OGH 7Ob35/01z

OGH7Ob35/01z27.4.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schalich als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Schaumüller, Dr. Hoch und Dr. Kalivoda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Liselotte W*****, vertreten durch Prof. Dr. Alfred Haslinger und andere Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei M***** AG, *****, vertreten durch Dr. Hans-Peter Benischke und Dr. Edwin Anton Bayr, Rechtsanwälte in Graz, wegen Feststellung (Streitwert S 300.000,--), über die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht vom 19. Dezember 2000, GZ 4 R 218/00g-16, womit das Urteil des Landesgerichtes Linz vom 20. Juni 2000, GZ 1 Cg 161/98m-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:

"Zwischen den Streitteilen wird festgestellt, dass die beklagte Partei der Klägerin für die gegen sie vom mj. Andreas H***** erhobenen Ersatzansprüche im Zusammenhang mit der Verletzung des Genannten am 18. Jänner 1997 am linken Auge haftpflichtig ist, und zwar nach Maßgabe des zwischen der Klägerin und der beklagten Partei zur Pol.Nr. 3.218.325 abgeschlossenen und am 18. Jänner 1997 bestandenen Versicherungsvertrages; die Beklagte haftet bis zu einem Betrag von S 10 Mio."

Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin die in allen Instanzen mit insgesamt S 94.986,20 (darin enthalten S 10.707,70 USt und S 30.740,-- Barauslagen) bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin, eine Trafikantin, die bei der beklagten Partei einen Betriebshaftpflichtversicherungsvertrag abgeschlossen hat, dem die AHVB 1993 und EHVB 1993 zugrunde liegen, verkaufte am 18. 1. 1997 dem damals 10-jährigen, noch kindlich, klein und zierlich wirkenden Andreas H***** 50 Stück Miniraketen und ein Feuerzeug. Miniraketen sind Feuerwerks-Scherzartikel, die an Personen unter 14 Jahren gemäß § 15 Abs 5 OÖ Jugendschutzgesetz 1988 nicht abgegeben werden dürfen. Andreas H***** und sein etwa gleich alter und etwa gleich großer Freund waren beim Kauf die einzigen Kunden in der Trafik. Als sie diese wieder verließen, entfernten sich auch zwei Erwachsene, die vor der Trafik gestanden waren. Objektive Anhaltspunkte dafür, dass sich die Buben in Gesellschaft dieser Erwachsenen befunden hätten, lagen nicht vor. Die beiden Buben steckten die gekauften Feuerwerkraketen auf einem nahegelegenen Acker in den Schnee, um sie abwechselnd starten zu lassen. Sie wussten, dass dabei Vorsicht geboten war, und liefen nach dem Anzünden jeweils hinter einen rund 1 1/2 m entfernten Zaun, um dort Schutz zu suchen. Andreas H***** vermutete, dass eine von seinem Freund gezündete Rakete bereits abgehoben hätte und schaute zunächst gegen den Himmel. Als er wieder nach unten blickte, stieß die Rakete gegen sein linkes Auge, das daraufhin erblindete.

In dem von Andreas H***** gegen die Klägerin beim Bezirksgericht Linz angestrengten Verfahren 32 C 1033/98x wurde rechtskräftig festgestellt, dass die Klägerin (dort Beklagte) dem Minderjährigen für alle Schäden aus dem Vorfall vom 18. 1. 1997 ersatzpflichtig ist (bestätigt zu 10 Ob 79/00s = ZVR 2001/5).

Im vorliegenden Deckungsprozess begehrt die Klägerin gegenüber der beklagten Partei die Feststellung der Versicherungsdeckung für den betreffenden Vorfall bis zur Versicherungssumme von S 10 Mio.

Die beklagte Partei beantragte die Klage abzuweisen. Sie sei im Hinblick auf den Verstoß der Klägerin gegen § 15 Abs 5 OÖ Jugendschutzgesetz gemäß Punkt 3 des Abschnitts A der Ergänzenden Allgemeinen Bedingungen für die Haftpflichtversicherung (EHVB) 1993 leistungsfrei.

Das Erstgericht erachtete diesen Einwand der Beklagten als zutreffend und wies das Klagebegehren ab.

Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung der ersten Instanz, wobei es aussprach, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands S 260.000,-- übersteige und die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil nur eine Versicherungsklausel auf den Einzelfall anzuwenden gewesen sei. Die hiebei relevante Abgrenzung zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit sei stark einzelfallbezogen und stelle die Qualifikation des § 502 Abs 1 ZPO ebensowenig her wie der Umstand, dass der Oberste Gerichtshof in seiner Judikatur zum Versicherungsrecht noch keinen vollkommen gleichgelagerten Sachverhalt zu beurteilen gehabt habe (Einzelfallgerechtigkeit).

Die Revision der Klägerin ist entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichtes zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Nach Abschnitt A, Punkt 3 der dem klagsgegenständlichen Versicherungsvertrag (ua) zugrundeliegenden EHVB 1993 ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt wurde und bewusst ... den für den versicherten Betrieb oder Beruf geltenden Gesetzen, Verordnungen oder behördlichen Vorschriften zuwidergehandelt wurde. Ob bewusstes Zuwiderhandeln im Sinn der zitierten Bestimmung vorliegt, ist eine - vom Versicherer zu beweisende - irreversible

Tatfrage (7 Ob 5/90 = SZ 63/38 = VersRdSch 1990, 348 = VersR 1990,

1415; 7 Ob 13/92 = VersR 1993, 1427; vgl RIS-Justiz RS0073001;

RS0052282), die hier von den Vorinstanzen zum Nachteil der Klägerin beantwortet wurde. Strittig ist im Revisionsstadium nur noch, ob die Klägerin den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt hat.

Das Berufungsgericht hat diese Frage bejaht und der Klägerin in diesem Zusammenhang eingeräumt, dass Erblindungen als Folge von Unfällen mit sog. Miniraketen nur (sehr) selten vorkommen. Eine geringe Schadenseintrittswahr- scheinlichkeit sei aber dann kein Argument gegen grobe Fahrlässigkeit iSd § 1324 ABGB, wenn es nur minimaler Anstrengungen des Schädigers bedurft hätte, sich rechtmäßig zu verhalten. Hier hätte die Klägerin nur den Verkauf der Miniraketen an den 10-jährigen mit der Belehrung verweigern müssen, dass nur ein Elternteil bzw einer der vor der Trafik stehenden Erwachsenen, die sie - wie sie auch noch im Berufungsverfahren behaupte - für auf die Kinder wartende Bezugspersonen gehalten habe, den Kauf legal tätigen könne. Eine bewusste Gesetzesübertretung, obwohl gesetzmäßiges Verhalten nur minimale Anstrengungen erfordert hätte, ergebe trotz geringer Schadenseintrittswahrscheinlichkeit grobe Fahrlässigkeit.

Dem hält die Revisionswerberin in ihrer Zulassungsbeschwerde im Wesentlichen entgegen, dass nach ständiger oberstgerichtlicher Rechtsprechung wesentliches Merkmal auffallender Sorglosigkeit iSd § 1324 ABGB die Voraussehbarkeit des Schadens sei; der Oberste Gerichtshof habe (in einer Strafsache) den "Grundsatz der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit" angewandt. Insofern sei dem Berufungsgericht bei der Auslegung der anzuwendenden Rechtsnorm ein grober Fehler unterlaufen, der - auch wenn es nur um Einzelfallgerechtigkeit gehe - im Interesse der Rechtssicherheit korrigiert werden müsse. Die Revision sei aber auch deshalb zulässig, weil oberstgerichtliche Judikatur zur Bestimmung des Punktes 3 Abschnitt A EHVB 1993 (und zur gleichlautenden Bestimmung der EHVB 1986) noch fehle. Von der Vorgängerbestimmung des Punktes 3 Abschnitt A EHVB 1978, zu der umfassende höchstgerichtliche Judikatur existiere, unterscheide sich die anzuwendende Regelung der EHVB 1993 dadurch, dass sie die Leistungsfreiheit bei bewusster Verletzung einschlägiger Vorschriften auf grobe Fahrlässigkeit hinsichtlich des eingetretenen Erfolgs beschränke.

Dies ist zwar zutreffend, bedeutet aber nichts weiter, als dass hinsichtlich der gegenständlich anzuwendenden Bestimmung der EHVB 1993 auch noch beurteilt werden muss, ob der Versicherte den schädlichen Erfolg im Sinne des § 61 VersVG grob fahrlässig herbeigeführt hat.

Grobe Fahrlässigkeit ist im Bereich des Vertragsversicherungsrechtes dann gegeben, wenn schon einfachste naheliegende Überlegungen nicht angestellt und Maßnahmen nicht ergriffen werden, die jedermann einleuchten müssen (VR 1994, 315; RIS-Justiz RS0080371 uva). Nach stRsp stellt grobe Fahrlässigkeit also eine auffallende Sorglosigkeit dar, bei der die gebotene Sorgfalt nach den Umständen des Falles in ungewöhnlichem Maße verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen ist. Sie ist gegeben, wenn ein objektiv besonders schwerer Verstoß auch subjektiv schwerstens anzulasten ist (RIS-Justiz RS0031127 mzwN). Die Schadenswahrscheinlichkeit muss offenkundig so groß sein, dass es ohne weiteres naheliegt, zur Vermeidung eines Schadens ein anderes Verhalten als das tatsächlich geübte in Betracht zu ziehen (ZVR 1993/153; 9 Ob 358/97f; 7 Ob 8/99y; 7 Ob 8/99y; 7 Ob 37/01v). Die Übertretung einer Schutzbestimmung muss nach hM an sich noch keine grobe Fahrlässigkeit begründen (SZ 34/82; SZ 40/63; SZ 40/81; RIS-Justiz RS0030622); vielmehr ist in jedem Einzelfall unter Bedachtnahme auf die persönlichen Verhältnisse und die allgemeinen Lebensverhältnisse zu prüfen, ob sich das Verhalten des Schädigers aus der Menge der sich auch für den Sorgsamsten nie ganz vermeidbaren Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens als eine auffallende Sorglosigkeit heraushebt (SZ 61/280; VersE 1691; 7 Ob 41/98z; 7 Ob 289/98w; 7 Ob 90/99; 7 Ob 59/01d uva).

Zieht man aber alle festgestellten Umstände des vorliegenden Falles ins Kalkül, so erscheint das Verhalten der Klägerin doch noch nicht in einem Maße sorglos, dass es im aufgezeigten Sinn als grob fahrlässig qualifiziert werden müsste und die Klägerin daher des Versicherungsschutzes verlustig ginge: Zu bedenken ist vor allem, dass es sich bei den gegenständlichen "Miniraketen", wie der Oberste Gerichtshof im "Vorprozess" zu 10 Ob 79/00s betont hat, um "praktisch gefahrlose Feuerwerksscherzartikel bzw Feuerwerksspielwaren" handelte. Dass diese Artikel - auch im Hinblick auf ihre Verwendung durch Kinder - im Allgemeinen offenbar nicht als gefährlich angesehen werden, belegt auch der Umstand, dass sich eine § 15 Abs 5 OÖ Jugendschutzgesetz 1988 vergleichbare Bestimmung in keinem Landesgesetz der übrigen Bundesländer findet. Auch das Berufungsgericht hat auf die geringe Schadenswahrscheinlichkeit hingewiesen. Was aber seinen Vorwurf betrifft, dass es nur minimaler Anstrengungen der Klägerin bedurft hätte, sich als Trafikantin rechtmäßig zu verhalten, insbesondere weil sie ja die Buben auffordern hätte können, einen der beiden Erwachsenen, die sie als Bezugspersonen angesehen habe, in die Trafik zu holen, so lässt sich dies doch auch umgekehrt betrachten: Wenn die Klägerin annahm, dass sich Bezugspersonen der Kinder vor der Trafik befänden, bestand doch auch Grund zur Annahme, dass die Kinder die Feuerwerksspielwaren ohnehin unter Aufsicht von Erwachsenen verwenden würden, was das Verhalten der Klägerin in einem milderen Licht erscheinen lässt.

Insgesamt erachtet der erkennende Senat den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit demnach hier nicht als berechtigt. Demnach liegt der subjektive Risikoausschluss gemäß Punkt 3 des Abschnitts A der EHVB 1993 (vgl Prölss in Prölss/Martin26 Rn 2 zu § 61 VVG) nicht vor und ist die beklagte Partei daher nicht leistungsfrei.

In Stattgebung der Revision der Klägerin war die Entscheidung der Vorinstanzen daher spruchgemäß abzuändern.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens aller Instanzen gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO.

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