VwGH Ra 2019/20/0291

VwGHRa 2019/20/029115.4.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des M A M, vertreten durch Dr. Alexa Weixelbaumer, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Reisnerstraße 61, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. April 2019, W212 2216694‑1/4E, betreffend Versagung eines Visums nach § 35 AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Österreichische Botschaft Nairobi), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §35
AsylG 2005 §35 Abs1
AsylG 2005 §35 Abs4 Z3
AsylG 2005 §60 Abs2
MRK Art8
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019200291.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der minderjährige Revisionswerber ist Staatsangehöriger Somalias. Er stellte gemeinsam mit seinem ebenfalls minderjährigen Bruder am 24. April 2018 bei der Österreichischen Botschaft Nairobi (ÖB Nairobi) einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels gemäß § 35 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den er damit begründete, dass seiner Mutter mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 16. November 2015 der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden sei.

2 Mit Eingabe vom 27. April 2018 ergänzte der Revisionswerber sein Vorbringen. Es lägen fallbezogen die Voraussetzungen nach § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 vor. Die Trennung der Familie habe keineswegs freiwillig stattgefunden, vielmehr sei die Bezugsperson (die Mutter des Revisionswerbers) überstürzt geflüchtet und habe sich gezwungen gesehen, ihre Kinder zurückzulassen. Der Revisionswerber und sein Bruder seien zwei der insgesamt drei Kinder, welche aus der Ehe der Bezugsperson mit ihrem ersten Ehemann stammte. Der erste Ehemann sei im Jahr 2009 von Mitgliedern der Al Shabaab‑Miliz getötet worden. Die Bezugsperson sei daraufhin von diesen verschleppt, schwer misshandelt und dazu gezwungen worden, einen dieser Männer zu heiraten. Aus dieser zweiten Ehe sei das vierte Kind der Bezugsperson hervorgegangen. Nachdem die Bezugsperson im Jahr 2012 geflüchtet sei, habe ihr zweiter Ehemann das gemeinsame Kind sowie eines der drei Kinder der Bezugsperson aus erster Ehe unter Zwang und Gewaltanwendung zu sich genommen. Die Bezugsperson wisse seither nicht, wo sich diese beiden Kinder befänden. Der Revisionswerber und sein Bruder seien seit der Flucht der Bezugsperson bei der Großmutter aufgewachsen, wobei aus Angst vor dem zweiten Ehemann kein Kontakt zur Bezugsperson möglich gewesen sei. Die Bezugsperson habe ihre Kinder bzw. ihre Mutter (Großmutter des Revisionswerbers) einmal telefonisch kontaktiert. Die Großmutter habe daraufhin jedoch aus panischer Angst vor dem zweiten Ehemann jegliche weitere Kontaktaufnahme verweigert. Die Großmutter sei in weiterer Folge mit dem Revisionswerber und dessen Bruder nach Kenia geflüchtet, von wo aus seit Anfang des Jahres 2018 der Kontakt zur Bezugsperson wieder aufgenommen worden sei. Das Familienleben könne in keinem anderen Staat fortgeführt werden.

3 Das BFA teilte mit Schreiben vom 25. Juli 2018 gemäß § 35 Abs. 4 AsylG 2005 mit, dass es fallbezogen nicht wahrscheinlich sei, dass einem Antrag auf internationalen Schutz stattgegeben werden würde, weil die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 nicht vorlägen und die Einreise des Revisionswerbers aus Gründen des Art. 8 EMRK nicht geboten erscheine.

4 Der Revisionswerber übermittelte zu dieser Mitteilung eine Stellungnahme vom 6. August 2018, in der er im Wesentlichen das bereits mit Schreiben vom 27. April 2018 erstattete Vorbringen wiederholte.

5 Das BFA teilte im Hinblick auf diese Stellungnahme der ÖB Nairobi mit, dass die negative Wahrscheinlichkeitsprognose aufrechterhalten werde.

6 Mit Bescheid vom 22. November 2018 wies die ÖB Nairobi die Anträge des Revisionswerbers und seines Bruders auf Erteilung eines Einreisetitels gemäß § 26 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) in Verbindung mit § 35 AsylG 2005 ab.

7 Der Revisionswerber und sein Bruder erhoben eine gemeinsame Beschwerde und beriefen sich ergänzend darauf, dass die Versäumung der in § 35 Abs. 1 AsylG 2005 normierten dreimonatigen Frist nicht auf das Verschulden der betroffenen Familienmitglieder zurückzuführen sei.

8 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 23. Jänner 2019 wies die ÖB Nairobi die Beschwerde gemäß § 14 Abs. 1 VwGVG als unbegründet ab und führte dazu aus, dass die Antragstellung des Revisionswerbers erst zweieinhalb Jahre nach rechtskräftiger Zuerkennung des Status der Asylberechtigten an die Bezugsperson erfolgt sei und somit grundsätzlich die in § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 normierten Voraussetzungen zu erbringen seien. Bei einer Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalls sei aber auch nicht zu sehen, dass es zur Aufrechterhaltung des Privat‑ und Familienlebens „dringend“ im Sinn des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 geboten wäre, eine Familienzusammenführung durch Inanspruchnahme des § 35 AsylG 2005 zu ermöglichen.

9 Der Revisionswerber und sein Bruder beantragten daraufhin die Vorlage ihres Rechtsmittels an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG). Die Verfahren des Revisionswerbers und seines Bruders wurden vom BVwG zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

10 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde gemäß § 35 AsylG 2005 als unbegründet ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG erklärte das BVwG für nicht zulässig.

11 Begründend hielt das BVwG im Wesentlichen fest, der Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels sei außerhalb der in § 35 Abs. 1 AsylG 2005 vorgesehenen dreimonatigen Frist und auch außerhalb der in § 75 Abs. 24 AsylG 2005 normierten dreimonatigen Übergangsfrist gestellt worden. Die Erteilungsvoraussetzungen nach § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 seien nicht erfüllt. Die Voraussetzungen gemäß § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 lägen ebenfalls nicht vor. Auch nach der Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) dürfe den Aspekten des wirtschaftlichen Wohls eines Landes im Zusammenhang mit der Regelung des Familiennachzugs im Rahmen der öffentlichen Interessen ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. Art. 8 EMRK gebiete es keineswegs, dass in allen Fällen der Familienzusammenführung jedenfalls internationaler Schutz zu gewähren sei. Vielmehr werde im Regelfall ein Aufenthaltstitel nach den fremdenrechtlichen Bestimmungen in Betracht kommen. Die Verfahren nach dem Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) stellten in Österreich den gesetzlich vorgeschriebenen Weg für einwanderungswillige Drittstaatsangehörige dar, um einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Wenn sich ‑ wie hier wegen Fehlens der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 ‑ eine Familienzusammenführung durch Inanspruchnahme des § 35 AsylG 2005 als nicht möglich erweise und von einem Antragsteller ein anderer Weg und zwar insbesondere nach § 46 NAG zu beschreiten sei, um eine Familienzusammenführung zu erreichen, so stehe dies nicht im Widerspruch zu Art. 8 EMRK. Im Einzelfall könne zur Vermeidung eines verfassungswidrigen Ergebnisses (etwa im Blick auf Art. 8 EMRK) oder auch zur Erzielung einer unionsrechtskonformen Interpretation der nationalen Rechtslage eine Abkoppelung des im NAG verwendeten Begriffes des „Familienangehörigen“ von seiner in § 2 Abs. 1 Z 9 NAG enthaltenen Legaldefinition geboten sein. Der Revisionswerber habe zwar weitwendig ausgeführt, warum sich die Bezugsperson gezwungen gesehen habe, ohne ihre beiden minderjährigen Kinder im Jahr 2012 die Flucht anzutreten und bis zum Jahr 2018 keinerlei Kontakt mit diesen zu pflegen. Es könne aber der Beurteilung des BFA insoweit gefolgt werden, als fallbezogen von einer „qualifizierten Minderung des Familienlebens“ ausgegangen werden müsse und daher die Voraussetzung, dass zur Aufrechterhaltung des Familienlebens eine Familienzusammenführung dringend geboten wäre, nicht vorliege. Die „völlig unsubstantiierten“ Ausführungen in der Beschwerde, wonach die Versäumung der dreimonatigen Frist für die Antragstellung im Sinne des Urteils des EuGH vom 7. November 2018, K B gegen Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie, Rs. C‑380/17, aufgrund der Lebensumstände des Revisionswerbers objektiv entschuldbar sei, seien auch nicht geeignet, die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen des § 35 AsylG 2005 „außer Kraft zu setzen“.

12 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich zur Begründung ihrer Zulässigkeit auf ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Verweis auf VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0568 bis 0571) beruft. Das BVwG habe keine Überprüfung vorgenommen, ob die Versäumung der dreimonatigen Frist des § 35 Abs. 1 AsylG 2005 objektiv entschuldbar sei, weil der Revisionswerber durch besondere Umstände an der rechtzeitigen Antragstellung gehindert worden sei. Darüber hinaus wendet sich die Revision gegen die durch das BVwG vorgenommene Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK.

13 Die ÖB Nairobi als belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die kostenpflichtige Zurückweisung, allenfalls Abweisung, der Revision beantragte, sich der Ansicht des BVwG zum Nichtvorliegen des Ausnahmetatbestands des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 anschloss und darüber hinaus die Auffassung vertrat, dass die Regelung über die Folgen der Versäumung der dreimonatigen Frist nicht unzulässig ausgehöhlt werden dürfe, weshalb ein restriktiver Maßstab anzulegen sei.

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

15 Die Revision ist zulässig und auch begründet.

16 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 17. Dezember 2019, Ra 2019/18/0242, betreffend den Revisionsfall des Bruders des Revisionswerbers mit den in der Revision aufgeworfenen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Versäumung der in § 35 Abs. 1 letzter Satz AsylG 2005 genannten Frist und ob das angefochtene Erkenntnis eine den Anforderungen des Art. 8 EMRK entsprechende Abwägung enthält, bereits ausführlich auseinandergesetzt und das dortige Erkenntnis des BVwG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufgehoben. Auf die nähere Begründung dieser Entscheidung wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen.

17 Zusammengefasst hat der Verwaltungsgerichtshof in dieser Entscheidung festgehalten, dass sich die Frage, ob die Versäumung der in § 35 Abs. 1 letzter Satz AsylG 2005 genannten Frist als objektiv entschuldbar zu qualifizieren ist, als relevant erweist, weil der Gesetzgeber zur Herstellung eines unionsrechtskonformen Zustandes ‑ bei objektiv entschuldbarer Versäumung der Dreimonatsfrist ‑ in jenen Fällen, in denen nach Einreise eines Antragstellers in das Bundesgebiet § 34 Abs. 2 AsylG 2005 gilt, nicht auf das Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) verwiesen hat, weil § 35 AsylG 2005 gerade der Erteilung von Einreisetiteln zum Zwecke der Durchführung eines Familienverfahrens gemäß § 34 AsylG 2005 dient (vgl. VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0568). Inhaltliche Rechtswidrigkeit erblickte der Verwaltungsgerichtshof darin, dass das BVwG trotz der für die Versäumung der dreimonatigen Frist geltend gemachten Gründe keine nähere Prüfung dieser Gründe vornahm, die Abweisung des Antrags auf Erteilung eines Einreisetitels nach § 35 Abs. 1 AsylG 2005 und auf das Fehlen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 stützte und den Revisionswerber auf die Möglichkeit einer Familienzusammenführung nach dem NAG verwies. In diesem Zusammenhang stellte der Verwaltungsgerichtshof klar, dass bei Vorliegen einer objektiven Entschuldbarkeit der Versäumung der Dreimonatsfrist nicht auf die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 abzustellen sei, weshalb für die Durchführung der in § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 vorgesehenen Interessenabwägung kein Anlass bestünde.

18 Darüber hinaus sah der Verwaltungsgerichtshof eine inhaltliche Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung des BVwG auch darin gelegen, dass keine den Anforderungen des Art. 8 EMRK entsprechende Abwägung der für und gegen eine Verweigerung des beantragten Einreisetitels sprechenden öffentlichen und familiären Interessen vorgelegen sei. Das BVwG habe bei seinen § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 betreffenden Überlegungen, die in der Annahme einer „qualifizierten Minderung des Familienlebens“ zur Bezugsperson infolge langjähriger Trennung mündete, zu Unrecht die geltend gemachten (fluchtbezogenen) Gründe außer Acht gelassen, die zu dieser Trennung geführt hätten, und dass im vorliegenden Fall bereits feststehe, dass eine Fortsetzung des Familienlebens im gemeinsamen Herkunftsland nicht in Betracht komme, was nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Folge habe, dass dem öffentlichen Interesse an der Vornahme dieser Maßnahme ein sehr großes Gewicht beigemessen werden müsse (vgl. VwGH 24.9.2019, Ra 2019/20/0446; 16.5.2019, Ra 2019/21/0050; 6.9.2018, Ra 2018/18/0026).

19 Das angefochtene Erkenntnis erweist sich aus den gleichen Erwägungen als inhaltlich rechtswidrig, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

20 Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. April 2020

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