OGH 10ObS105/07z

OGH10ObS105/07z5.2.2008

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schinko als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz und Dr. Martin Gleitsmann (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz H*****, vertreten durch Mag. Dr. Christian Janda Rechtsanwalts KEG in Kremsmünster, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17. April 2007, GZ 11 Rs 30/07x-15, womit über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Steyr als Arbeits- und Sozialgericht vom 14. Dezember 2006, GZ 24 Cgs 118/06h-11, teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird teilweise Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird in Ansehung des Begehrens einer Gesamtrente für die Folgen der Arbeitsunfälle vom 10. 5. 1994, vom 19. 5. 1996 und vom 15. 3. 2001 für den Zeitraum vom 16. 5. 2001 bis 15. 3. 2003 aufgehoben und in der Sache zu Recht erkannt, dass im Umfang der Aufhebung das klageabweisende Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Im Übrigen wird dem Rekurs nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger erlitt insgesamt drei Arbeitsunfälle mit nachstehend beschriebenen Verletzungen:

1. Bei Schleifarbeiten an der Dachkonstruktion des firmeneigenen VW-Busses am 10. 5. 1994 durchschlug ein ca 12 mm langer Metallstift seine Schutzbrille und drang in sein linkes Auge ein und durchbohrte die Hornhaut. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt ab 20. 1. 2006 weiterhin 15 vH. Eine Veränderung ist nicht zu erwarten.

2. Am 19. 5. 1996 stieß der Kläger auf einer dienstlichen Fahrt mit seinem Motorrad mit einem entgegenkommenden PKW zusammen. Er erlitt dabei einen offenen Trümmerbruch des rechten Unterarms mit Riss der langen Daumenstrecksehne, einen knöchernen Abriss des Köpfchens des 4. Mittelhandknochens, eine Sehnenverletzung im Bereich des rechten und des linken Zeige- und Mittelfingers sowie des rechten Kleinfingers und eine Prellung im Bereich des linken oberen Sprunggelenks. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit aus diesem Unfall beträgt ab 20. 1. 2006 unverändert gegenüber einem Vorgutachten vom 9. 12. 1997 30 vH.

3. Am 15. 3. 2001 brach der Kläger beim Abmessen einer Dachfläche durch eine Dachlatte ein und verdrehte sich das rechte Kniegelenk. Er zog sich dabei einen Riss des vorderen Kreuzbandes im rechten Kniegelenk und eine Knorpelverletzung zu.

Für die Folgen der Arbeitsunfälle vom 10. 5. 1994 und vom 19. 5. 1996 bezog der Kläger zuletzt aufgrund des am 16. 7. 1998 geschlossenen gerichtlichen Vergleichs eine Gesamtdauerrente in Höhe von 45 vH der Vollrente.

Am 30. 3. 2001 langte bei der Beklagten eine Unfallmeldung des Landeskrankenhauses Steyr über den Arbeitsunfall des Klägers vom 15. 3. 2001 ein. Die Beklagte erfasste die Unfallstatistikdaten am 3. 4. 2001. Eine amtswegige Feststellung eines allfälligen Anspruchs des Klägers auf Versehrtenrente aus diesem Unfall unterblieb. Der Kläger selbst erstattete keine Unfallmeldung an die Beklagte. Erst am 20. 1. 2006 langte bei der Beklagten ein Schreiben des Klägers ein, in dem er erstmals einen Antrag auf Versehrtenrente aus dem Unfall vom 15. 3. 2001 stellte. Im Jahr 2002 nahm ein Facharzt der Unfallchirurgie eine vordere Kreuzbandplastik beim Knie des Klägers vor. Unfallkausal bestehen nunmehr eine posttraumatische Abnützung des rechten Kniegelenks ohne Instabilität, eine Schwellneigung und eine endlagige Einschränkung der Streckung und Beugung. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt ab 20. 1. 2006 15 vH. Dieselbe Minderung der Erwerbsfähigkeit besteht seit ca einem Jahr nach erfolgter Kreuzbandplastik. In den Folgen der drei Arbeitsunfälle bestehen keine Überschneidungen. Die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit beträgt seit 20. 1. 2006 60 vH.

Mit Bescheid vom 16. 6. 2006 anerkannte die Beklagte den Unfall vom 15. 3. 2001 als Arbeitsunfall und gewährte dem Kläger für die Folgen aller drei Arbeitsunfälle ab 20. 1. 2006 eine Gesamtdauerrente in Höhe von 60 vH der Vollrente sowie eine Zusatzrente und drei Kinderzuschüsse.

Mit der dagegen erhobenen Klage begehrte der Kläger „aufgrund der durch Arbeitsunfälle vom 10. 5. 1994, 19. 5. 1996 und 15. 3. 2001 bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit" die Zuerkennung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß bereits ab 16. 3. 2001. Aufgrund der aus den drei Arbeitsunfällen resultierenden Beschwerden sei die Bemessung der Dauerrente zumindest mit 70 % angemessen. In die Bemessung der Versehrtenrente hätten die gesundheitlichen Folgen des dritten Unfalls schon ab 15. 3. 2001 einbezogen werden müssen. Er habe der Beklagten im April 2001 den Unfall vom 15. 3. 2001 gemeldet. Die Säumnis der Beklagten könne dem Kläger nicht nachteilig sein. Daher werde die Rente aus dem Unfall vom 15. 3. 2001 ab 16. 3. 2001 begehrt.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Sie wendete ein, die Gesamtrente falle erst mit dem Tag der Antragstellung durch den Kläger an. Da sie es unterlassen habe, innerhalb der Zweijahresfrist einen Gesamtrentenbescheid zu erlassen, sei eine neue Gesamtrentenbildung nur noch bei einer wesentlichen Veränderung zulässig.

Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte, dem Kläger für die Folgen der Arbeitsunfälle vom 10. 5. 1994, vom 19. 5. 1996 und vom 15. 3. 2001 ab 20. 1. 2006 eine (jeweils betraglich festgesetzte) Gesamtrente als Dauerrente in Höhe von 60 vH der Vollrente sowie eine Zusatzrente und drei Kinderzuschüsse zu bezahlen. Das Klagemehrbegehren auf Gewährung einer Versehrtenrente für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 15. 3. 2001 bereits ab „16. 1. 2001" bzw einer Gesamtrente für die Folgen der drei Arbeitsunfälle schon ab 16. 3. 2001 bis 19. 1. 2006 sowie einer 60 vH der Vollrente übersteigenden Gesamtrente ab 16. 3. 2001 wies es ab. Es traf die eingangs wiedergegebenen Feststellungen und begründete den klageabweisenden Teil seiner Entscheidung im Wesentlichen damit, dass eine rückwirkende Zuerkennung einer Versehrtenrente für den Arbeitsunfall vom 15. 3. 2001 nicht möglich sei, weil im Zeitpunkt der Antragstellung (20. 1. 2006) die Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht 20 vH erreicht habe. Die Beklagte habe die für die Bildung der Gesamtrente vorgesehene Zweijahresfrist nicht eingehalten. Daher sei die Bildung einer Gesamtrente nur noch bei einer Änderung der Verhältnisse zulässig. Bis zu einer künftigen zulässigen Gesamtrentenfeststellung hätten die Leistungen für die ersten beiden Arbeitsunfälle einerseits und für den dritten Arbeitsunfall andererseits ein eigenes rechtliches Schicksal. Dieses bestehe für den dritten Arbeitsunfall darin, dass eine rückwirkende Zuerkennung einer Versehrtenrente nicht in Betracht komme. Die Gesamtminderung betrage insgesamt nur 60 vH.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers insoweit Folge, als es das Urteil des Erstgerichts in Ansehung der Abweisung des Begehrens auf Gewährung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 15. 3. 2001 ab 16. 5. 2001 bzw einer Gesamtrente im gesetzlichen Ausmaß für die Folgen aller drei Arbeitsunfälle ab 16. 5. 2001 bis 19. 1. 2006 aufhob. Es sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof gegen den Aufhebungsbeschluss zulässig sei. Es führte aus, dass im vorliegenden Verfahren § 210 ASVG in der vor der Neufassung durch die 58. ASVG-Novelle und nach der Aufhebung einer Wortfolge im Absatz 1 durch den Verfassungsgerichtshof geltenden Fassung anzuwenden sei. Nach § 210 Abs 1 ASVG in dieser Fassung habe der Kläger bis zur Feststellung einer auch den dritten Arbeitsunfall umfassenden Gesamtrente für den letzten Arbeitsunfall unabhängig von einer Untergrenze der Minderung der Erwerbsfähigkeit grundsätzlich einen Anspruch auf eine Versehrtenrente neben der Gesamtrente für die zwei früheren Arbeitsunfälle. Die Unfallmeldung des Landeskrankenhauses Steyr sei als Unfallsanzeige im Sinn des § 86 Abs 4 Satz 2 ASVG zu werten. Hinsichtlich des dritten Arbeitsunfalls wäre die Bildung einer Gesamtrente nach Ablauf der hiefür vorgesehenen Frist dann zulässig, wenn in Bezug auf die durch den dritten Arbeitsunfall bewirkten Minderung der Erwerbsfähigkeit eine wesentliche Änderung der Umstände eingetreten wäre. Eine Untergrenze der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 5 vH entspreche der herrschenden Einschätzungspraxis. Zur Beurteilung der Frage, ob beim Kläger eine derartige Änderung der Umstände eingetreten sei, reichten die Feststellungen des Erstgerichts nicht aus. Das Erstgericht werde daher nach geeigneter Beweisergänzung festzustellen haben, wie sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers aus dem dritten Arbeitsunfall von Beginn an entwickelt habe. Sollte diese zunächst höher gewesen und anschließend auf die nunmehr bestehenden 15 vH herabgesunken und dabei eine Veränderung um 5 vH oder mehr eingetreten sein, bestehe kein Hindernis, eine Gesamtrente beginnend mit dem Tag der geänderten Minderung der Erwerbsfähigkeit für den dritten Arbeitsunfall zuzusprechen. Bis zu diesem Zeitpunkt hätten jedoch die Gesamtrentenfeststellung für die beiden früheren Arbeitsunfälle einerseits und die jedenfalls ab 16. 5. 2001 gebührende Versehrtenrente für den dritten Arbeitsunfall andererseits ein jeweils eigenes rechtliches Schicksal. Wenn aufgrund späterer Antragstellung im Weg des § 86 Abs 4 Satz 2 ASVG eine rückwirkende Zuerkennung der Versehrtenrente zu erfolgen habe, bestehe kein Anlass mehr, eine wesentliche Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit erst nach Ablauf von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalls zu berücksichtigen. Die rückwirkende Bildung einer Gesamtrente könne auch vor Ablauf dieser zwei Jahre keinen verpönten Eingriff in die Leistungsansprüche des Versicherten darstellen, wenn wesentlich geänderte Verhältnisse im Sinn des § 183 ASVG vorlägen. Der gesetzliche Auftrag gehe nämlich dahin, die Dauerrente tunlichst bald festzustellen, weshalb die Zweijahresfrist nicht als Regel, sondern als Grenzfall anzusehen sei. Dies gelte auch für die Gesamtrentenfeststellung. Je nach Zeitpunkt des Eintritts einer maßgeblichen Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit werde daher die Bildung einer Gesamtrente schon mit einem Zeitpunkt, der noch innerhalb der Zweijahresfrist nach dem Unfall vom 15. 3. 2001 liege, zulässig sein. Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil zu den Auswirkungen der Rückwirkung nach § 86 Abs 4 Satz 2 ASVG auf die Bildung einer Gesamtrente nach § 210 ASVG oberstgerichtliche Rechtsprechung nicht habe vorgefunden werden können.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diesen Beschluss erhobene, vom Kläger beantwortete Rekurs der Beklagten ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und teilweise berechtigt.

Die Rekurswerberin macht im Wesentlichen geltend, das Berufungsgericht trage dem Erstgericht zu Unrecht die Prüfung des Zuspruchs einer Gesamtrente auf. Fälschlich leite es aus den seiner Meinung nach gegebenen Anspruchsvoraussetzungen des § 86 Abs 4 ASVG ab, dass auch die Voraussetzungen für die Bildung einer Gesamtrente gegeben seien, was das Erstgericht zu Recht verneint habe. Sehe man den „Entschädigungstatbestand" nach § 86 Abs 4 ASVG als rechtsrelevant an, wäre allenfalls ein Anspruch auf eine Versehrtenrente aus dem gemeldeten Unfall vom 15. 3. 2001 zu prüfen; es wären aber nicht rückwirkend im Weg des § 210 ASVG weitere, bereits abgehandelte Versicherungsfälle einzubeziehen.

Hiezu wurde erwogen:

1. § 86 ASVG regelt den Anfall der Leistungen. Dieser setzt voraus, dass das Leistungsverhältnis (der „Leistungsanspruch") entstanden ist (§ 85 Abs 1 ASVG), und bezeichnet den Zeitpunkt, ab dem die sich aus dem Anspruch ergebende Leistung zusteht (10 ObS 30/02p = SSV-NF 16/68 mwN).

1.1. Leistungen aus der Unfallversicherung fallen nicht nach der allgemeinen Regel mit dem Entstehen des Anspruchs (§ 86 Abs 1 ASVG) an. Für diese bestimmt § 86 Abs 4 ASVG in der am Tag des dritten Arbeitsunfalls des Klägers und bis zum Ablauf des 31. 12. 2003 geltenden Fassung:

„(4) Leistungen aus der Unfallversicherung fallen, wenn innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles weder der Anspruch von Amts wegen festgestellt noch ein Antrag auf Feststellung des Anspruches gestellt wurde, mit dem Tag der späteren Antragstellung bzw mit dem Tag der Einleitung des Verfahrens an, das zur Feststellung des Anspruches führt. Wird eine Unfallsanzeige innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles erstattet, so gilt der Zeitpunkt des Einlangens der Unfallanzeige beim Unfallversicherungsträger als Tag der Einleitung des Verfahrens, wenn dem Versicherten zum Zeitpunkt der späteren Antragstellung oder Einleitung des Verfahrens noch ein Anspruch auf Rentenleistungen zusteht. ...."

Der Ausdruck „Unfallsanzeige" wurde durch Art 1 Teil 2 Z 7 zweites SVÄG 2003, BGBl I 2003/145, durch den Ausdruck „Unfallmeldung" ersetzt (entsprechend auch in den §§ 363, 364 und 368 Abs 1 ASVG [Art 1 Teil 2 Z 31 bis 40 zweites SVÄG] vgl RV 310 BlgNR 22. GP 15). Die Änderung ist am 1. 1. 2004 in Kraft getreten (§ 610 Abs 1 Z 1 ASVG). Sie bedeutet inhaltlich keine Änderung der Rechtslage.

1.2. Unter Unfallsanzeigen im Sinn des § 86 Abs 4 ASVG sind nicht nur die Unfallsanzeigen nach § 363 Abs 1 ASVG, sondern alle Mitteilungen zu verstehen, die den Unfallversicherungsträger in die Lage versetzen, ein Feststellungsverfahren einzuleiten (RIS-Justiz RS0083727). Die Beurteilung der Vorinstanzen, dass die am 30. 3. 2001 bei der beklagten Partei eingelangte Unfallmeldung des Landeskrankenhauses Steyr (Blatt 1 des Aktes der beklagten Partei) eine Unfallanzeige im Sinn des § 86 Abs 4 ASVG ist, steht mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in Einklang (vgl RIS-Justiz RS0083732). Daraus gehen nämlich die Personaldaten des Patienten, sein Unternehmen, sein Kranken- und sein Unfallversicherungsträger sowie Zeit, Ort und Hergang des als Arbeitsunfall bezeichneten Unfalls, die diagnostizierten Folgen und die vorgesehene Behandlung hervor (vgl 10 ObS 83/94).

1.3. Die Ausnahmebestimmung des § 86 Abs 4 Satz 2 ASVG setzt voraus, dass dem Versicherten zum Zeitpunkt der späteren Antragstellung noch immer ein Anspruch auf Versehrtenrente zusteht; ein erst neu oder wiederum entstandener Anspruch bildet keine Grundlage für eine rückwirkende Gewährung (10 ObS 191/03s = SSV-NF 17/100).

2. Zutreffend ging das Berufungsgericht davon aus, dass im vorliegenden Verfahren § 210 ASVG nicht idF der 58. ASVG-Novelle, BGBl I 2001/99, anzuwenden ist, weil der letzte Versicherungsfall vor dem 1. 8. 2001 eingetreten ist (§ 593 Abs 3a ASVG; vgl 10 ObS 150/04p = SSV-NF 18/92).

2.1. Maßgeblich ist die Fassung nach Aufhebung einer Wortfolge in § 210 Abs 1 ASVG durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 12. 10. 2000, G 112/98-9, weil der letzte Versicherungsfall nach Inkrafttreten der Aufhebung (12. 11. 2000) und vor dem 1. 8. 2001 eingetreten ist (vgl 10 ObS 150/04p). Demnach gilt für die Entschädigung aus mehreren Versicherungsfällen (Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten):

2.2. Wird ein Versehrter neuerlich durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit geschädigt, so ist die Entschädigung aus diesen mehreren Versicherungsfällen nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 des § 210 ASVG festzustellen, sofern die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit 20 vH - dies ist im vorliegenden Fall unbestritten - erreicht (§ 210 Abs 1 ASVG). Spätestens vom Beginn des dritten Jahres nach dem Eintritt des neuerlichen Versicherungsfalles nach dem ASVG an ist die Rente nach dem Grad der durch alle Versicherungsfälle nach dem ASVG verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit festzustellen (§ 210 Abs 2 ASVG). Solange die Gesamtrente nach der zuletzt genannten Bestimmung nicht festgestellt ist, gebührt dem Versehrten unter den Voraussetzungen des § 210 Abs 1 ASVG eine Rente entsprechend dem Grade der durch die neuerliche Schädigung allein verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit (§ 210 Abs 4 ASVG).

2.3. Zutreffend hat das Berufungsgericht erkannt, dass der Kläger aufgrund dieser Rechtslage neben seiner Gesamtdauerrente aufgrund des ersten und des zweiten Arbeitsunfalls grundsätzlich Anspruch auf eine Versehrtenrente für die Folgen des dritten Arbeitsunfalls hat, wobei es nicht darauf ankommt, dass die aus letzterem resultierende Minderung der Erwerbsfähigkeit das rentenbegründende Mindestmaß von 20 vH (§ 203 Abs 1 ASVG) erreicht, wohl aber, dass die Minderung länger als drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalls

dauert (vgl 10 ObS 207/99k = RIS-Justiz RS0084296 [T5]) und messbar

ist (10 ObS 37/92 = SSV-NF 6/34). Aufgrund der Bestimmung des § 86 Abs 4 Satz 2 ASVG kommt eine rückwirkende Gewährung jedenfalls einer Einzelrente aus dem letzten Arbeitsunfall mit einem Anfall nach Maßgabe des § 204 Abs 3 ASVG in Betracht.

3. Das Gesetz kennt nur einen einzigen Begriff der Versehrtenrente. Diese Rente ist unter den in § 209 Abs 1 ASVG bezeichneten Voraussetzungen als vorläufige Rente, sonst als Dauerrente und entsprechend den Bestimmungen des § 210 ASVG als Gesamtrente festzustellen.

3.1. Wie der Oberste Gerichtshof schon wiederholt ausgesprochen hat (vgl 10 ObS 113/06z mwN; 10 ObS 269/01h = SSV-NF 16/39), liegt dem § 210 Abs 4 ASVG ein dem § 209 Abs 1 ASVG vergleichbarer Zweck zu Grunde. Der Zeitraum von zwei Jahren, während dessen nach § 209 Abs 1 ASVG eine vorläufige Rente gewährt werden kann, dient dazu, die Konsolidierung der Folgen des Unfalls oder der Berufskrankheit abzuwarten. Die Entscheidung über die endgültige Rentenbildung soll erst erfolgen, wenn die Folgen des Unfalls (der Berufskrankheit) in ihren dauernden Auswirkungen endgültig abschätzbar sind. Dann soll die Dauerrente (§ 209 Abs 1 ASVG) bzw - bei mehreren Versicherungsfällen - die Gesamtrente (§ 210 ASVG) festgesetzt werden. Unter Bedachtnahme auf § 209 Abs 1 Satz 2 ASVG, wonach die Versehrtenrente spätestens mit Ablauf des zweijährigen Zeitraums (nach dem Eintritt des Versicherungsfalls) als Dauerrente festzustellen ist, ist § 210 Abs 2 ASVG in der im vorliegenden Verfahren anzuwendenden Fassung (bzw § 210 Abs 1 Satz 2 ASVG idgF) dahin auszulegen, dass die Gesamtrente im Zeitpunkt der Dauerrentenfeststellung für den letzten Arbeitsunfall gebildet werden soll. Bei der Gesamtrente muss es sich immer um eine Dauerrente handeln, wie sich aus § 210 Abs 4 ASVG iVm § 210 Abs 1 ASVG ergibt. Der gesetzliche Auftrag geht dahin, die Dauerrente tunlichst bald festzustellen, weshalb die Zweijahresfrist nicht als Regel, sondern als Grenzfall angesehen werden soll. Das gilt auch für die Gesamtrentenfeststellung (10 ObS 113/06z mwN).

3.2. Hat der Versicherungsträger die zwingende Frist für die Feststellung der Dauerrente (§ 209 Abs 1 Satz 2 ASVG) nicht eingehalten, so tritt die vorläufige Rente mit der Rechtsfolge des § 183 Abs 2 ASVG hinsichtlich der Neufeststellung in die Funktion der Dauerrente (RIS-Justiz RS0084145). § 183 Abs 2 ASVG bestimmt, dass die Rente immer nur in Zeiträumen von mindestens einem Jahr nach der letzten Feststellung neu festgestellt werden kann, wenn zwei Jahre nach Eintritt des Versicherungsfalls abgelaufen sind oder innerhalb dieser Frist die Dauerrente (§ 209 ASVG) festgestellt worden ist. Die Neufeststellung setzt eine Änderung der Verhältnisse (§ 183 Abs 1 ASVG) voraus (10 ObS 113/06z mwN).

3.3. Auch für den Fall der Gewährung einer Gesamtrente hat der Oberste Gerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass bei Versäumung der Zweijahresfrist zur Bildung einer Gesamtrente nach § 210 Abs 1 ASVG die gesonderten Rentenleistungen den Zweijahreszeitraum als Dauerrenten überdauern und die Bildung einer Gesamtrente dann gemäß § 183 ASVG nur noch bei einer Änderung der Verhältnisse zulässig ist (10 ObS 113/06z; RIS-Justiz RS0084362). Daraus ergibt sich, dass innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren der Gewährung der gesonderten Renten für die einzelnen Unfälle insofern provisorischer Charakter zukommt, als durch die Bildung der Gesamtrente in diese Leistungsansprüche des Versicherten auch ohne Änderung der Verhältnisse eingegriffen werden darf, während nach Ablauf dieser Zweijahresfrist die Bildung einer Gesamtrente nur noch bei einer Änderung der Verhältnisse im Sinn des § 183 ASVG zulässig ist (10 ObS 113/06z mwN).

3.4. In der Entscheidung 10 ObS 113/06z wandte der Oberste Gerichtshof den in Punkt 3.3. bezeichneten Rechtssatz auch auf den Fall an, dass der Unfallversicherungsträger zwar während der Zweijahresfrist für die Folgen des letzten Versicherungsfalls eine Versehrtenrente für einen bestimmten Zeitraum in dieser Frist zuerkannt, die Frist für die Bildung einer Gesamtrente für die Folgen aller Versicherungsfälle aber nicht eingehalten hat. Diese Fristversäumnis führte dazu, dass der Zuspruch einer Gesamtrente aus allen Versicherungsfällen scheiterte. Es kam aber aufgrund der Rechtslage (§ 210 Abs 4 ASVG idF BGBl I 2001/99) auch nicht zu einer Einzeldauerrente aus dem letzten Versicherungsfall. Es ist daher festzuhalten, dass die in Punkt 3.3. referierte Rechtsprechung auch dann Anwendung findet, wenn im Zeitpunkt der für die Bildung einer Gesamtrente vorgesehenen Frist eine Versehrtenrente aus dem letzten Versicherungsfall nicht festgesetzt war und die Frist versäumt wurde.

3.5. Die Auffassung des Berufungsgerichts, die auf einen Zeitpunkt vor Ablauf der Frist rückwirkende Bildung einer Gesamtrente könne keinen verpönten Eingriff in die Leistungsansprüche des Versicherten darstellen, wenn wesentlich geänderte Verhältnisse im Sinn des § 183 ASVG vorlägen, kann nicht geteilt werden. Sie übersieht nämlich, dass bei der Umwandlung mehrerer Versehrtenrenten in eine Gesamtrente eine Bindung an die Grundlagen der Berechnung der zuvor gewährten (Einzel-)Renten nicht besteht und bei der Neueinschätzung die der jeweiligen Versehrtenrente entsprechenden Minderungen der Erwerbsfähigkeit nicht einfach zusammenzuzählen sind, sondern zu ermitteln ist, wie sich die verschiedenen Unfallverletzungen in ihrer Gesamtheit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auswirken (RIS-Justiz RS0084383; Tomandl in Tomandl, SV-System, 13. Erg-Lfg 338). Eine Eingriffsmöglichkeit dieser Art soll eben nur innerhalb der Frist zur Bildung der Gesamtrente und danach nur noch bei einer Änderung der Verhältnisse im Sinn des § 183 ASVG gegeben sein.

3.6. Aus dem Vorstehenden folgt, dass eine infolge der Anwendung des § 86 Abs 4 Satz 2 ASVG rückwirkende Einzelentschädigung des letzten Versicherungsfalls, die zwangsläufig nach Ablauf der für die Bildung der Gesamtrente vorgesehenen Frist erfolgt, eine Gesamtrente nur ab einem Zeitpunkt nach dem Ende der Frist nach sich ziehen kann. Hiefür ist eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinn des § 183 ASVG Voraussetzung.

4.1. Für den vorliegenden Fall ergibt sich daraus, dass dem Kläger jedenfalls bis 15. 3. 2003 eine Gesamtrente aus allen drei Unfällen nicht zu gewähren ist, sodass, wie aus dem Spruch ersichtlich, zu entscheiden war.

4.2. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte