unter den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung. Damit ist er zum Bezug von Leistungen nach dem UVG unter den - hier nicht weiter strittigen - sonstigen Voraussetzungen berechtigt.

Dem Revisionsrekurs ist ein Erfolg zu versagen.

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