OGH 10ObS269/01h

OGH10ObS269/01h14.5.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Komm.Rat Mag. Paul Kunsky (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Gerda Höhrhan-Weiguni (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ljubivoje R*****, Schlosser, ***** vertreten durch Dr. Johannes Patzak, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert Stifter-Straße 65, 1203 Wien, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner und andere, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. April 2001, GZ 7 Rs 72/01m-21, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 19. Dezember 2000, GZ 29 Cgs 120/00z-15, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 19. 2. 1949 geborene Kläger erlitt am 20. 12. 1999 als Schlosser einen Arbeitsunfall, bei dem er sich die Fingerkuppe des rechten Ringfingers abgetrennt hat. Der Kläger war bis 27. 2. 2000 im Krankenstand; ein weiterer unfallkausaler Krankenstand dauerte von 18. 4. bis 24. 5. 2000.

Aus der Verletzung resultiert ein Teilverlust des rechten Ringfingers am peripheren Ende des Mittelgliedes bei noch nicht ganz abgeschlossener Narbenbildung. Durch den inkompletten Heilungsverlauf besteht noch eine vermehrte Berührungsempfindlichkeit des Stumpfes und eine endlagige Bewegungseinschränkung des Mittelgelenks. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers beträgt aus medizinischer Sicht vom Zeitpunkt nach Ende des Krankenstandes, somit vom 28. 2. 2000 an 20 vH und ab 1. 12. 2000 unter 10 vH. Für den Krankenstand vom 18. 4. bis 28. 5. 2000 ist vorübergehend völlige Erwerbsunfähigkeit anzunehmen. Für diesen Zeitraum hat die beklagte Partei dem Kläger neben der Gesamtvergütung gesondert die Differenz zur Vollrente samt Zusatzrente bezahlt.

Bei einem Arbeitsunfall im Jahre 1971 erlitt der Kläger einen Teilverlust des rechten Mittelfingers. Für die Folgen dieses Unfalls bezog der Kläger ebenfalls eine Leistung in Form einer Gesamtvergütung.

Mit Bescheid vom 13. 6. 2000 hat die beklagte Partei den Unfall vom 20. 12. 1999 als Arbeitsunfall anerkannt und dem Kläger auf einer Bemessungsgrundlage von ATS 318.523,92 entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. vom 28. 2. 2000 bis 30. 11. 2000 eine Gesamtvergütung in Höhe von ATS 33.571,84 (EUR 2.439,76) gewährt. Mit der am 14. 7. 2000 eingebrachten Klage begehrt der Kläger - auch unter Hinweis auf den bereits vorhandenen Teilverlust des rechten Mittelfingers aus dem 1971 erlittenen Unfall - erkennbar die Gewährung einer Versehrtenrente als Dauerrente "ab dem Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen". Nachdem der Kläger im Laufe des Gerichtsverfahrens vorgebracht hatte, dass die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit unter Bedachtnahme auch auf die Folgen der Verletzung aus dem Jahre 1971 insgesamt zumindest 20 vH betrage, erkannte das Erstgericht die beklagte Partei mit Urteil vom 19. 12. 2000 (auch Tag des Schlusses der mündlichen Verhandlung in erster Instanz) schuldig, dem Kläger aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls vom 20. 12. 1999 eine Gesamtvergütung entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH vom 28. 2. 2000 bis einschließlich 30. 11. 2000 unter Abzug bereits geleisteter Zahlungen zu gewähren. Das auf Zahlung einer höheren Gesamtvergütung sowie einer Versehrtenrente ab 1. 12. 2000 gerichtete Klagebegehren wurde abgewiesen; das Begehren auf Zuerkennung einer Gesamtrente unter Berücksichtigung eines weiteren Unfalls aus dem Jahre 1971 wurde zurückgewiesen. In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, dass ein klagbarer Anspruch des Versehrten auf Feststellung einer Gesamtrente, über die noch kein Bescheid des Versicherungsträgers ergangen sei, erst nach Ablauf der dem Versicherungsträger dafür eingeräumten zweijährigen Frist entstehe. Eine Säumigkeit des Versicherungsträgers könne sich im Einzelfall sowohl zugunsten des Versicherten als auch zu seinem Nachteil auswirken. Im letzteren Fall stehe dem Versicherten, wenn die Entscheidung des Versicherten ausbleibe, auch eine Säumnisklage offen. Für ein Begehren, dem kein Bescheid zugrunde liege, das aber auch nicht als Säumnisklage aufgefasst werden könne, stehe der Rechtsweg nicht offen. Die Entschädigung des Klägers für die Folgen seines Unfalls vom 20. 12. 1999 sei daher bis zur Feststellung der Gesamtrente oder bis zum Ablauf der dafür offen stehenden Frist nach der durch diesen Unfall allein bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit zu bemessen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und hob das Ersturteil zur Verfahrensergänzung auf. Dann, wenn der Kläger die Bildung einer Gesamtrente für zwei Unfälle begehre oder die beklagte Partei eine entsprechende Einwendung erhebe, gehe die Entscheidung über die Gewährung einer Gesamtrente auf das Gericht über. Der Umstand, dass der Versicherungsträger über die Bildung einer Gesamtrente noch gar nicht abgesprochen habe, stehe der Entscheidung des Gerichts über eine Gesamtrente grundsätzlich nicht entgegen, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen hiefür erfüllt seien. Wenn das Begehren auf Gewährung einer Gesamtrente vor Ablauf der Zweijahresfrist gestellt worden sei, bedürfe es der - hier fehlenden - Feststellung, ob bereits eine Konsolidierung der Unfallfolgen eingetreten sei. Da weder über die Verletzung 1971 bzw die bescheidmäßige Erledigung Feststellungen vorhanden seien, liege ein sekundärer Feststellungsmangel vor, der die abschließende rechtliche Beurteilung einer allfälligen Gesamtrente für den Kläger hindere, sodass mit einer Aufhebung vorzugehen sei, um die Gesamtsituation auch mit den Parteien zu erörtern.

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil „die gegenständliche Fallkonstellation - soweit überblickbar - insbesondere auch unter Miteinbeziehung der Wiedererkrankungsentschädigung und sohin Gesamtabfindung noch nicht Gegenstand der höchstgerichtlichen Judikatur gewesen sei."

Dagegen richtet sich der Rekurs der beklagten Partei aus dem Rekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Beschlusses des Berufungsgerichts und Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung. Die klagende Partei beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist nicht berechtigt.

Nach § 203 Abs 1 ASVG hat ein Versicherter Anspruch auf Versehrtenrente, wenn seine Erwerbsfähigkeit durch die Folgen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 vH vermindert ist. Die Versehrtenrente gebührt für die Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 vH. Kann die Versehrtenrente während der ersten zwei Jahre nach dem Eintritt des Versicherungsfalles wegen der noch nicht absehbaren Entwicklung der Folgen des Arbeitsunfalls oder der Berufskrankheit ihrer Höhe nach noch nicht als Dauerrente festgestellt werden, so hat die Versicherungsanstalt die Versehrtenrente gemäß § 209 Abs 1 ASVG als vorläufige Rente zu gewähren. Spätestens mit Ablauf des zweijährigen Zeitraumes ist die Versehrtenrente als Dauerrente festzustellen; diese Feststellung setzt eine Änderung der Verhältnisse (§ 183 Abs 1 ASVG) nicht voraus und ist an die Grundlagen für die Berechnung der vorläufigen Rente nicht gebunden. Ist zu erwarten, dass nur eine vorläufige Versehrtenrente zu gewähren ist, so kann die Versicherungsanstalt den Versehrten gemäß § 209 Abs 2 ASVG durch eine Gesamtvergütung in der Höhe des voraussichtlichen Rentenaufwandes abfinden. Nach Ablauf des dieser Vergütung zugrunde gelegten Zeitraumes ist auf Antrag unter den Voraussetzungen des § 203 ASVG die entsprechende Versehrtenrente zu gewähren, und zwar ab dem auf den Ablauf dieses Zeitraumes folgenden Tag, wenn der Antrag innerhalb von zwei Jahren gestellt wird, ansonsten ab dem Tag der Antragstellung.

Wird ein Versehrter neuerlich durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit geschädigt und erreicht die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit 20 vH, so ist spätestens vom Beginn des dritten Jahres nach dem Eintritt des letzten Versicherungsfalles an eine Gesamtrente festzustellen. Eine abgefundene Versehrtenrente ist bei der Bildung der Gesamtrente so zu berücksichtigen, dass die Gesamtrente um den Betrag gekürzt wird, der dem Grad der der abgefundenen Rente zugrunde gelegten Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht (§ 210 Abs 1 ASVG idF der 58. ASVG-Novelle, BGBl I 2001/99, in Kraft seit 1. 8. 2001). Solange die Gesamtrente nicht festgestellt ist, gebührt dem Versehrten unter den Voraussetzungen des § 210 Abs 1 ASVG eine Rente entsprechend dem Grad der durch die letzte Schädigung allein verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit (§ 210 Abs 4 ASVG).

Der Kläger leitet im gegenständlichen Verfahren einen Anspruch auf Versehrtenrente erkennbar zum einen daraus ab, dass eine dauernde Minderung der Erwerbsfähigkeit aus dem Arbeitsunfall vom 20. 12. 1999 im rentenbegründenden Ausmaß vorliegt, und zum anderen daraus, dass gemäß § 210 ASVG sowohl die Folgen der Verletzung aus dem Jahr 1971 als auch diejenigen aus dem Arbeitsunfall vom 20. 12. 1999 in die Bildung einer Gesamtrente einfließen müssen.

Der Oberste Gerichtshof hat in der in SSV-NF 9/61 veröffentlichten Entscheidung näher begründet, dass die Ausdehnung des Klagebegehrens auf Berücksichtigung eines weiteren Arbeitsunfalls für die Berechnung der Gesamtrente auch dann ohne Zustimmung der beklagten Partei zulässig ist, wenn der Versicherungsträger darüber, wie sich dieser Arbeitsunfall auf die Gesamtrente auswirkt, noch keinen Bescheid erlassen hat (vgl auch SSV-NF 3/128). Der Kläger durfte daher sein ursprünglich auf die Gewährung einer Versehrtenrente für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 20. 12. 1999 gestütztes Klagebegehren auf die Gewährung einer Gesamt(dauer)rente für die Folgen der beiden Arbeitsunfälle aus 1971 und vom 20. 12. 1999 ausdehnen. In diesem Sinn ist auch sein weit gefasstes Klagebegehren zu verstehen. Mit seinem Vorbringen hat der Kläger im Zusammenhang mit dem Erfordernis der Bildung einer Gesamtrente nach dem Unfall vom 19. 12. 1999 auch den früheren Unfall aus dem Jahr 1971 zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.

Wie vom Obersten Gerichtshof bereits mehrfach dargelegt wurde (vgl SSV-NF 7/117 mwN, 10 ObS 207/99k ua), liegt dem § 210 Abs 4 ASVG ein dem § 209 Abs 1 ASVG vergleichbarer Zweck zugrunde. Der Zeitraum von zwei Jahren, während dessen nach § 209 Abs 1 ASVG eine vorläufige Rente gewährt werden kann bzw während dessen nach § 210 Abs 4 ASVG die Rente aufgrund des neuerlichen Unfalls gesondert zu gewähren ist, dient dazu, die Konsolidierung der Unfallfolgen abzuwarten. Die Entscheidung über die endgültige Rentenleistung soll erst erfolgen, wenn die Folgen des Unfalls in ihren dauernden Auswirkungen endgültig abschätzbar sind. Dann soll die Dauerrente (§ 209 Abs 1 ASVG) bzw - bei mehreren Unfällen - die Gesamtrente (§ 210 ASVG) festgesetzt werden. Aus § 210 Abs 4 iVm § 210 Abs 1 ASVG ergibt sich, dass es sich bei der Gesamtrente immer um eine Dauerrente handeln muss (ebenso bereits OLG Wien SSV 22/56).

Unter Bedachtnahme auf § 209 Abs 1 Satz 2 ASVG, nach dem die Versehrtenrente spätestens mit Ablauf des zweijährigen Zeitraumes (nach dem Eintritt des Versicherungsfalles) als Dauerrente festzustellen ist, legte der erkennende Senat in der Entscheidung SSV-NF 3/24 § 210 Abs 1 Satz 1 ASVG (idF BGBl I 2001/99) so aus, dass die Gesamtrente im Zeitpunkt der Dauerrentenfeststellung für den letzten Arbeitsunfall gebildet werden soll. Der gesetzliche Auftrag geht dahin, die Dauerrente tunlichst bald festzustellen, weshalb die Zweijahresfrist nicht als Regel, sondern als Grenzfall angesehen werden soll. Das gilt auch für die Gesamtrentenfeststellung (SSV-NF 9/61; ebenso Leitner, Probleme bei der Anwendung des § 210 ASVG, SozSi 1961, 129 [135]; Tomandl, SV-System 13. Erg-Lfg 338). Auch die Entscheidungsbefugnis des im Rahmen der sukzessiven Kompetenz zuständig gewordenen Gerichts umfasst die Frage, ob bzw ab welchem Zeitpunkt eine Gesamtrente zuzuerkennen ist. Das Gericht ist also nicht darauf beschränkt, über die Gesamtrentenfeststellung erst ab dem Zeitpunkt des Ablaufes der Zweijahresfrist abzusprechen, sondern kann, sofern die Konsolidierung der Unfallfolgen schon zu einem davor liegenden Zeitpunkt eingetreten war, bereits ab diesem Zeitpunkt eine Gesamtrente zuerkennen (SSV-NF 3/24). In diesem Sinn kann die Ansicht der beklagten Partei nicht geteilt werden, dass der Kläger die von ihm im Gerichtsverfahren auch erkennbar begehrte Gesamtrente zunächst beim Versicherungsträger zu beantragen gehabt hätte.

Zutreffend hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass den Feststellungen des Erstgerichts nicht entnommen werden kann, ob bzw wann bereits eine Konsolidierung der Folgen auch des zweiten Unfalls eingetreten ist, sodass eine Gesamt(dauer)rente unter Einbeziehung der Folgen des Vorunfalls aus 1971 bereits vor Ablauf der zweijährigen Frist des § 209 Abs 1 und des § 210 Abs 1 ASVG festgestellt werden könnte. Insofern erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig.

Auch der Umstand, dass § 209 Abs 2 ASVG einen Antrag voraussetzt, steht dieser Vorgangsweise nicht entgegen. Der Kläger hat durch die Klagserhebung den Bescheid, mit dem ihm für die Folgen des Unfalls vom 20. 12. 1999 eine Gesamtvergütung gewährt wurde, außer Kraft gesetzt. Das Erfordernis einer Antragstellung nach § 209 Abs 2 ASVG stellt sich aber nur dann, wenn eine Gesamtvergütung schon rechtskräftig zuerkannt wurde (ebenso bereits OLG Wien SSV 17/51), was hier nicht der Fall ist, weil der Kläger im gerichtlichen Verfahren anstelle der Gesamtvergütung erkennbar die Gewährung einer Dauerrente (allenfalls in Form einer Gesamtdauerrente) angestrebt hat.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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