Normen
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §35
AsylG 2005 §35 Abs1
AsylG 2005 §35 Abs2
AsylG 2005 §35 Abs4
AsylG 2005 §35 Abs4 Z3
AsylG 2005 §35 Abs5
AsylG 2005 §60 Abs2 Z1
AsylG 2005 §60 Abs2 Z2
AsylG 2005 §60 Abs2 Z3
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
AVG §56
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
B-VG Art133 Abs4
EURallg
IPRG §6
MRK Art8
MRK Art8 Abs1
NAG 2005 §11 Abs2 Z2
NAG 2005 §11 Abs2 Z3
NAG 2005 §11 Abs2 Z4
NAG 2005 §11 Abs3
NAG 2005 §11 Abs5
NAG 2005 §45 Abs12
NAG 2005 §46
NAG 2005 §46 Abs1 Z2 lita
NAG 2005 §46 Abs1 Z2 litc
VwGG §34 Abs1
VwRallg
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art3 Abs2 litc
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art7 Abs1
62017CJ0380 K und B VORAB
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020010284.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Erstrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Die Revisionswerber, alle afghanische Staatsangehörige, stellten am 21. Jänner 2019 bei der österreichischen Botschaft in Islamabad (ÖB Islamabad) Anträge auf Erteilung von Einreisetiteln nach § 35 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Als Bezugsperson gaben sie ihren Ehemann bzw. Vater, ebenfalls ein afghanischer Staatsangehöriger, an, welchem mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 22. Juni 2015 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde.
2 Nach einer negativen Wahrscheinlichkeitsprognose des BFA im Sinne des § 35 Abs. 4 AsylG 2005, die mit dem mangelnden Nachweis der Erteilungsvoraussetzung des § 60 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005, dem mangelnden Erfordernis der Einreise der Revisionswerber zur Aufrechterhaltung des Privat‑ und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK unter Verweis auf die Möglichkeit einer Familienzusammenführung nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) sowie dem Nichtbestehen der Ehe zwischen der Erstrevisionswerberin und der Bezugsperson vor deren Einreise in Österreich begründet wurde, wies die ÖB Islamabad mit Bescheid vom 11. November 2019 die Anträge ab.
3 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der Revisionswerber vom 9. Dezember 2019 wies die ÖB Islamabad mit Beschwerdevorentscheidung vom 29. Jänner 2020 ab.
4 Nach fristgerechtem Vorlageantrag wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 26. Juni 2020 die Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
5 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass das Verwaltungsgericht im Gegensatz zur österreichischen Vertretungsbehörde im Ausland berechtigt sei, die Wahrscheinlichkeitsprognose des BFA auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Konkret komme diese Überprüfung jedoch zu keinem anderen Ergebnis.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sei für den österreichischen Rechtsverkehr, der das Vorliegen einer Zivilehe verlange, entgegen der negativen Wahrscheinlichkeitsprognose des BFA eine nachfolgende staatliche Registrierung einer zuvor traditionell‑muslimisch geschlossenen Ehe als rückwirkend gültig ‑ und die Rückwirkung nicht dem ordre public widersprechend ‑ anzusehen. Ebenso wenig liege entgegen dem Einwand des BFA eine rechtsungültige „Stellvertreterehe“ vor. Die Ehe zwischen der Bezugsperson und der Erstrevisionswerberin bestehe daher bereits seit 6. Mai 2002, somit bereits vor der Einreise der Bezugsperson nach Österreich.
Die Bezugsperson sei grundsätzlich arbeitsfähig und arbeitswillig, jedoch nicht erwerbstätig und beziehe Mindestsicherung. Es sei daher der Nachweis der erforderlichen Mittel iSd § 60 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 nicht erbracht und daher die Erteilungsvoraussetzung nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 nicht erfüllt worden.
Der Ausnahmetatbestand des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 gelange nicht zur Anwendung. Im Allgemeinen gewähre Art. 8 EMRK weder ein Recht auf Einreise in ein bestimmtes Land noch ein unmittelbares Zuwanderungsrecht und lasse den „Mitgliedstaaten“ der EMRK bei der Regelung der Einwanderungspolitik einen weiten Ermessensspielraum. Nach näher genannter Rechtsprechung des EGMR könne die Verweigerung eines Visums, welche dem öffentlichen Interesse an der effektiven Durchführung der Einwanderungskontrolle diene, nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten. Auch nach näher genannter Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes komme der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu.
Konkret würde in Folge der Nichterfüllung der Voraussetzung des § 60 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 die Einreise und der Aufenthalt der Revisionswerber, einer insgesamt sechsköpfigen Familie, zu einer erheblichen finanziellen Belastung der Gebietskörperschaft von nicht nur kurzer Dauer führen. Eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften und der Vermeidung finanzieller Belastungen der Gebietskörperschaften einerseits und des persönlichen Interesses der Revisionswerber an der Fortsetzung des Familienlebens in Österreich andererseits falle daher zu Lasten der Revisionswerber aus. Besondere Umstände, weshalb das Recht auf Familienleben konkret schwerer wiege als das öffentliche Interesse, seien nicht dargetan worden.
Die Voraussetzung des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 sei nicht immer schon allein dann erfüllt, wenn überhaupt der Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK eröffnet sei, zumal das Bestehen eines Familienlebens iSd Art. 8 EMRK im Regelfall Voraussetzung für die Familienangehörigeneigenschaft nach § 35 Abs. 5 AsylG 2005 sei. Nur in seltenen Ausnahmefällen sei eine Visumerteilung nach § 35 AsylG 2005 auch dann geboten, wenn zwar eine Familienangehörigeneigenschaft nach § 35 Abs. 5 AsylG 2005, aber kein Familienleben iSd Art. 8 EMRK bestehe. Es könne dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, dass er die Erfüllung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 nur in diesen seltenen Fällen als Voraussetzung für die Erteilung eines Einreisetitels vorsehen habe wollen.
Die ‑ unter Gesetzesvorbehalt stehende ‑ Regelung des Art. 8 EMRK schreibe auch keineswegs vor, dass in allen Fällen der Familienzusammenführung jedenfalls der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren sei. Vielmehr werde im Regelfall ein Aufenthaltstitel nach den fremdenrechtlichen Bestimmungen und zwar nach dem NAG als in Österreich für einwanderungswillige Drittstaatsangehörige gesetzlich vorgesehener Weg in Betracht kommen, um einen Aufenthaltstitel zu erlangen.
Nur in besonders gelagerten Fällen sei auf § 35 Abs. 4 Z 3 letzter Halbsatz AsylG 2005 zurückzugreifen, wenn die Erteilungsvoraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 nicht vorlägen, aber „im Falle eines Antrages nach Abs. 1 letzter Satz oder Abs. 2“ ‑ also zwecks Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz gemäß § 34 Abs. 1 Z 2 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ‑ die Stattgebung des Antrages gemäß § 9 Abs. 2 BFA‑VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK geboten sei. Nur dann, wenn (ausnahmsweise) eine Familienzusammenführung insbesondere nach § 46 NAG nicht hinreiche, sondern für den Familienangehörigen Art. 8 EMRK einen asylrechtlichen Schutzstatus nach §§ 34 und 35 AsylG 2005 gebiete, komme § 35 Abs. 4 Z 3 letzter Halbsatz AsylG 2005 zum Tragen.
Eine solche Ausnahmesituation liege konkret auch nicht nach dem Prinzip des Kindeswohls vor. Es könne aus keiner Bestimmung des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern (BVG Kinderrechte) ein Recht des Kindes auf Erteilung eines Einreisetitels abgeleitet werden. Das „Kindeswohlvorrangigkeitsprinzip“ (Art. 1) als Orientierungsmaßstab für die Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung sowie auch für Leistungen staatlicher und privater Einrichtungen stehe damit jedenfalls unter Gesetzesvorbehalt. Aus dem Gebot, bei der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK dem Wohl des Kindes ausreichend Rechnung zu tragen, sei noch nicht der Schluss zulässig, der Grundsatz, wonach die EMRK „Ausländern“ kein Recht auf Einreise verbürge, sei im Hinblick auf das Kindeswohl durchbrochen. Das Kindeswohl im Zusammenhalt mit Art. 8 EMRK verbürge kein Recht auf Einreise.
Selbst wenn man vom Bestehen eines aufrechten Familienlebens zwischen den Revisionswerbern und der Bezugsperson ausgehe, könne die familiäre Situation als nicht so außergewöhnlich angesehen werden, dass (ausnahmsweise) eine Familienzusammenführung im Grunde von insbesondere § 46 NAG nicht hinreiche, sondern für die Revisionswerber ein asylrechtlicher Schutzstatus nach §§ 34 und 35 AsylG 2005 geboten sei.
Auch die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 21. April 2016, C‑558/14‑Khachab, lasse erkennen, dass Aspekten des wirtschaftlichen Wohls eines Landes im Zusammenhang mit dem Familiennachzug im Rahmen der öffentlichen Interessen offenkundig ein hoher Stellenwert zukommen dürfe.
Da der Ausnahmetatbestand des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 nicht zur Anwendung komme und die Erteilungsvoraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 nicht erfüllt seien, seien die Anträge zu Recht abgewiesen worden.
Gemäß § 11a Abs. 2 FPG sei das Erkenntnis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu erlassen gewesen.
6 Den Zulässigkeitsausspruch begründete das Verwaltungsgericht mit dem Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG.
7 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision mit dem Antrag auf kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses. Die ÖB Islamabad als belangte Behörde verzichtete im vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren auf die Einbringung einer Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Zulässigkeit
8 Die Revision ist in Bezug auf das Zulässigkeitsvorbringen, wonach in den Fällen des § 35 Abs. 2 AsylG 2005 nur eine Familienzusammenführung nach § 35 AsylG 2005 und nicht nach dem NAG, insbesondere § 46 NAG, in Betracht komme und die Interessenabwägung nach § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 iVm Art. 8 EMRK im vorliegenden Einzelfall aus diesem Grund unvertretbar sei, zulässig; sie ist auch berechtigt.
Rechtslage
9 § 26 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017 lautet:
„Visa zur Einbeziehung in das Familienverfahren nach dem AsylG 2005
§ 26. Teilt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gemäß § 35 Abs. 4 AsylG 2005 mit, dass die Stattgebung eines Antrages auf internationalen Schutz durch Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten wahrscheinlich ist, ist dem Familienangehörigen gemäß § 35 Abs. 5 AsylG 2005 ohne Weiteres zur einmaligen Einreise ein Visum mit viermonatiger Gültigkeitsdauer zu erteilen.“
10 Die §§ 34 und 60 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 jeweils idF BGBl. I Nr. 145/2017, und § 35 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 56/2018, lauten auszugsweise:
„Familienverfahren im Inland
§ 34. (1) Stellt ein Familienangehöriger von
...
2. einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist oder
...
einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.
...
(3) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn
1. dieser nicht straffällig geworden ist;
3. gegen den Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 9) und
4. dem Familienangehörigen nicht der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen ist.
...
Anträge auf Einreise bei Vertretungsbehörden
§ 35. (1) ...
(2) Der Familienangehörige gemäß Abs. 5 eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde und der sich im Ausland befindet, kann zwecks Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz gemäß § 34 Abs. 1 Z 2 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 frühestens drei Jahre nach rechtskräftiger Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels bei der Vertretungsbehörde stellen, sofern die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 erfüllt sind. Diesfalls ist die Einreise zu gewähren, es sei denn, es wäre auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorliegen oder in drei Monaten nicht mehr vorliegen werden. Darüber hinaus gilt Abs. 4.
(2a) Handelt es sich beim Antragsteller um den Elternteil eines unbegleiteten Minderjährigen, dem der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, gelten die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 als erfüllt.
...
(4) Die Vertretungsbehörde hat dem Fremden aufgrund eines Antrags auf Erteilung eines Einreisetitels nach Abs. 1 oder 2 ohne weiteres ein Visum zur Einreise zu erteilen (§ 26 FPG), wenn das Bundesamt mitgeteilt hat, dass die Stattgebung eines Antrages auf internationalen Schutz durch Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten wahrscheinlich ist. Eine derartige Mitteilung darf das Bundesamt nur erteilen, wenn
...
3. im Falle eines Antrages nach Abs. 1 letzter Satz oder Abs. 2 die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 erfüllt sind, es sei denn, die Stattgebung des Antrages ist gemäß § 9 Abs. 2 BFA‑VG zur Aufrechterhaltung des Privat‑ und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten.
...
(5) Nach dieser Bestimmung ist Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat.
Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen
§ 60. (1) ...
(2) Aufenthaltstitel gemäß § 56 dürfen einem Drittstaatsangehörigen nur erteilt werden, wenn
1. der Drittstaatsangehörige einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die für eine vergleichbar große Familie als ortsüblich angesehen wird,
2. der Drittstaatsangehörige über einen alle Risiken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt und diese Versicherung in Österreich auch leistungspflichtig ist,
3. der Aufenthalt des Drittstaatsangehörige zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (§ 11 Abs. 5 NAG) führen könnte, und
...“
11 Die §§ 11 und 45 Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 jeweils idF BGBl. I Nr. 145/2017, sowie § 46 NAG in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 56/2018 lauten auszugsweise:
„Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel
§ 11. (1) ...
(2) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn
...
2. der Fremde einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die für eine vergleichbar große Familie als ortsüblich angesehen wird;
3. der Fremde über einen alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt und diese Versicherung in Österreich auch leistungspflichtig ist;
4. der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte;
...
(5) Der Aufenthalt eines Fremden führt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (Abs. 2 Z 4), wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und der Höhe nach den Richtsätzen des § 293 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, entsprechen. Feste und regelmäßige eigene Einkünfte werden durch regelmäßige Aufwendungen geschmälert, insbesondere durch Mietbelastungen, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen. Dabei bleibt einmalig ein Betrag bis zu der in § 292 Abs. 3 zweiter Satz ASVG festgelegten Höhe unberücksichtigt und führt zu keiner Erhöhung der notwendigen Einkünfte im Sinne des ersten Satzes. Bei Nachweis der Unterhaltsmittel durch Unterhaltsansprüche (§ 2 Abs. 4 Z 3) oder durch eine Haftungserklärung (§ 2 Abs. 1 Z 15) ist zur Berechnung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten nur der das pfändungsfreie Existenzminimum gemäß § 291a der Exekutionsordnung (EO), RGBl. Nr. 79/1896, übersteigende Einkommensteil zu berücksichtigen. In Verfahren bei Erstanträgen sind soziale Leistungen nicht zu berücksichtigen, auf die ein Anspruch erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde, insbesondere Sozialhilfeleistungen oder die Ausgleichszulage.
...
Aufenthaltstitel ‚Daueraufenthalt - EU‘
§ 45. (1) ...
(12) Asylberechtigten, die in den letzten fünf Jahren ununterbrochen über den Status des Asylberechtigten (§ 3 AsylG 2005) verfügten und subsidiär Schutzberechtigten, die in den letzten fünf Jahren ununterbrochen aufgrund einer Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter (§ 8 Abs. 4 AsylG 2005) rechtmäßig aufhältig waren, kann ein Aufenthaltstitel ‚Daueraufenthalt ‑ EU‘ erteilt werden, wenn sie
1. die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und
2. das Modul 2 der Integrationsvereinbarung (§ 10 IntG) erfüllt haben.
Der Zeitraum zwischen Einbringung des Antrages auf internationalen Schutz (§ 17 Abs. 2 AsylG 2005) und Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten ist zur Hälfte, sofern dieser Zeitraum 18 Monate übersteigt zur Gänze, auf die Fünfjahresfrist anzurechnen.
Bestimmungen über die Familienzusammenführung
§ 46. (1) Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen ist ein Aufenthaltstitel ‚Rot-Weiß‑Rot ‑ Karte plus‘ zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen, und
...
2. ein Quotenplatz vorhanden ist und der Zusammenführende
a) einen Aufenthaltstitel ‚Daueraufenthalt ‑ EU‘ innehat,
...
c) Asylberechtigter ist und § 34 Abs. 2 AsylG 2005 nicht gilt,
...“
12 Im Gegensatz zu Familienangehörigen von asylberechtigten Bezugspersonen findet die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (Familienzusammenführungsrichtlinie) gemäß dessen Art. 3 Abs. 2 lit. c auf Familienangehörige von subsidiär Schutzberechtigten keine Anwendung (vgl. EuGH 7.11.2018, C‑380/17, K und B, Rn. 32 und 33).
Familienangehörige iSd § 35 Abs. 5 AsylG 2005
13 Vorweg ist auf die Familienangehörigeneigenschaft der Revisionswerber iSd § 35 Abs. 5 AsylG 2005 als Voraussetzung der Erteilung eines Visums nach § 26 FPG iVm § 35 Abs. 2 AsylG 2005 einzugehen.
14 Als im Antragszeitpunkt minderjährige ledige Kinder der Bezugsperson sind die Zweit‑ bis Fünftrevisionswerber Familienangehörige iSd § 35 Abs. 5 AsylG 2005. Demgegenüber ist Voraussetzung für die Familienangehörigeneigenschaft der Erstrevisionswerberin das Bestehen der Ehe mit ihrem Ehegatten als Bezugsperson vor dessen Einreise in Österreich.
15 Entgegen der negativen Wahrscheinlichkeitsprognose des BFA, wonach die Eheschließung zwischen der Bezugsperson und der Erstrevisionswerberin vom 6. Mai 2002 nach afghanischem Recht erst mit deren Beurkundung am 4. Februar 2018, somit nach der Ausreise der Bezugsperson aus Afghanistan und der Einreise in Österreich, durch nachträgliche Registrierung wirksam geworden sei, ging das Verwaltungsgericht gestützt auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 6. September 2018, Ra 2018/18/0094, auf Grund der nachfolgenden staatlichen Registrierung der traditionell‑muslimischen Hochzeit vom rechtsgültigen Zustandekommen der Ehe rückwirkend mit dem Datum der Hochzeit am 6. Mai 2002 aus. Die Ehe der Erstrevisionswerberin zur Bezugsperson habe somit bereits vor der Einreise der Bezugsperson nach Österreich bestanden.
16 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes verstößt der bloße Umstand der rückwirkenden Anerkennung einer traditionellen Eheschließung mit ihrer nachfolgenden staatlichen Registrierung im ausländischen Recht nicht gegen die Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung und ist eine rückwirkende Sanierung einer traditionell erfolgten Eheschließung durch die nachfolgende Registrierung (in Abwesenheit eines Ehepartners) grundsätzlich möglich, wenn eine solche vom anwendbaren Zivilrecht vorgesehen ist (vgl. VwGH 6.9.2018, Ra 2018/18/0094; zuletzt 17.11.2020, Ra 2020/19/0042, Rn. 10, 11 ‑ Unterstreichung vom Verwaltungsgerichtshof).
17 Demnach setzt die rückwirkende Geltung der traditionellen Eheschließung zwischen der Erstrevisionswerberin und der Bezugsperson auf den Tag der Hochzeit am 6. Mai 2002 voraus, dass nach afghanischem Recht eine zu einem früheren Zeitpunkt rituell geschlossene Ehe rückwirkend durch staatliche Registrierung anerkannt wird.
18 In Bezug auf ausländisches Recht gilt der Grundsatz „iura novit curia“ nicht, sodass dieses in einem ‑ grundsätzlich amtswegigen ‑ Ermittlungsverfahren festzustellen ist, wobei aber auch hier die Mitwirkung der Beteiligten erforderlich ist, soweit eine Mitwirkungspflicht der Partei besteht (vgl. VwGH 23.4.2020, Ra 2019/01/0309, Rn. 13, mwN).
19 Vorliegend nahm das Verwaltungsgericht eine rückwirkende Geltung der traditionellen Eheschließung und somit das Bestehen der Ehe der Erstrevisionswerberin mit ihrem Ehegatten als Bezugsperson vor dessen Einreise in Österreich an, ohne ‑ wie rechtlich geboten ‑ dazu erforderliche Feststellungen zum afghanischen Recht zu treffen.
20 Das Verwaltungsgericht hat insoweit das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.
Erteilung eines Einreisetitels nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 und Familiennachzug nach dem NAG
21 Das BFA darf eine Mitteilung gemäß § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 nur erteilen, wenn im Falle eines Antrages nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 leg. cit. erfüllt sind, es sei denn, die Stattgebung des Antrages ist gemäß § 9 Abs. 2 BFA‑VG zur Aufrechterhaltung des Privat‑ und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK geboten. Werden die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 (Unterkunftsnachweis, Krankenversicherung und feste und regelmäßige Einkünfte iSd § 11 Abs. 5 NAG) nicht erfüllt, ist zu prüfen, ob sich ein Anspruch auf Familienzusammenführung im Lichte des Art. 8 EMRK ergibt und es ist gegebenenfalls ein Einreisetitel zu gewähren (vgl. die Erläuterungen zur Änderung des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 24/2016, in RV 996 BlgNR 25. GP , 2).
22 § 46 NAG enthält keine Bestimmung über die Familienzusammenführung für Familienangehörige von subsidiär schutzberechtigten Bezugspersonen. Demgegenüber ist die Familienzusammenführung für Familienangehörige von asylberechtigten Bezugspersonen in jenen Konstellationen, die nicht § 34 Abs. 2 AsylG 2005 unterliegen, in § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG geregelt (vgl. etwa VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0568, wonach der Gesetzgeber die Erteilung von Aufenthaltstiteln in jenen Konstellationen, die § 34 Abs. 2 AsylG 2005 unterliegen, nicht über das NAG, sondern das AsylG 2005 regeln wollte.) Den Familienangehörigen von subsidiär Schutzberechtigten ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem NAG vielmehr nur dann möglich, wenn der subsidiär schutzberechtigten Bezugsperson gemäß § 45 Abs. 12 NAG der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ erteilt wird, woraufhin nach § 46 Abs. 1 Z 2 lit. a NAG den Familienangehörigen nach Erfüllung der Voraussetzungen des 1. Teiles des NAG und Vorhandensein eines Quotenplatzes der Aufenthaltstitel „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ zu erteilen ist.
23 Im Gegensatz zur dreijährigen „Wartefrist“ nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 ist eine Familienzusammenführung für Familienangehörige von subsidiär schutzberechtigten Bezugspersonen nach dem NAG ‑ wie beschrieben über § 46 Abs. 1 Z 2 lit. a iVm § 45 Abs. 12 NAG ‑ gemäß § 45 Abs. 12 NAG erst nach einem ununterbrochenen rechtmäßigen fünfjährigen Aufenthalt des subsidiär Schutzberechtigten aufgrund einer Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter möglich.
24 Daraus sowie im Hinblick darauf, dass die Erteilung eines Einreisetitels nach § 35 AsylG 2005 die Möglichkeit der Familienzusammenführung mit dem Zweck darstellt, für die nachziehenden Personen nach Einreise in das Bundesgebiet ein Familienverfahren iSd § 34 AsylG 2005 zu eröffnen und ihnen denselben Schutz wie dem bereits in Österreich aufhältigen Angehörigen zu gewähren (vgl. VwGH 3.5.2018, Ra 2017/19/0609, wonach die Familienzusammenführung in Fällen, in denen den nachziehenden Familienangehörigen kein Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 nach Einreise in das Bundesgebiet offensteht, über das NAG zu erfolgen habe), ergibt sich, dass der Gesetzgeber auch die Familienzusammenführung für Familienangehörige von subsidiär Schutzberechtigten nicht im Rahmen des NAG, sondern über das AsylG 2005 regeln wollte.
25 Entgegen der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts ist demnach eine Familienzusammenführung nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 nicht subsidiär zu einer Familienzusammenführung nach § 46 NAG. Es kommt daher nicht ‑ wie es das Verwaltungsgericht vermeint ‑ darauf an, ob bei Bestehen eines aufrechten Familienlebens zwischen den Antragstellern und ihrer Bezugsperson „die familiäre Situation so außergewöhnlich“ ist, „dass (ausnahmsweise) eine Familienzusammenführung im Grunde von (insb.) § 46 NAG nicht hinreichen würde“.
26 Für die Frage, ob im Fall der Antragstellung nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 von der Erfüllung der Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 aus Gründen des Art. 8 EMRK abzusehen ist, sind daher keine Erwägungen betreffend die Möglichkeiten einer Familienzusammenführung nach dem NAG anzustellen.
Interessenabwägung nach § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 iVm Art. 8 EMRK
27 Grundsätzlich ist Familienangehörigen von subsidiär schutzberechtigten Bezugspersonen ‑ abgesehen von der Ausnahme in § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 ‑ überhaupt kein Einreisetitel zu gewähren, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 nicht nachgewiesen werden. Selbst die Erteilung des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt ‑ EU“ an einen subsidiär Schutzberechtigten nach § 45 Abs. 12 NAG und somit eine nachfolgende Familienzusammenführung nach § 46 Abs. 1 Z 2 lit. a NAG setzt gemäß § 45 Abs. 12 Z 1 NAG die Erfüllung der Voraussetzungen nach § 11 Abs. 2 Z 2 bis 4 NAG (Unterkunftsnachweis, Krankenversicherung und feste und regelmäßige Einkünfte nach § 11 Abs. 5 NAG) voraus, es sei denn die Erteilung des Aufenthaltstitels ist trotz Ermangelung dieser Voraussetzung gemäß § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat‑ und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK erforderlich (vgl. Erläut RV 996 BlgNR 25. GP , 2 und 5).
28 Wird ‑ wie hier ‑ der Nachweis der Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 nicht erbracht, ist zu prüfen, ob die Stattgebung des Antrags nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 gemäß § 9 Abs. 2 BFA‑VG zur Aufrechterhaltung des Privat‑ und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK geboten ist.
29 Wie der Verfassungsgerichtshof in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) bereits mehrfach ausgesprochen hat, ist aus Art. 8 EMRK keine generelle Verpflichtung abzuleiten, dem Wunsch der Fremden, sich in einem bestimmten Konventionsstaat aufzuhalten, nachzukommen. Die EMRK verbürgt Ausländern demnach weder ein Recht auf Einreise, Einbürgerung und Aufenthalt, noch umfasst Art. 8 EMRK die generelle Verpflichtung eines Konventionsstaates, die Wahl des Familienwohnsitzes durch die verschiedenen Familienmitglieder anzuerkennen und die Zusammenführung einer Familie auf seinem Gebiet zu erlauben. In Fällen, die sowohl das Familienleben als auch Immigration betreffen, variiert das Ausmaß der staatlichen Verpflichtung, Verwandte von in dem Staat aufhältigen Personen zuzulassen, nach den besonderen Umständen der betroffenen Personen und dem Allgemeininteresse.
Der Status subsidiär Schutzberechtigter und damit auch deren Aufenthaltsrecht ist vor dem Hintergrund der bloß vorübergehenden Zuerkennung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 für die Dauer von einem Jahr und der Möglichkeit der Verlängerung für die Dauer von jeweils zwei Jahre von vornherein provisorischer Natur. Dieser ‑ zumindest anfänglich ‑ vorübergehende Charakter des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die damit verbundene Möglichkeit des (zeitnahen) Verlusts des Aufenthaltsrechts etwa im Falle der Besserung der Sicherheitslage rechtfertigen es, den Familiennachzug von Angehörigen subsidiär Schutzberechtigter ‑ und damit auch eine Verfestigung des Aufenthalts dieser Personen im Staatsgebiet ‑ im Hinblick auf deren unsicheren Aufenthaltsstatus erst nach einer bestimmten Wartefrist zuzulassen. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Umstand, dass die mit der Änderung des AsylG 2005, BGBl. I Nr. 24/2016, eingeführte dreijährige Wartefrist nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 generell und unter Ausschluss einer Abwägung der Umstände im Einzelfall angeordnet ist, für den Verfassungsgerichtshof als verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. zu alldem VfGH 10.10.2018, E 4248/2017 ua = VfSlg. 20.286, mit Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung des EGMR 28.6.2011, Nunez, Appl 55.597/09, Rz. 66 und 68; 19.2.1996, Gül, Appl 23.218/94, Rz. 38; 8.11.2016, El Ghatet, Appl 56.971/10, Rz. 43; 10.7.2014, Tanda ‑ Muzinga, Appl 2.260/10, Rz. 64; 3.10.2014, Jeunesse, Appl 12.738/10, Rz. 107).
30 Nach dem Wortlaut des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 iVm § 35 Abs. 5 AsylG 2005 und im Hinblick darauf, dass auch unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK nicht in jedem Fall durch die Nichterteilung eines Einreisetitels in das Recht auf Privat‑ und Familienleben eingegriffen wird, reicht die bloße Angehörigeneigenschaft nach Abs. 5 nicht für die Erfüllung der Erteilungsvoraussetzung des Abs. 4 Z 3 aus. Vielmehr setzt § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 zum einen ein zwischen den Antragstellern und der Bezugsperson bestehendes Familienleben, dessen Aufrechterhaltung iSd Art. 8 ERMK geboten ist, und zum anderen die Unmöglichkeit, dieses in einem anderen Staat, insbesondere im Heimatstaat, fortzusetzen, voraus (vgl. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0218, Rn. 28 und 29, zur Rechtslage vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 24/2016).
31 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung, ob ein Eingriff nach Art. 8 ERMK zulässig ist, unter anderem zu beachten, ob eine Fortsetzung des Familienlebens außerhalb Österreichs möglich ist und ob eine aus Asylgründen bedingte Trennung der Familie, den Eingriff in das Familienleben als unzulässig werten lassen könnte (vgl. VwGH 11.11.2013, 2013/22/0224, sowie Erläut RV 996 BlgNR 25. GP , 5, mit Hinweis auf eben diese Rechtsprechung). Kommt im Entscheidungszeitpunkt eine Fortsetzung des Familienlebens im gemeinsamen Herkunftsstaat ‑ wie vorliegend in Bezug auf eine subsidiär schutzberechtigte Bezugsperson ‑ und auch sonst außerhalb Österreichs nicht in Betracht, ist der mit der Verweigerung des Einreisetitels verbundene Eingriff in das Familienleben zwar nicht jedenfalls unzulässig, es muss aber dem öffentlichen Interesse an der Vornahme dieser Maßnahme ein sehr großes Gewicht beizumessen sein (vgl. VwGH 15.4.2020, Ra 2019/20/0291, Rn. 18, mwN), wie etwa bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regelungen über eine geordnete Zuwanderung oder den „Familiennachzug“ (vgl. etwa zuletzt VwGH 31.3.2021, Ra 2020/22/0030, Rn. 13, mwN).
Im Verfahren nach § 35 AsylG 2005 ist auf geltend gemachte (fluchtbezogene) Gründe, die zur Trennung der Familie geführt haben, Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0242, Rn. 23, mit Verweis auf EuGH 7.11.2018, K und B, C‑380/17, Rn. 53, wonach die mit der Flüchtlingseigenschaft des Zusammenführenden verbundenen Besonderheiten, nämlich z.B. die unter Umständen fluchtbedingte Trennung von Familienangehörigen, bei individualisierter Überprüfung der in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG genannten Voraussetzungen zu berücksichtigen sind). Der Verwaltungsgerichtshof verwies auch auf Rechtsprechung des EGMR, nach der das Familienleben des dortigen Beschwerdeführers nur aufgrund seiner Flucht unterbrochen worden sei, die aus begründeter Furcht vor Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention erfolgt sei, weshalb ihm eine Trennung von seiner Familie nicht habe vorgeworfen werden können. Der Nachzug seiner Frau und seiner Kinder, die selbst in einen dritten Staat geflüchtet waren, habe das einzige Mittel dargestellt, um das Familienleben wiederaufzunehmen. Das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens stand in diesem Fall nie in Frage (vgl. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0218, Rn. 48, mit Hinweis auf EGMR 10.7.2014, Tanda ‑ Muzinga, 2260/10 [NLMR 4/2014, S. 1ff]).
32 Aus dieser Rechtsprechung ist für den Familiennachzug subsidiär Schutzberechtigter nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 abzuleiten, dass dieser (im Rahmen der nach dem Gesetz vorzunehmenden Gesamtabwägung) unter anderem voraussetzt, dass eine aus den Gründen, die zur Zuerkennung von subsidiärem Schutz an die Bezugsperson geführt haben, bedingte Trennung der Familie vorliegt, der Nachzug das einzige Mittel darstellt, um das Familienleben wiederaufzunehmen und das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens nie in Frage stand. Nur dann liegt ein besonders gelagerter Fall iSd § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 vor, in dem „die Stattgebung des Antrages ... gemäß § 9 Abs. 2 BFA‑VG zur Aufrechterhaltung des Privat‑ und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten“ ist.
33 Dieses Ergebnis entspricht im Übrigen auch dem Willen des Gesetzgebers. So führen die Erläuterungen zur Neufassung des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 mit der Novelle u.a. des AsylG 2005, BGBl. I Nr. 24/2016 (vgl. RV 996 BlgNR 25. GP , 5), aus, dass „zu prüfen ist, ob sich ein Anspruch auf Familienzusammenführung im Lichte des Art. 8 EMRK entsprechend der höchstgerichtlichen Judikatur ergibt. Nach der Judikatur (vgl. z.B. VwGH vom 11.11.2013, Zl. 2013/22/0224) ist etwa bei der Beurteilung, ob ein Eingriff nach Art. 8 EMRK zulässig ist, zu beachten, ob eine Fortsetzung des Familienlebens außerhalb Österreichs möglich ist und ob eine aus Asylgründen bedingte Trennung der Familie, den Eingriff in das Familienleben als unzulässig werten lassen könnte.“
34 Im Rahmen dieser Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG ist das „Kindeswohl“ zu berücksichtigen (vgl. etwa VwGH 5.9.2018, Ra 2018/01/0179 bis 0181, Rn. 13, mwN; zur Berücksichtigung des Kindeswohls zuletzt VwGH 17.5.2021, Ra 2021/01/0150 bis 0152). Das Auflösen einer Hausgemeinschaft von Eltern und Kindern alleine führt jedenfalls nicht zur Beendigung des Familienlebens iSd Art. 8 EMRK, solange nicht jegliche Bindung gelöst ist (vgl. etwa VwGH 26.2.2020, Ra 2019/18/0299, Rn. 28; VfGH 3.10.2019, E 3456/2019; 24.11.2014, E 35/2014 ua, jeweils mwN).
35 Demnach setzt eine gesamtheitliche Abwägung der im Sinne von Art. 8 EMRK maßgeblichen Interessen im Rahmen der Beurteilung der Erteilungsvoraussetzung nach § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 hinreichende Feststellungen zum Familienleben der subsidiär schutzberechtigten Bezugsperson und seinen die Erteilung eines Einreisetitels gemäß § 35 Abs. 2 AsylG 2005 beantragenden Familienangehörigen nach Abs. 5 leg. cit. vor deren Trennung, zu den Gründen der Trennung sowie zum Kontakt zwischen Antragsteller und Bezugsperson nach der Trennung voraus (vgl. wiederum Ra 2019/18/0242, Rn. 23, zur Maßgeblichkeit geltend gemachter (fluchtbezogener) Gründe der Trennung).
Behauptungs‑ und Beweislast der Antragsteller bei begründeter negativer Wahrscheinlichkeitsprognose des BFA
36 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt erkannt, dass die Vertretungsbehörde im Ausland an die Mitteilung des BFA über die Prognose einer Asylgewährung gebunden ist, und zwar sowohl an eine negative als auch an eine positive Mitteilung. Allerdings steht es dem Verwaltungsgericht offen, auch die Einschätzung des BFA über die Wahrscheinlichkeit der Gewährung internationalen Schutzes an die Antragsteller auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Gegenstand der Überprüfung durch das Verwaltungsgericht ist dabei, ob die Prognose des BFA hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der Gewährung internationalen Schutzes an die Antragsteller im Rahmen eines (späteren) Familienverfahrens nach § 34 AsylG 2005 zutreffend erfolgt ist und die sonstigen Voraussetzungen des § 35 Abs. 4 AsylG 2005 erfüllt sind (vgl. etwa VwGH 26.2.2020, Ra 2019/18/0299, Rn. 19, mwN).
37 Dies setzt voraus, dass das BFA seine Mitteilung auch entsprechend begründet und dem Antragsteller Gelegenheit geboten wird, davon Kenntnis zu erlangen und dazu Stellung zu nehmen. Im Falle einer negativen Prognose muss der Antragsteller, um die Einreiseerlaubnis nach Österreich zu erhalten, zwar lediglich die (niedrigere) Beweisschwelle der Wahrscheinlichkeit einer künftigen Gewährung internationalen Schutzes überwinden (vgl. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0218, Rn. 24). Es obliegt ihm jedoch, gegen eine negative Prognose des BFA zumindest entscheidungswesentliches Vorbringen etwa zu der vom BFA negativ beurteilten Erteilungsvoraussetzung des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 zu erstatten und glaubhaft zu machen.
Einzelfallbezogene Beurteilung
38 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG (vgl. für viele VwGH 18.3.2019, Ra 2019/01/0068, mwN). Dies gilt auch für die in Form einer Gesamtbetrachtung durchzuführende Interessenabwägung nach § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 iVm Art. 8 EMRK.
39 Entgegen dem Vorbringen in der Revision sind die Gründe für die Nichterfüllung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 für die Beurteilung, ob gemäß § 35 Abs. 4 Z 3 letzter Halbsatz AsylG 2005 die Erteilung eines Einreisetitels nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 gemäß § 9 BFA‑VG zur Aufrechterhaltung des Privat‑ und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK geboten ist, nicht wesentlich und daher im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK nicht zu berücksichtigen.
40 Jedoch hat das Verwaltungsgericht die vorliegend nach § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 vorzunehmende Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK auf Grund der Berücksichtigung der für Familienangehörige von subsidiär Schutzberechtigten nicht in Betracht kommenden Möglichkeit einer Familienzusammenführung nach dem NAG in unvertretbarer Weise vorgenommen, worauf die Revision zu Recht hinwies.
41 Das Verwaltungsgericht hat daher das angefochtene Erkenntnis, wie bereits ausgeführt (vgl. Rn. 25), mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Darüber hinaus fehlen für eine hinreichende Beurteilung, ob die Stattgebung des Antrages gemäß § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat‑ und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist, nach dem Obgesagten (auf Basis des Vorbringens der Revisionswerber zur negativen Wahrscheinlichkeitsprognose des BFA und allfälliger weiterer Ermittlungen des Verwaltungsgerichts, etwa der Beischaffung der Verfahrensakten betreffend die Erteilung von subsidiärem Schutz an die Bezugsperson) Feststellungen zum Familienleben der Bezugsperson mit den Revisionswerbern vor deren Trennung, zu den Gründen der Trennung und dem tatsächlichen Bestehen eines Familienlebens durch Kontakte nach der Trennung. Dabei wäre fallbezogen auch zu prüfen, ob die Trennung der Familie aus den Gründen erfolgt ist, die zur Zuerkennung von subsidiärem Schutz an die Bezugsperson geführt hat, und nicht aus anderen (etwa wirtschaftlichen) Gründen die Entscheidung getroffen wurde, dass zunächst die Bezugsperson als „Ankerperson“ nach Europa reist (vgl. VwGH 26.4.2021, Ra 2020/01/0025, Rn. 18; vgl. zur Rechtsfigur der „Ankerperson“ etwa VwGH 22.1.2021, Ra 2020/01/0467 bis 0469, Rn. 12; 28.1.2016, Ra 2015/21/0230, 0231).
Ergebnis
42 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
43 Von der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 6 VwGG abgesehen werden.
44 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere auf § 53 Abs. 1 VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren im Umfang der Eingabengebühr war abzuweisen, weil unter anderem hinsichtlich der Eingabengebühr mit Beschluss vom 4. September 2020 die Verfahrenshilfe bewilligt wurde (vgl. VwGH 22.3.2021, Ra 2020/01/0293, 2020/01/0384, 0385, Rn. 20). Das auf Ersatz der Umsatzsteuer gerichtete Mehrbegehren der Revisionswerber war abzuweisen, weil in dem in der Verordnung vorgesehenen Pauschalbetrag die Umsatzsteuer bereits mitenthalten ist (vgl. etwa VwGH 22.6.2020, Ra 2019/01/0117, 0118, Rn. 16, mwN).
Wien, am 31. Mai 2021
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