OGH 10ObS191/03s

OGH10ObS191/03s16.9.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Friedrich Heim (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Schönhofer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Josef M*****, Gendarmeriebeamter, ***** vertreten durch Rechtsanwälte OEG Dr. Kostelka-Reimer & Dr. Fassl, Wien, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Josefstädter Straße 80, 1080 Wien, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen Versehrtenrente, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10. April 2003, GZ 7 Rs 36/03y-30, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 19. November 2002, GZ 37 Cgs 267/01t-24, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 8. 1. 1944 geborene Kläger, ein Gendarmeriebeamter, erlitt am 4. 3. 1976 bei Ausübung des Dienstsports Schifahren einen Dienstunfall, bei dem er sich neben einer Teilverrenkung des rechten Schultergelenks einen vorerst nicht festgestellten Kompressionsbruch des 10. Brustwirbelkörpers zuzog. Er war nach dem Unfall im Krankenstand und trat den Dienst am 12. 3. 1976 wieder an. Die Unfallanzeige langte bei der beklagten Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter am 11. 3. 1976 ein.

Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers aus dem Dienstunfall vom 4. 3. 1976 ist mit insgesamt 25 vH auf die Dauer von neun Monaten ab dem Unfall einzustufen. Der Kläger litt zunächst ein halbes Jahr ständig und dann intermittierend an Beschwerden in der Brustbeinregion, die fälschlicherweise der erlittenen Teilverrenkung des rechten Schultergelenks zugeordnet wurden. Über die Jahre hat der Kläger gearbeitet und Sport betrieben, er ist Schi gefahren, hat Schikurse absolviert und Gymnastik gemacht, wobei nach 1990 gelegentlich Brustkorbbeschwerden auftraten. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lag nach den neun Monaten keine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mehr als 10 vH mehr vor.

Am 9. 2. 1999 hat der Kläger in Ausübung des Dienstsports einen weiteren Dienstunfall erlitten, bei dem er sich eine Prellung der Lendenwirbelsäule zugezogen hat. Daraus resultierte eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von (zumindest) 20 vH bis 30. 11. 1999. In dem wegen des Dienstunfalls vom 9. 2. 1999 geführten Sozialgerichtsverfahren stellte sich heraus, dass der Kläger bei dem Dienstunfall vom 4. 3. 1976 auch einen Bruch des 10. Brustwirbelkörpers erlitten hat. Daraufhin stellte der Kläger am 11. 8. 2000 bei der beklagten Partei den Antrag auf Gewährung einer Versehrtenrente zur Abgeltung der Folgen des Dienstunfalls vom 4. 3. 1976. Zu diesem Zeitpunkt (11. 8. 2000) betrug die durch den Unfall vom 4. 3. 1976 bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit - ebenso wie am 1. 12. 1999 - 5 vH.

Die beklagte Partei ging nach Einlangen des Antrags auf Gewährung einer Versehrtenrente von einer auf den Dienstunfall vom 4. 3. 1976 zurückzuführenden Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH aus und sprach dem Kläger mit Bescheid vom 15.11.2000 eine Dauerrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente ab 11. 8. 2000 zu. Die monatliche Höhe wurde mit 166,36 EUR festgesetzt.

Das Erstgericht wies das auf Zuerkennung einer Versehrtenrente für die Zeit vom 4. 3. 1976 bis 10. 8. 2000 sowie einer höheren Versehrtenrente (als bescheidmäßig zugesprochen) ab 11. 8. 2000 gerichtete Klagebegehren ab.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil mit der Maßgabe, dass es den bescheidmäßig erfolgten Zuspruch einer Versehrtenrente von 20 vH der Vollrente in Höhe von monatlich 166,36 EUR ab 11. 8. 2000 in den Urteilsspruch aufnahm. In seiner rechtlichen Beurteilung verwies das Berufungsgericht auf § 32 Abs 3 B-KUVG (§ 86 Abs 4 ASVG), wonach Leistungen aus der Unfallversicherung dann, wenn innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalls weder der Anspruch von Amts wegen festgestellt noch ein Antrag auf Feststellung des Anspruchs gestellt worden sei, mit dem Tag der späteren Antragstellung bzw mit dem Tag der Einleitung des Verfahrens anfallen, das zur Feststellung des Anspruchs führe. Wenn eine Unfallanzeige innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalls erstattet werde, gelte der Zeitpunkt des Einlangens der Unfallanzeige beim Unfallversicherungsträger als Tag der Einleitung des Verfahrens, wenn dem Versicherten zum Zeitpunkt der späteren Antragstellung oder Einleitung des Verfahrens noch ein Anspruch zustehe. Der letzte Teil der identen Bestimmung des ASVG sei mit der 50. ASVG-Novelle eingefügt worden. Nach den Gesetzesmaterialien sei damit das Vermeiden von Härtefällen beabsichtigt gewesen. Um aber zu verhindern, dass Jahre oder Jahrzehnte später noch Ansprüche auf kurzfristige Leistungen (zB Familien- und Taggeld, Gesamtvergütung) gestellt werden können, solle der rückwirkende Leistungsanfall nur dann eintreten, wenn zum Zeitpunkt der späteren Feststellung dem Versicherten noch ein Anspruch auf Versehrtenrente zustehe. Nach Ansicht des Berufungsgerichts verlange die rückwirkende Gewährung der Versehrtenrente einen seit dem Unfall fortdauernden Rentenanspruch ("noch ein Rentenanspruch") und nicht nur einen zum Zeitpunkt der späteren Antragstellung entstandenen, zumal die Intention der Bestimmung in der Berücksichtigung übersehener, aber noch immer rentenbegründender Unfallfolgen, nicht aber in der Gewährung kurzfristiger Leistungen für die Vergangenheit liege. Dazu komme, dass der Kläger nach dem Ergebnis des gerichtlichen Verfahrens keine rentenbegründende Minderung der Erwerbsfähigkeit aufweise.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil der Oberste Gerichtshof bislang nicht mit der Frage der rückwirkenden Rentengewährung in der vorliegenden Variante befasst gewesen sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Die Revision ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der Kläger greift in seinen Revisionsausführungen mehrmals den Standpunkt auf, aus dem Umstand, dass ihm mit Bescheid vom 15. 11. 2000 ab 11. 8. 2000 unwiderruflich eine Versehrtenrente zuerkannt worden sei, sei ein rückwirkender Rentenanspruch "für die Zeit unmittelbar nach dem Dienstunfall" abzuleiten, weil es nach dem klaren Wortlaut des § 32 Abs 3 B-KUVG nur auf einen aktuellen Anspruch ankomme, damit die Fiktion der früheren Antragstellung mit Einlangen der Unfallanzeige wirksam werde. Das Wort "noch" beziehe sich darauf, das im Zeitpunkt der Antragstellung eben ein aktueller Anspruch zustehen müsse (im Gegensatz zu in der Vergangenheit liegenden, ansonsten "verjährten" Ansprüchen); damit solle bloß eine "unkontrollierbare Erstreckung der Antragsfrist" verhindert werden. Somit habe der Kläger zumindest Anspruch auf eine Versehrtenrente im Ausmaß von 25 vH der Vollrente für die Dauer von neun Monaten nach dem Dienstunfall vom 4. 3. 1976. Überdies entspreche die Gewährung einer Versehrtenrente im monatlichen Betrag von 166,36 Euro nicht zur Gänze dem Gesetz. Vielmehr müsse ein Zuspruch "im gesetzlichen Ausmaß" erfolgen, da der Kläger sonst um die Möglichkeit der gesetzlichen Aufwertung seiner Versehrtenrente gebracht werde.

Diese Ausführungen vermögen in keiner Richtung zu überzeugen.

Nach den parallelen Regelungen in § 86 Abs 4 Satz 1 ASVG und § 32 Abs 3 Satz 1 B-KUVG fallen Leistungen aus der Unfallversicherung dann, wenn innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalls weder der Anspruch von Amts wegen festgestellt noch ein Antrag auf Feststellung des Anspruchs gestellt wurde, mit dem Tag der späteren Antragstellung bzw mit dem Tag der Einleitung des Verfahrens an, das zur Feststellung des Anspruchs führt. Mit der 50. Novelle zum ASVG (BGBl 1991/676) bzw der 21. Novelle zum B-KUVG (BGBl 1991/679) wurde nach § 86 Abs 4 erster Satz ASVG bzw nach § 32 Abs 3 erster Satz B-KUVG folgender Satz eingefügt, auf den nun der Kläger seinen Anspruch stützt:

"Wird eine Unfallsanzeige innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles erstattet, so gilt der Zeitpunkt des Einlangens der Unfallsanzeige beim Unfallversicherungsträger als Tag der Einleitung des Verfahrens, wenn dem Versicherten zum Zeitpunkt der späteren Antragstellung oder Einleitung des Verfahrens noch ein Anspruch auf Rentenleistungen zusteht."

In den Gesetzesmaterialien (RV 284 BlgNR 18. GP 26; RV 287 BlgNR 18 GP 8) wird die Änderung folgendermaßen begründet: "Die vorgeschlagene Änderung geht auf eine Anregung der Volksanwaltschaft zurück. Sie hat jene Fälle im Auge, in denen trotz einer Unfallsanzeige ein Verfahren zur Feststellung einer Leistung weder auf Antrag noch von Amts wegen eingeleitet wurde. Eine amtswegige Einleitung erfolgt(e) in diesen Fällen nicht, weil aus der Unfallsanzeige für den Versicherungsträger wesentliche Unfallfolgen nicht erkennbar waren. Dass ein schädigendes Ereignis tatsächlich eingetreten ist, war für den Versicherungsträger erst zu einem viel späteren Zeitpunkt feststellbar. Trotz eines positiven Verlaufes des Verfahrens zur Feststellung einer Leistung aus der Unfallversicherung kann der Unfallversicherungsträger in solchen Fällen auf Grund der derzeitigen Regelung des § 86 Abs 4 ASVG die Leistungen nicht rückwirkend mit dem Eintritt des Versicherungsfalles, sondern nur zwei Jahre zurück zuerkennen. Die vorgeschlagene Änderung hat zum Ziel, Härtefälle dieser Art zu vermeiden, indem sie festlegt, dass der Zeitpunkt des Einlangens der Unfallsanzeige beim Unfallversicherungsträger als Tag der Einleitung des Verfahrens gilt, wenn eine Unfallsanzeige innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles erstattet worden ist. Um zu vermeiden, dass Jahre oder Jahrzehnte später auch noch Ansprüche auf kurzfristige Leistungen (zB Familien-, Taggeld, Gesamtvergütung) gestellt werden können, soll der rückwirkende Leistungsanfall nur dann eintreten, wenn zum Zeitpunkt der späteren Feststellung dem Versicherten noch ein Anspruch auf Versehrtenrente zusteht."

§ 86 Abs 4 Satz 2 ASVG bzw § 32 Abs 3 Satz 2 B-KUVG stellt eine Ausnahme zu § 86 Abs 4 Satz 1 ASVG bzw § 32 Abs 3 Satz 1 B-KUVG dar; in einer Sonderkonstellation soll die Möglichkeit bestehen, dass ein Anspruch schon vor Antragstellung anfällt, obwohl innerhalb der ersten zwei Jahre nach Eintritt des Versicherungsfalls weder der Leistungsanspruch von Amts wegen festgestellt noch ein Antrag auf Feststellung des Anspruchs gestellt wurde. Nach dem Gesetzeswortlaut ist für die Anwendbarkeit der Ausnahmeregelung erforderlich, dass dem Versicherten zum Zeitpunkt der späteren Antragstellung noch ein Anspruch auf Rentenleistungen zustehen. Käme es - wie der Kläger meint - nicht auf einen ununterbrochen aufrechten Anspruch an, sondern auf einen bloß aktuell vorhandenen Anspruch (zB aufgrund einer Verschlimmerung iSd § 183 Abs 1 ASVG bzw § 94 Abs 1 B-KUVG), hätte der Gesetzgeber das Wort "noch" in der Textierung weglassen müssen. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, spricht gerade die Verwendung dieses Worts dafür, dass ein erst neu (oder wiederum) entstandener Anspruch eine rückwirkende Gewährung nicht zulässt. Insoweit besteht völlige Deckung mit den Gesetzesmaterialien; die vom Kläger in den Raum gestellte Divergenz zwischen Gesetzeswortlaut und Gesetzesmaterialien ist nicht erkennbar. Die weiters vom Kläger angedachte Möglichkeit, es könnte ihm eine Versehrtenrente "zumindest ... für die Dauer von neun Monaten nach dem Dienstunfall vom 4. 3. 1976" zustehen, ist mit dem Gesetzeswortlaut und den Gesetzeszielen gänzlich unvereinbar, müsste es dann doch heißen, dass dem Versicherten "wieder" ein Anspruch auf Rentenleistungen zusteht. Das Wort "noch" in § 86 Abs 4 Satz 2 ASVG bzw § 32 Abs 3 Satz 2 B-KUVG ist daher im Sinn von "noch immer" zu verstehen, wie es auch die Gesetzesmaterialien klar zum Ausdruck bringen, nach denen nur ein Anspruch auf eine langfristige Leistung den Ausnahmefall rechtfertigen kann, nicht aber eine kurzfristige Leistung (Familiengeld, Taggeld, Gesamtvergütung), die bereits vor dem Tag der späteren Antragstellung ausgelaufen ist. In diesem Sinn verneint auch Püringer (50. ASVG-Novelle, SozSi 1992, 419 [424]) einen Anspruch auf Leistungen, die nur relativ kurzfristig, nämlich bis zur ausreichenden Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit gebührt hätten.

Die Ansicht des Klägers, dem Gericht sei ein betragsmäßig bestimmter Zuspruch einer Versehrtenrente verwehrt, damit der Versicherte nicht um die Möglichkeit der gesetzlichen Aufwertung seiner Versehrtenrente gebracht werde, lässt § 89 Abs 2 ASGG außer Acht, wonach das Gericht nur ausnahmsweise (wenn das Klagebegehren dem Grund und der Höhe nach bestritten ist) den Rechtsstreit dadurch erledigen kann, dass es das Klagebegehren als dem Grund nach zu Recht bestehend erkennt und dem Versicherungsträger bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides die Erbringung einer vorläufigen Zahlung auferlegt. In diesem Ausnahmefall ist die Festsetzung der Höhe der Leistung einem Bescheid vorbehalten, der vom Versicherungsträger erlassen werden muss (Kuderna, ASGG2 § 89 Anm 7). Im Regelfall ist die Höhe der Leistung schon im Urteil betragsmäßig festzusetzen (Kuderna, ASGG2 § 89 Anm 4).

Abgesehen davon, dass nicht erkennbar ist, dass für die Anpassung der Rentenhöhe (§ 93 Abs 4 B-KUVG) ein Unterschied zwischen urteilsmäßiger und bescheidmäßiger Festlegung der Höhe bestehen soll, konnte das Gericht - da auch der Kläger "qualifiziert vertreten" war (§ 87 Abs 3 ASGG) - iSd § 267 ZPO davon ausgehen, dass die Leistungshöhe in der im Bescheid vom 15. 11. 2000 festgelegten Höhe unstrittig ist, hat doch der Kläger in keiner Phase des langen Verfahrens die betragsmäßige Höhe der Leistung in irgendeiner Weise thematisiert. Das Gericht war daher verpflichtet, bereits im Urteil die Höhe der Leistung betragsmäßig festzulegen.

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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