OGH 4Ob124/05x

OGH4Ob124/05x12.7.2005

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Griß als Vorsitzende, durch die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schenk und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Vogel, Dr. Jensik und Dr. Gitschthaler als weitere Richter in der Pflegschaftssache mj. Bianca Luca N*****, vertreten durch Agnes N*****, diese vertreten durch Mag. Dr. Géza Simofay, Rechtsanwalt in Wien, über den Rekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 2. März 2005, GZ 23 R 3/05x-19, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Scheibbs vom 15. Dezember 2004, GZ 4 P 103/04b-11, aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Die Minderjährige ist wie ihre Mutter ungarische Staatsangehörige. Sie lebt im Haushalt der Mutter in Ungarn. Der außereheliche Vater ist österreichischer Staatsbürger mit Wohnsitz in Österreich. Er ist aufgrund des rechtskräftigen Versäumungsurteils vom 8. 10. 2001, 2 C 136/01g, zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 4.000 S (das sind 290,70 EUR) verpflichtet.

Am 15. 10. 2004 beantragte die Minderjährige durch ihre anwaltlich vertretene Mutter Unterhaltsvorschuss nach §§ 3 und 4 Z 1 UVG in Höhe von 260,70 EUR monatlich. Die gegen den unterhaltspflichtigen Vater geführte Fahrnis- und Gehaltsexekution sei ergebnislos verlaufen.

Das Erstgericht gewährte Unterhaltsvorschuss in der beantragten Höhe für den Zeitraum zwischen 1. 11. 2004 bis 31. 10. 2007. Es stellte noch fest, dass die Exekution aufgrund des rechtskräftigen Unterhaltstitels erfolglos geblieben sei. Der Vater sei österreichischer Staatsbürger und in Österreich als selbstständiger Handelsvertreter tätig. Dass seine Unterhaltsverpflichtung in der beantragten Höhe bestehe, sei nicht zweifelhaft. Mit der Eintreibung der bevorschussten Unterhaltsbeträge werde die BH Scheibbs - Jugendwohlfahrt beauftragt.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien statt, hob den angefochtenen Beschluss auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Es verwies den Jugendwohlfahrtsträger mit seinem Rekurs auf die aufhebende Entscheidung und sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob die Arbeitnehmereigenschaft im Sinn der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige - Wanderarbeitnehmerverordnung (im Folgenden: Verordnung Nr 1408/71 ) bei arbeitslosen Unterhaltspflichtigen den tatsächlichen Bezug von Arbeitslosengeld voraussetze oder ob es ausreiche, dass die materiellen Voraussetzungen eines derartigen Bezugs vorhanden seien. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH (und ihm folgend des OGH) seien Leistungen wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen Unterhaltsvorschussgesetz eine Familienleistung im Sinn des Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung Nr 1408/71 . Der persönliche Anwendungsbereich dieser Verordnung umfasse Personen mit zumindest einem Elternteil, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Sinn der Verordnung sei. Anspruch auf Unterhaltsvorschuss bestehe auch für unterhaltsberechtigte EU-Bürger, die sich nicht im Inland aufhalten, sofern auch nur ein Elternteil in Österreich selbstständig oder unselbstständig berufstätig oder arbeitslos sei und Arbeitslosengeld beziehe. Die Feststellung des Erstgerichts, der Vater sei als selbstständiger Handelsvertreter tätig, sei aus dem Akteninhalt nicht nachvollziehbar. Ergänzende Erhebungen des Rekursgerichts und eine Anfrage beim Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger hätten ergeben, dass der Vater zuletzt zwischen 5. 12. 2002 und 10. 3. 2003 als Arbeitnehmer aufscheine. Für den Zeitraum danach, insbesondere im Zeitpunkt der Beschlussfassung erster Instanz, scheine weder ein Arbeitslosengeldbezug noch eine Versicherung als unselbstständig oder selbstständig Erwerbstätiger auf. Nach der Entscheidung 4 Ob 117/02p sei entscheidend, ob der Unterhaltsverpflichtete in einem für Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung geschaffenen System der sozialen Sicherheit pflicht- oder freiwillig versichert sei. Dabei genüge es, wenn die Person die materiellen Voraussetzungen des Begriffs erfülle, ohne vom System konkret administrativ erfasst worden zu sein. Nach dieser Rechtsauffassung schließe der Umstand, dass der außereheliche Vater aktuell nicht als aufrecht pflichtversichert erfasst sei, die Anwendung der Verordnung im vorliegenden Fall noch nicht aus. Das Erstgericht werde daher zu erheben haben, ob der Vater tatsächlich eine selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit ausübe, die eine Pflichtversicherung nach dem österreichischen Sozialversicherungsrecht begründe. Sollte diese Voraussetzung nicht erfüllt sein, wäre die Verordnung nicht anwendbar, es fehlte an einem europarechtlichen Bezug. Dass die Unterhaltsberechtigte und ihre Mutter als ungarische Staatsangehörige mit Aufenthalt in Ungarn EU-Bürger seien, reiche mangels grenzüberschreitenden Kontexts für sich allein nicht aus, einen Anspruch zu begründen. Insofern bliebe es ausschließlich bei der Maßgeblichkeit inländischen Rechts und damit auch des § 2 Abs 1 UVG. Sollte der Unterhaltspflichtige daher weder Selbstständiger noch tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung sein, genüge die österreichische Staatsbürgerschaft und der Aufenthalt des Unterhaltspflichtigen in Österreich nach innerstaatlichem Recht nicht, einen Anspruch der Minderjährigen auf Unterhaltsvorschuss zu begründen. Vor Durchführung der notwendigen Erhebungen über die vom Vater tatsächlich ausgeübte Berufstätigkeit scheine es jedoch sinnvoll, (durch Zulassung des Rekurses an den Obersten Gerichtshof) zu klären, ob die Verordnung 1408/71 auch dann anzuwenden sei, wenn der Unterhaltspflichtige trotz Vorliegens der Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung eine entsprechende Meldung gegenüber dem zuständigen Versicherungsträger unterlassen habe. Dazu fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, der die Arbeitnehmereigenschaft arbeitsloser Unterhaltspflichtiger nur bei Bezug von Arbeitslosengeld bejaht habe. Der oben wiedergegebene Satz der Entscheidung 4 Ob 117/02p, wonach es genüge, wenn die Person die materiellen Voraussetzungen des (Arbeitnehmer-)Begriffs erfülle, ohne vom System konkret administrativ erfasst zu sein, sei nicht entscheidungsrelevant gewesen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs des Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien. Er macht geltend, die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen an das in Ungarn lebende außereheliche Kind des Unterhaltspflichtigen setze voraus, dass der in Österreich lebende Vater in einem für Arbeitnehmer geschaffenen System der sozialen Sicherheit pflicht- oder freiwillig versichert sei. Diese Voraussetzung liege nach dem vom Rekursgericht eingeholten Versicherungsdatenauszug hier nicht vor, weil im maßgeblichen Zeitraum keine Versicherung des Vaters aufscheine.

Der Vertreter des Kindes beantragt in seiner Rekursbeantwortung, dem Rechtsmittel nicht Folge zu geben. Es sei nicht entscheidend, ob der Vater als arbeitslos gemeldet sei und Arbeitslosengeld beziehe. Er sei als Angestellter bis 10. 3. 2003 sozialversichert gewesen und erfülle daher materiell die Voraussetzungen einer Versicherung als arbeitsloser Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs des Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen UVG eine Familienleistung im Sinn des Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige (Urteil vom 15. 3. 2001, Rs C-85/99 , Slg 2001, I-2261 - Offermanns; Urteil vom 8. 2. 2002 Rs C-255/99 , Slg 2002, I-1205 - Anna Humer). In den persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen Personen, die zumindest einen Elternteil haben, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer im Sinn des Art 2 Abs 1 iVm Art 1 lit f Z 1 der Verordnung 1408/71 ist (Urteil vom 8. 2. 2002 Rs C-255/99 - Anna Humer, ELP 2002, 121 [Mayr]).

Art 1 lit a Z 1 der Verordnung 1408/71 versteht unter Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung jede Person, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbstständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist.

Unter Bedachtnahme auf diese Rechtslage vertritt der Oberste Gerichtshof seit seiner Entscheidung 1 Ob 86/01f (= SZ 74/61) die Auffassung, dass Angehörige anderer EU-Mitgliedsstaaten - entgegen § 2 Abs 1 UVG - Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen wie österreichische Inländer haben. In diesem Sinn bejaht die Entscheidung 1 Ob 289/01h einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschuss, wenn zwar das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Österreich hat, aber ein Elternteil in Österreich berufstätig oder arbeitslos ist und Arbeitslosengeld bezieht. Mit der Frage, ob es auf den tatsächlichen Bezug von Arbeitslosengeld ankommt oder ob es genügt, dass die Voraussetzungen dafür erfüllt sind, setzt sich die Entscheidung nicht auseinander. Gleiches gilt für die Entscheidung 6 Ob 171/03w, für die diese Frage auch nicht entscheidungsrelevant war, weil das antragstellende Kind nur behauptet hatte, dass die Mutter Sozialhilfe beziehe. Die Entscheidung 7 Ob 245/02m führt aus, dass der bloße Umstand, arbeitslos gewesen zu sein, ohne tatsächlich Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zu beziehen, für den Anspruchserwerb des Kindes nicht ausreiche. Sie setzt sich aber auch mit dem Vorbringen des Kindes auseinander, der Vater nehme „seine aus der Arbeitslosenversicherung resultierenden Ansprüche" nicht wahr und meint dazu, damit werde - spekulativ - unterstellt, dass der Vater alle hiefür erforderlichen Leistungsvoraussetzungen erfüllt hätte; dies stehe jedoch nach der Aktenlage keineswegs verlässlich fest. Der Antragsteller habe diese Voraussetzungen nicht nur zu behaupten, sondern auch zu bescheinigen.

In der Entscheidung 4 Ob 117/02p (= SZ 2002/77) hat der Oberste Gerichtshof betont, dass der Begriff des Arbeitnehmers im Sinn des Art 1 lit a Z 1 der Verordnung 1408/71 nicht eine umfassende Vollversicherung voraussetzt und schon die Pflichtversicherung gegen auch nur ein Risiko - so etwa die verpflichtende Unfallversicherung für geringfügig Beschäftigte - zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft ausreicht. Unter Hinweis auf Eichenhofer (in Fuchs, Kommentar zum europäischen Sozialrecht² Verordnung 1408/71 Art 1 Rz 12) hat der Oberste Gerichtshof ausgeführt, es genüge, wenn die Person die materiellen Voraussetzungen des Begriffs erfülle, ohne vom System konkret administrativ erfasst worden zu sein. Dieser Umstand war damals allerdings nicht entscheidend, weil der betroffene Elternteil als geringfügig Beschäftigter im Rahmen der Unfallversicherung gegen das Risiko von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten ohnehin pflichtversichert war.

Der Oberste Gerichtshof hatte demnach bisher nicht zu entscheiden, ob der unterhaltspflichtige Elternteil bereits dann als Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung 1408/71 gilt, wenn er die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erfüllt. Der EuGH hat diese Frage bejaht. Nach der Entscheidung vom 15. 12. 1976, Rs 39/76 , Slg 1976, 1901 - Mouthaan, ist eine Person dann als Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung Nr 1408/71 anzusehen, wenn sie die materiellen Voraussetzungen erfüllt, die von dem für sie geltenden System der sozialen Sicherheit objektiv festgesetzt worden sind, auch wenn die für den Anschluss an dieses System erforderlichen Schritte nicht unternommen worden sind. Nach Auffassung des EuGH ist demnach nicht darauf abzustellen, ob das Sozialversicherungssystem die betreffende Person konkret als Mitglied erfasst hat und tatsächlich eine Pflichtversicherung besteht. Entscheidend ist vielmehr, ob die Person die materiellen Voraussetzungen einer Pflichtversicherung erfüllt und etwa nur deshalb nicht versichert ist, weil sie die dafür erforderliche Meldung oder Antragstellung unterlassen hat.

Nach dem den Feststellungen des Berufungsgerichts zugrundeliegenden Versicherungsdatenauszug war der unterhaltspflichtige Vater bis zum 10. 3. 2003 in Österreich als Angestellter pflichtversichert. Nach diesem Zeitpunkt scheinen weder eine versicherungspflichtige Tätigkeit noch Zeiträume gemeldeter Arbeitslosigkeit mit Arbeitslosengeldbezug auf (zum Inhalt eines Versicherungsdatenauszuges siehe Souhrada, Versicherungsdatenauszug, SozSi 1996, 488 f). Der Vater ist daher seit 11. 3. 2003 vom „System der sozialen Sicherheit" im Sinn des Art 1 der Verordnung 1408/71 formell nicht mehr erfasst. Dies schließt aber keineswegs aus, dass er die materiellen Voraussetzungen einer Pflichtversicherung im Sinn der Auslegung des EuGH tatsächlich erfüllt; etwa weil er eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausübt oder die Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld erfüllt wären und er nur deshalb nicht (pflicht)versichert ist, weil er entsprechende Meldungen oder Anträge unterlassen hat. Feststellungen dazu fehlen.

Im fortgesetzten Verfahren wird daher zu prüfen sein, welche berufliche Tätigkeit der Vater tatsächlich ausübt und ob er gegebenenfalls Anspruch auf Arbeitslosengeld hätte. Dabei wird auf den 1. 11. 2004 (Beginn des Bevorschussungszeitraums) abzustellen sein.

Der Untersuchungsgrundsatz des außerstreitigen Verfahrens entbindet die Parteien nicht von jeglicher Beweislast. Die subjektive Beweislast, das ist die Verpflichtung der Parteien, den Beweis der für ihren Rechtsstandpunkt günstigen Tatsachen zu erbringen, wird durch die Verpflichtung des Gerichts nur ergänzt, auch ohne Parteibehauptungen die zur Entscheidung erforderlichen Tatsachen zu erheben. Wird trotz des Untersuchungsgrundsatzes der Beweis für erhebliche Tatsachen nicht erbracht, gelten die allgemeinen Beweislastregeln (RIS-Justiz RS0008752; 6 Ob 171/03w). Es obliegt daher dem Kind, die materiellen Anspruchsvoraussetzungen der Vorschussgewährung zu beweisen (7 Ob 295/02m; 6 Ob 171/03w).

Der gegen den Aufhebungsbeschluss des Rekursgerichts gerichtete Rekurs musste daher erfolglos bleiben.

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