AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:W114.2265412.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Bernhard DITZ über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX Staatsangehörigkeit Arabische Republik Syrien, vertreten durch XXXX , vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien vom 21.11.2022, Zl. 1292090807 / 220008491, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.02.2023 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
1. Verfahrensgang:
1. Der minderjährige XXXX , geboren am XXXX , im Weiteren: Beschwerdeführer oder BF, ein Staatsbürger der Arabischen Republik Syrien, reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 03.01.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 03.01.2022 gab der Beschwerdeführer an, den Namen XXXX zu tragen, syrischer Staatsbürger zu sein und am XXXX geboren worden zu sein. Die Erstbefragung erfolgte in Anwesenheit des Onkels väterlicherseits des Beschwerdeführers XXXX , sowie einer Rechtsberatung des Beschwerdeführers. Seine Muttersprache sei Arabisch und er sei Moslem. Er habe eine Schwester und drei Brüder. Er habe im Libanon zwei Jahre lang eine Schule besucht und habe keine Berufsausbildung. Er habe Österreich wegen der guten Familienzusammenführung als Zielland auserkoren. Er sei vom Libanon weg immer mit seinem Onkel XXXX unterwegs gewesen. Zu seiner Flucht konnte er lediglich angeben, dass in Syrien Krieg herrsche. Man könne dort nicht in die Schule gehen. Das Leben sei teuer geworden und man könne in diesem Land nicht mehr leben. Er persönlich habe Angst vor dem Krieg.
3. Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Oberpullendorf vom 15.09.2022, 1 Ps 128/22s-4, wurde dem Onkel XXXX , die Obsorge über den minderjährigen Beschwerdeführer übertragen.
4. In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, im Weiteren: BFA, am 13.10.2022 gab er in Anwesenheit seines gesetzlichen Vertreters unter anderem an, syrischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und Moslem bzw. Sunnit zu sein. Er sei im „Dorf XXXX , Stadt Aleppo in Syrien“ geboren. Er habe dort von der Geburt bis zu seiner Ausreise in den Libanon, die im Jahr 2015 stattgefunden habe, gewohnt. Danach habe er sechs Jahre in der Stadt Bekaa im Libanon gelebt. Anschließend sei er gemeinsam mit seinem Onkel XXXX für ca. zwei Wochen wieder nach Syrien zurückgekehrt und schließlich über die Türkei, wo er sich auch ca. einen Monat aufgehalten habe, Griechenland, Nordmazedonien, Serbien und Ungarn bis nach Österreich gereist. In Österreich befände sich neben seinem Onkel noch ein Cousin, der jedoch nicht der Sohn von XXXX sei. Seine Geschwister seien ebenfalls noch minderjährig und befänden sich bei seinen Eltern im Libanon.
Zum Nachweis seiner Identifikation legte er einen Personenregisterauszug seiner Familie vor.
Der BF erzählte, dass er in Österreich gemeinsam mit seinem Onkel XXXX lebe.
In Syrien habe er mit seiner Familie in einem kleinen Haus in „ XXXX “ gewohnt. Im Libanon habe er in einem Flüchtlings-Camp gewohnt, wo er ca. zwei Jahre lang eine Schule besucht habe. Seine Familie habe dort von einer monatlichen UN-Unterstützung von ca. USD 140.--gelebt. Seiner Familie gehe es im Libanon schlecht; es gebe dort keine Schulen, keinen Strom und auch kein Essen. Seine Geschwister seinen für eine Ausreise noch zu klein gewesen; er wolle in Österreich eine Schule besuchen. Er selbst habe darauf gedrängt, gemeinsam mit seinem Onkel nach Österreich zu reisen. Er wolle eine Schule besuchen und Fußballer werden. Er wolle in Österreich bleiben; er wisse nicht, was er in Syrien machen sollte. Es gebe dort kein Essen und keine Zukunft. Vom Krieg in Syrien habe er nichts mitbekommen, da er damals noch zu klein gewesen sei. Er sei bei einem Angriff jedoch an der Hand verletzt worden, wo auch heute noch eine Narbe sichtbar sei. Das Haus in „ XXXX “ sei zerstört worden.
5. Mit Bescheid des BFA vom 21.11.2022, Zl. 1292090807 / 220008491, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer jedoch der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Arabische Republik Syrien zuerkannt (Spruchpunkt II.) und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde im Wesentlichsten zusammenfassend in dieser Entscheidung ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in Syrien nicht persönlich verfolgt worden sei. Was die von ihm angegebenen Rückkehrbefürchtungen nach Syrien betreffe, habe der Beschwerdeführer sein Vorbringen ausschließlich auf Befürchtungen, im Rahmen des im Lande herrschenden Konfliktes zufällig getötet zu werden bzw. von der schlechten Sicherheits- und Versorgungslage negativ betroffen zu sein, gestützt. Der Beschwerdeführer habe weder das Mindestalter für eine Einberufung zum syrischen Militär erreicht, noch sei aus den Länderberichten und seinen Angaben ableitbar, dass die kurdischen Einheiten versucht hätten, den Beschwerdeführer zu rekrutieren oder generell Kinder rekrutieren würden. Da sich weder aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers noch aus internationalen Länderberichten hinreichende Anhaltspunkte für eine Verfolgung ergeben hätten, sei kein unter Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (in der Folge: GFK) zu subsumierender Sachverhalt ableitbar. Auch die Minderjährigkeit und das Kindeswohl des BF berücksichtigend habe der Beschwerdeführer eine aktuelle mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgungsgefahr nicht glaubhaft machen können. Damit habe auch eine Verfolgungsgefahr nicht festgestellt werden können.
Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer nach dessen eigenen Ausführungen am 12.12.2022 zugestellt.
6. Gegen die abweisende Entscheidung hinsichtlich der Gewährung des Status eines Asylberechtigten erhob der BF, vertreten die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, mit Schriftsatz vom 29.12.2022, eingelangt im BFA am selben Tag, fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).
Begründend wurde darin zusammengefasst ausgeführt, dass der Beschwerdeführer aufgrund des Krieges und der schlechten Sicherheitslage seine Heimat verlassen habe müssen. Das Haus seiner Familie in Syrien sei zerstört worden. Der BF selbst habe vorgebracht, dass er Angst vor Entführungen, Bomben und Raketenangriffen habe. Er selbst sei, als er noch jünger gewesen sei, von einem Granatsplitter oder etwas Ähnlichem an der Hand verletzt worden. Er habe eine Narbe davongetragen. Außerdem habe er keine Schule besuchen können. Der BF stamme aus einer Familie notorischer Wehrdienstverweigerer und werde daher deswegen in Syrien verfolgt werden. Das BFA hätte sich bei der Beurteilung des Falles nicht nur auf das Vorbringen des minderjährigen Beschwerdeführers konzentrieren dürfen, sondern hätte die Verpflichtung gehabt, zu ermitteln, ob die vorliegende Gemengelage im speziellen Fall Asylrelevanz bergen könnte. Es sei notorisch, dass in Syrien auch Minderjährige sowohl durch die Armee als auch durch bewaffnete Verbände rekrutiert würden. Der Beschwerdeführer sei Flüchtling im Sinne der GFK, und es wäre ihm internationaler Schutz zu gewähren gewesen. Spruchpunkt I. sei aufgrund von erheblichen Verfahrensfehlern und einer unrichtigen Rechtsanwendung erlassen worden und daher unzulässig.
Mit seinem Beschwerdevorbringen beantragte der Beschwerdeführer auch die Anberaumung und Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG.
7. Die gegenständliche Beschwerde und die Unterlagen des Verwaltungsverfahrens wurden dem BVwG am 12.01.2023, mit Schreiben des BFA vom 10.01.2023, zur Entscheidung vorgelegt.
8. Mit der Ladung zur mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde dem Beschwerdeführer vom BVwG umfangreiches aktuellstes Informationsmaterial zu Syrien, insbesondere der EASO – Leitfaden Syrien vom November 2021, der EUAA-Bericht „Syria Security situation“ vom September 2022, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien „Fragen des BVwG zur Bestrafung von Wehrdienstverweigerung und Desertion“ vom 16.09.2022, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien „Fragen des BVwG zu Rückkehrern nach Syrien“ vom 14.10.2022, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien „Fragen des BVwG zu Strafregisterbescheinigung und Sicherheitsfreigabe“ vom 14.10.2022, sowie das aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 29.12.2022 zum Parteiengehör übermittelt.
9. Am 27.02.2023 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein eines Dolmetschers für die arabische Sprache statt, bei welcher der Beschwerdeführer in Anwesenheit seines gesetzlichen Vertreters und seiner Rechtsvertreterin einvernommen wurde. Das BFA blieb der Verhandlung entschuldigt fern.
Im Rahmen der Verhandlung wurden sowohl der Beschwerdeführer selbst, als auch sein Obsorge-berechtigter Onkel zu den persönlichen Verhältnissen des BF, dessen Leben in Syrien, seinen Familienangehörigen sowie zu seinen Fluchtgründen befragt.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
2. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des verfahrensgegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz des BF vom 03.01.2022, der diesbezüglichen Erstbefragung am 03.01.2022 und der Einvernahme des BF vor dem BFA am 13.10.2022, der vom BF im Asylverfahren vorgelegten Unterlagen, die seine Identität bestätigen, des angefochtenen Bescheides des BFA vom 21.11.2022, Zl. 1292090807 / 220008491, der gegen diesen Bescheid eingebrachten Beschwerde vom 29.12.2022, der Einsichtnahme in die Bezug habenden Verfahrensunterlagen des BFA, einer Berücksichtigung des EUAA – Leitfadens Syrien vom Februar 2023, des EUAA COI Report: Syria – Security situation vom September 2022, des EUAA COI Report: Syria – Targeting of individuals vom September 2022, der UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, vom März 2021, einer Anfragebeantwortung der EU-Asylagentur vom 08.11.2022: Major human rights, security, and humanitarian developments, des Jahresberichts zu Menschenrechtsverletzungen im Jahr 2022 des Syrian Human Rights Committee (SHCR) in Syrien vom Jänner 2023, einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien „Fragen des BVwG zu Rückkehrern nach Syrien“ vom 14.10.2022, einer Anfragebeantwortung von ACCORD zur Frage von Wehrdienstverweigerung und Desertion in Syrien vom 08.09.2022, des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Syrien vom 29.12.2022 (aus dem COI-CMS – Version 8), einer Einsichtnahme in das Strafregister des Beschwerdeführers und den Ergebnissen der am 27.02.2022 im BVwG durchgeführten Beschwerdeverhandlung, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
2.1. Zur Person und Familie des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist syrischer Staatsangehöriger, Araber und Moslem. Seine Muttersprache ist Arabisch. Er ist mit mittlerweile 12 Jahren alt und damit immer noch minderjährig, wobei er jedoch wesentlich jünger als 12 Jahre alt wirkt. Der Beschwerdeführer hat ein noch sehr kindliches Auftreten. Er hat drei jüngere Brüder und eine jüngere Schwester. Die Eltern und die Geschwister des Beschwerdeführers leben derzeit in einem Flüchtlingslager im Libanon. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Familie in Kontakt. Der Beschwerdeführer wurde im Gouvernement Aleppo in Syrien geboren. Er lebte dort im Ort XXXX , ca. 50 km südsüdwestlich von Aleppo an der Governementsgrenze bis zum Jahr 2014. Das der Familie des BF gehörende Wohnhaus in XXXX wurde zerstört und ist nicht mehr bewohnbar. Nach einem Aufenthalt an mehreren unbekannten Orten in Syrien verließ der Beschwerdeführer im Jahr 2019 Syrien mit seiner Familie und wohnte von 2019 bis ca. Mitte 2021 im Libanon in einem Flüchtlingslager. XXXX ist der Heimatort des Beschwerdeführers und befindet sich derzeit unter der Kontrolle des syrischen Assad-Regimes.
Der Beschwerdeführer hat in Syrien keine Schule besucht. Er besuchte im Libanon ca. zwei Jahre lang eine Schule. Er hat keine Berufsausbildung und keinen Beruf ausgeübt.
Im Jahr 2021 reiste der Beschwerdeführer mit einem Onkel väterlicherseits, XXXX , aus dem Libanon wieder aus, kehrte für ca. zwei Wochen nach Syrien zurück und reiste danach über die Türkei, Griechenland, Nordmazedonien, Serbien und Ungarn bis nach Österreich, wo er am 03.01.2022 gemeinsam mit seinem Onkel den verfahrensgegenständlichen Antrag auf Zuerkennung des Status von Asylberechtigten beantragte.
Der Beschwerdeführer ist gesund. Es geht ihm gut und er fühlt sich gesund.
2.2. Zu den Fluchtgründen und zur Gefährdung bei einer Rückkehr nach Syrien:
Der Beschwerdeführer ist ein unmündiger Minderjähriger und mit seinen zwölf Lebensjahren nicht im wehrpflichtigen Alter. Er hat seinen Wehrdienst in Syrien noch nicht abgeleistet.
Der Beschwerdeführer ist an seinem Heimatort nicht in Gefahr, zur Ableistung des Wehrdienstes zwangsrekrutiert oder aus sonstigen Gründen verfolgt zu werden.
Dem Beschwerdeführer droht keine Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung durch die syrische Regierung.
Der Beschwerdeführer war in Syrien nie einer individuell gegen ihn gerichteten, konkreten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt.
Aufgrund seiner Ausreise und seiner Asylantragstellung in Österreich droht dem Beschwerdeführer nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Inhaftierung und Folter wegen der Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung.
Auch sonst ist der Beschwerdeführer nicht in Gefahr, aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit der Anwendung von physischer und/oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.
2.3. Zur maßgeblichen Situation in Syrien:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 29.12.2022:
„Politische Lage:
Letzte Änderung: 29.12.2022
Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.01.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 25.02.2019). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus ba’athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021). Das überwiegend von Alawiten geführte Regime präsentiert sich als Beschützer anderer religiöser Minderheiten. In der Praxis hängt der politische Zugang nicht von der Religionszugehörigkeit ab, sondern von der Nähe und Loyalität zu Assad und seinen Verbündeten (FH 24.02.2022).
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen („Shabiha“). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018).
Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.08.2016). Ein Ende der Kampfhandlungen in Syrien ist nicht in Sicht. Der Konflikt ist eingefroren, das Land ist geteilt. Dank russischer Unterstützung hat Machthaber Bashar al-Assad seine Macht wieder gefestigt, auch wenn seine Truppen nur einen Teil des Landes – die Rede ist von rund zwei Dritteln – kontrollieren (DF 16.11.2022).
Die Verfassung schreibt die Vormachtstellung der Vertreter der Ba’ath-Partei in den staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft vor, und Assad und die Anführer der Ba’ath-Partei beherrschen als autoritäres Regime alle drei Regierungszweige. Die syrische Verfassung stellt auch sicher, dass die Ba’ath-Partei die Mehrheit in allen Regierungsgremien und Vereinigungen der Bevölkerung, wie Arbeiter- und Frauenorganisationen, hat (USDOS 12.04.2022). Mit dem Dekret von 2011 und den Verfassungsreformen von 2012 wurden die Regeln für die Beteiligung anderer Parteien formell gelockert. In der Praxis unterhält die Regierung einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat, um Oppositionsbewegungen zu überwachen und zu bestrafen, die Assads Herrschaft ernsthaft in Frage stellen könnten (FH 24.02.2022). Der Präsident stützt seine Herrschaft insbesondere auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Nachrichtendienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. So hat sich in Syrien ein politisches System etabliert, in dem viele Institutionen und Personen miteinander um Macht konkurrieren und dabei kaum durch Verfassung und bestehenden Rechtsrahmen kontrolliert werden, sondern v. a. durch den Präsidenten und seinen engsten Kreis. Trotz gelegentlicher interner Machtkämpfe stehen Assad dabei keine ernst zu nehmenden Kontrahenten gegenüber. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle seither verteidigt oder sogar weiter ausgebaut und profitieren durch Schmuggel und Korruption wirtschaftlich erheblich. Durch diese Entwicklungen der letzten Jahre sind die Schutzmöglichkeiten des Individuums vor staatlicher Gewalt und Willkür – welche immer schon begrenzt waren – weiterhin deutlich verringert worden (AA 29.11.2021).
Ausländische Akteure wie Iran, Russland und die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den vom Regime kontrollierten Gebieten aus. In anderen Gebieten ist die zivile Politik häufig den von der Türkei unterstützten bewaffneten Gruppen oder der Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) untergeordnet (FH 24.02.2022).
Wahlen:
Wahlen in Syrien dienen nicht dem Finden von Entscheidungsträgern, sondern der Aufrechterhaltung der Fassade von demokratischen Prozessen durch den Staat nach außen. Sie fungieren als Möglichkeit, relevante Personen in Syrien zu „managen“ und Loyalisten dazu zu zwingen, ihre Hingabe zum Regime zu demonstrieren. Entscheidungen werden von den Sicherheitsdiensten oder dem Präsidenten auf Basis ihrer Notwendigkeiten getroffen - nicht durch gewählte Personen (BS 23.02.2022). Im Juli 2020 fanden nach zweimaligem Verschieben des Wahltermins aufgrund der COVID-19-Pandemie die dritten Parlamentswahlen seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs statt. Vom Urnengang ausgeschlossen waren Syrer, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete im Nordwesten und Nordosten Syriens lebten (COAR 27.07.2020).
Die Wahlbeteiligung lag bei 33,7 % (BS 23.02.2022). Die herrschende Ba’ath-Partei von Präsident Bashar al-Assad gewann wie erwartet die Mehrheit. Die Ba’ath-Partei und deren Verbündete schlossen sich zum Bündnis der „Nationalen Einheit“ zusammen (DS 21.07.2020) und erhielten 70 % der Parlamentssitze (Duclos 31.07.2020). Die übrigen Sitze gingen an Parteien, die mit der Ba’ath-Partei verbündet sind, und an nominell unabhängige Kandidaten mit Verbindungen zu Präsident Assad (COAR 27.07.2020).
Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen Einflussnahme. Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und durch vom Regime bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords und Schmuggler, welche das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (WP 22.07.2020). Der Wahlprozess soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist. Syrische Bürger konnten überall innerhalb der vom Regime kontrollierten Gebiete wählen; es gab jedoch keine Al-Jumhuriya.net-Liste der registrierten Wähler in den Wahllokalen und somit keinen Mechanismus zur Überprüfung, ob Personen an verschiedenen Wahllokalen mehrfach gewählt haben. Aufgrund der Vorschriften bei Reihungen auf Wahllisten waren alternative Kandidaten standardmäßig nur ein Zusatz zu den Kandidaten der Ba’ath-Partei (AAN/MEI 24.07.2020). Somit war die Reihung auf der Liste durch das Regime und die Nachrichtendienste wichtiger als die Unterstützung durch die Bevölkerung oder Stimmen (BS 23.02.2022).
Im Mai 2021 wurden in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sowie in einigen syrischen Botschaften Präsidentschaftswahlen abgehalten, bei denen Bashar al-Assad mit 95,1 % (78 % Wahlbeteiligung, ÖB 01.10.2021) gewann und damit für eine weitere Amtsperiode von sieben Jahren wiedergewählt wurde. Zwei kaum bekannte Personen waren als Gegenkandidaten angetreten und erhielten 1,5 % und 3,3 % der Stimmen (DS 28.05.2021; vgl. Reuters 28.05.2021).
Politiker der Exilopposition waren von der Wahl ausgeschlossen. Die Europäische Union erkennt die Wahl nicht an, westliche Regierungen bezeichnen sie als „weder frei noch fair“ und als „betrügerisch“, und die Opposition nannte sie eine „Farce“ (DS 28.05.2021).
Der politische Prozess gemäß UN-Sicherheitsratsresolution 2254 unter Ägide der Vereinten Nationen stagniert, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden Blockadehaltung des jegliche Zugeständnisse verweigernden Regimes (AA 29.11.2021). Am 22.11.2022 fand das 19. Treffen des sogenannten Astana-Formats zu Syrien statt. Es bietet ein Forum für die drei Garantenstaaten des syrischen Friedens - Russland, die Türkei und Iran - sowie für Delegierte der syrischen Regierung und Opposition, um sozioökonomische und humanitäre Fragen sowie Fragen des Staatsaufbaus zu erörtern (FB 22.11.2022). Bei dieser Gelegenheit bekräftigten die Länder ihr festes Engagement für die Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territoriale Integrität Syriens sowie die Notwendigkeit, den Kampf gegen den Terrorismus fortzusetzen (NA 23.11.2022).
Gebietskontrolle:
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden. Diese jüngste Phase der Deeskalation ist jedoch von Natur aus unbeständig und konnte vor allem dank des fragilen russisch-türkischen Bündnisses im Nordwesten Syriens und der vorübergehenden, aber immer noch andauernden US-Präsenz im Nordosten Syriens aufrechterhalten werden. Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (IPS 20.05.2022). Vor allem Teile des Nordens, Nordwestens und Nordostens Syriens befinden sich weiterhin außerhalb der Kontrolle der Regierung (OHCHR 28.06.2022).
Am Syrienkonflikt ist eine Vielzahl von Akteure beteiligt (IL 12.08.2022). Die Präsenz ausländischer Streitkräfte, die ihren politischen Willen geltend machen, untergräbt weiterhin die staatliche Souveränität, und Zusammenstöße zwischen bewaffneten regimefreundlichen Gruppen deuten darauf hin, dass die Regierung nicht in der Lage ist, die Akteure vor Ort zu kontrollieren (BS 29.04.2020). Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) sind nicht in der Lage, Gebiete von der Türkei zurückzuerobern. Die Amerikaner, Russen, Israelis und Iraner akzeptieren die derzeitige Pattsituation (MEI 26.04.2022). Darüber hinaus hat eine aufstrebende Klasse wohlhabender Kriegsprofiteure begonnen, ihren wirtschaftlichen Einfluss und den Einfluss von ihnen finanzierter Milizen zu nutzen, und innerhalb der staatlichen Strukturen nach legitimen Positionen zu streben (BS 29.04.2020). Das Regime hat zwei Lehren aus dem Konflikt gezogen: Widerspruch mit allen Mitteln niederzuschlagen und verschiedene Akteure gegeneinander auszuspielen, um an der Macht zu bleiben. Aber diese Taktik bringt nicht wirkliche Stabilität oder Sicherheit. Ein permanenter Kampf um ein Minimum an Kontrolle inmitten eines sich verschlechternden sozioökonomischen Umfelds, in dem seine Souveränität von internen und externen Akteuren infrage gestellt wird, ist die Folge (BS 23.02.2022).
Die nordwestliche Ecke der Provinz Idlib, an der Grenze zur Türkei, ist die letzte Enklave der traditionellen Opposition gegen Assads Herrschaft. Sie beherbergt Dutzende von hauptsächlich islamischen bewaffneten Gruppen, von denen die Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) dominiert (MEI 26.04.2022). Die dortigen Lokalräte werden von bewaffneten Gruppen beherrscht oder von diesen umgangen (BS 23.02.2022).
Der Islamische Staat (IS) wurde im März 2019 aus seinem Gebiet in Syrien zurückgedrängt, nachdem kurdische Kräfte seine letzte Hochburg erobert hatten (FH 04.03.2020). Im Nordosten aber auch in anderen Teilen des Landes verlegt sich der IS verstärkt auf Methoden der asymmetrischen Kriegsführung. Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 01.10.2021).
Nordost-Syrien
2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), deren Mitglieder die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) gründeten, gekommen sein. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine "zweite Front" in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba'ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrin, 'Ain al-'Arab (Kobane) und die Jazira von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017). Im März 2016 wurde in dem Gebiet, das zuvor unter dem Namen "Rojava" bekannt war, die Democratic Federation of Northern Syria ausgerufen, die sich über Teile der Provinzen Hassakah, Raqqa und Aleppo und auch über Afrin erstreckte (SWP 7.2018; vgl. KAS 04.12.2018). 2018 übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrin mithilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe (taz 15.10.2022).
Der militärische Arm der PYD, die YPG, ist die dominierende Kraft innerhalb des Militärbündnisses Syrian Democratic Forces (SDF). Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Fluchtwelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Die erhoffte Kriegsdividende, für den Kampf gegen den IS mit einem autonomen Gebiet "belohnt" zu werden, ist bisher ausgeblieben (KAS 04.12.2018a). Die syrische Regierung erkennt weder die kurdische Enklave noch die Wahlen in diesem Gebiet an (USDOS 12.04.2022). Die Gespräche zwischen der kurdischen Selbstverwaltung (Syrian Democratic Council; politischer Arm der SDF) und der Regierung in Damaskus im Hinblick auf die Einräumung einer Autonomie und die Sicherung einer unabhängigen Stellung der SDF innerhalb der syrischen Streitkräfte sind festgefahren. Die Zusammenarbeit auf technischer Ebene resp. der Güteraustausch (Raffinierung/Kauf von Erdöl; Aufkauf von Weizen) hat sich auch verkompliziert (ÖB 01.10.2021). Im Juni 2022 erklärte Präsident Erdoğan, dass eine neue türkische Militäroperation geplant sei, die sich gegen Gebiete an der syrisch-türkischen Grenze wie Kobane ('Ayn al-'Arab), Tal Rifa'at und Manbij richten würde, die von den kurdisch SDF kontrolliert werden (AJ 18.11.2022).
Das syrische Regime, die HTS und andere bewaffnete Gruppen in Idlib sowie die PYD in ihren Regionen haben autoritäre Systeme beibehalten oder aufgebaut. Dabei setzt das Regime am meisten und die PYD am wenigsten auf gewaltsame Unterdrückung zur Machterhaltung. Doch selbst im günstigsten Fall sind die Möglichkeiten der Bürger, ihren Interessen Gehör zu verschaffen, stark eingeschränkt (BS 23.02.2022). Die syrischen Kurden unter Führung der PYD beanspruchen in den Selbstverwaltungskantonen ein Gesellschaftsprojekt aufzubauen, das von basisdemokratischen Ideen, von Geschlechtergerechtigkeit, Ökologie und Inklusion von Minderheiten geleitet ist. Während Befürworter das syrisch-kurdische Gesellschaftsprojekt als Chance für eine künftige demokratische Struktur Syriens sehen, betrachten Kritiker es als realitätsfremd und autoritär (KAS 04.12.2018). Die kurdischen Führungskräfte der YPG erklären, ihr Ziel sei die regionale Autonomie innerhalb eines dezentralisierten Syriens, nicht die Unabhängigkeit (Reuters 14.11.2022). Die PYD ist weniger gewalttätig in ihrer Repression, übt aber eine strikte Kontrolle in ihrem Einflussbereich aus. Während die kurdische Verfassung demokratisch ist, trägt die Herrschaft der PYD starke autoritäre Züge; der politische Wettbewerb ist nicht offen, sondern wird sorgfältig kontrolliert (BS 23.02.2022). Zwischen den rivalisierenden Gruppierungen unter den Kurden gibt es einerseits Annäherungsbemühungen, andererseits kommt es im Nordosten aus politischen Gründen und wegen der schlechten Versorgungslage zunehmend auch zu innerkurdischen Spannungen zwischen dem sogenannten Kurdish National Council, der Masoud Barzanis KDP (Anm.: Kurdistan Democratic Party - Irak) nahesteht und dem ein Naheverhältnis zur Türkei nachgesagt wird, und der Democratic Union Party (PYD), welche die treibende Kraft hinter der kurdischen Selbstverwaltung ist, und die aus Sicht des Kurdish National Council der PKK zu nahe steht (ÖB 01.10.2021). Die Türkei betrachtet die YPG als syrischen Ableger der PKK. Obwohl die USA und die EU die PKK als Terrororganisation betrachten, betrachten sie die YPG als eine eigenständige Organisation und führen sie nicht auf ihren Terrorlisten (SWP 30.05.2022).
Sicherheitslage:
Letzte Änderung: 29.12.2022
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Es ist zu beachten, dass die durch die türkischen Offensiven im Nordosten ausgelöste Dynamik verlässliche grundsätzliche Aussagen und Trendeinschätzungen schwierig macht. Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB 01.10.2021).
Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien [Anm.: zu verbleibenden Rückzugsgebieten des Islamischen Staates (IS) siehe Abschnitte zu den Regionen]:
Quelle: CC 03.11.2022 mit Stand 30.09.2022
Quelle: UNHRC 14.09.2022 (mit Stand 6.2022)
Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 04.12.2018b). Mitte des Jahres 2016 kontrollierte die syrische Regierung nur ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der "wichtigsten" Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt (Reuters 13.04.2016). Militärisch kontrolliert das syrische Regime den Großteil des Landes mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die andauernde und massive militärische Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten des Irans bzw. durch von Iran unterstützte Milizen einschließlich Hizbollah, der bewaffnete oppositionelle Kräfte wenig entgegensetzen können. Die Streitkräfte des Regimes selbst sind mit Ausnahme einiger Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 29.11.2021). Das Wiederaufflammen der Kämpfe und die Rückkehr der Gewalt geben laut UNHRC (UN Human Rights Council) Anlass zur Sorge. Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.09.2021). Der Sondergesandte des Generalsekretärs für Syrien Geir O. Pedersen hat am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat vor den besorgniserregenden und gefährlichen Entwicklungen in Syrien gewarnt. Dabei wies er insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022).
Die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die Arabische Republik Syrien stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien, die sie als "Operation Claw-Sword" bezeichnet und die nach türkischen Angaben auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte und der syrischen Streitkräfte abzielt, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße getroffen hat (HRW 07.12.2022). Die Türkei hat seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien gestartet (France24 20.11.2022). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 07.12.2022
Im Nordwesten Syriens führte das Vordringen der Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen. Russland verstärkte seine Luftangriffe in Idlib, und die Türkei griff kurdische und Regimekräfte an. Russland setzte die Bombardierungen in der Provinz Idlib am 7., 11. und 17.10.2022 fort und belastete damit den Waffenstillstand vom März 2020 (ICG 10.2022).
Die folgende Karte zeigt die verschiedenen internationalen Akteure und deren militärische Interessenschwerpunkte in Syrien:
Mittlerweile leben 66 % der Bevölkerung wieder in den von der Regierung kontrollierten Territorien (ÖB 01.10.2021). Mehr als zwei Drittel der im Land verbliebenen Bevölkerung leben in Gebieten unter Kontrolle des syrischen Regimes. Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte HTS sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und ihr nahestehender bewaffneter Gruppierungen in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten SDF und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes. Auch in formal vom Regime kontrollierten Gebieten sind die Machtverhältnisse mitunter komplex, die tatsächliche Kontrolle liegt häufig bei lokalen bewaffneten Akteuren (AA 29.11.2021).
Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Milllionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen des Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.01.2022). Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).
In weiten Teilen des Landeseine besteht eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. Laut der COI gab es in Afrin und Ra's al-'Ayn zwischen Juli 2020 und Juni 2021 zahlreiche Sicherheitsvorfälle durch Sprengkörper und Sprengfallen (u.a. IEDs), die häufig an belebten Orten detonierten und bei denen mindestens 243 Zivilisten ums Leben kamen. Laut dem UN Humanitarian Needs Overview von 2020 sind in Syrien 11,5 Mio. Menschen der Gefahr durch Minen und Fundmunition ausgesetzt. 43 % der besiedelten Gebiete Syriens gelten als kontaminiert. Ca. 25 % der dokumentierten Opfer durch Minenexplosionen waren Kinder. UNMAS (United Nations Mine Action Service) hat insgesamt bislang mehr als 12.000 Opfer erfasst. Die Großstädte Aleppo, Raqqa, Homs, Dara‘a und Deir ez-Zor sowie zahlreiche Vororte von Damaskus sind hiervon nach wie vor besonders stark betroffen. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Trotz eines "Memorandum of Understanding" zwischen der zuständigen UNMAS und Syrien behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und -Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 29.11.2021).
Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.03.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.03.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem U.S.-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.05.2020). Sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi beging im Februar 2022 beim Eintreffen einer US-Spezialeinheit im Gouvernement Idlib Selbstmord. Als sein Nachfolger wurde Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi ernannt (EUAA 9.2022; vgl. DS 10.03.2022). Am 30.11.2022 bestätigte die Dschihadistenmiliz den Tod von Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi (BAMF 06.12.2022; vgl. CNN 30.11.2022). Das Oberkommando der US-Streitkräfte in der Region bestätigte, dass al-Quraishi Mitte Oktober 2022 bei einer Operation von syrischen Rebellen in der südlichen syrischen Provinz Dara’a getötet wurde (BAMF 06.12.2022; vgl WP 30.11.2022). Der IS ernannte Abu al-Husain al-Husaini al-Quraishi zu seinem Nachfolger (CNN 30.11.2022; vgl. BAMF 06.12.2022). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle, und Attentate (DIS 29.06.2020). Generell nimmt die Präsenz des IS in Syrien wieder zu, auch in Landesteilen unter Regimekontrolle. IS-Anschläge blieben im Jahr 2021 auf konstant hohem Niveau. Der Schwerpunkt der Aktivitäten liegt weiterhin im Nordosten des Landes. Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu tun. Es sind zudem Berichte über zunehmende Anschläge in Regimegebieten, insbesondere der zentralsyrischen Wüsten- und Bergregion, in Hama und Homs, bekannt geworden. Mehrere Tausend IS-Kämpfer sowie deren Angehörige befinden sich in Gefängnissen und Lagern in Nordostsyrien in Gewahrsam der SDF. Der IS verfügt weiter über Rückzugsgebiete im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien, bleibt damit als asymmetrischer Akteur präsent, baut Untergrundstrukturen aus und erreicht damit sogar erneut temporäre und punktuelle Gebietskontrolle (AA 29.11.2021). Trotz der starken Präsenz syrischer und russischer Streitkräfte in Südsyrien sind mit dem IS verbundene Kämpfer in der Region aktiv und das syrische Regime ist derzeit nicht in der Lage, IS-Aktivisten in Gebieten zurückzudrängen, die vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen (VOA 24.10.2022). Nach Angaben der International Crisis Group verübten IS-Zellen Ende 2021 durchschnittlich 10 bis 15 Angriffe auf die Streitkräfte der Regierung von Syrien pro Monat, die meisten davon im Osten von Homs und im ländlichen westlichen Deir Ez-Zour. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2022 fort (EUAA 9.2022). Der IS ist im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-Terror-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.02.2022). Der UN-Sicherheitsrat schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022).
Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.06.2020). Der IS profitierte auch von einem Sicherheitsvakuum, das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen Kräfte ihre Aktivitäten aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.03.2021).
[…]
Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu erfassen. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt, außer in der Zahl der aufgrund von Folter getöteten Personen, welche sowohl Zivilisten als auch Kämpfer berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von "Massakern", bei denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind. Zudem sind die Möglichkeiten zur Dokumentation von zivilen Opfern auch von der jeweiligen Konfliktpartei, die ein Gebiet kontrolliert, abhängig (SNHR 01.01.2020; vgl. SNHR 01.01.2021).
SNHR berichtet von 64 getöteten Zivilisten im November 2022, darunter 14 Kinder, zwei Frauen und sechs Personen, die an den Folgen von Folterungen starben. Dabei wurde festgestellt, dass das syrische Regime erneut Streumunition gegen Lager für Binnenvertriebene eingesetzt hat, was ein Kriegsverbrechen darstellt (SNHR 01.12.2022). Die folgende Grafik zeigt die von SNHR dokumentierte Zahl der zivilen Opfer, die von den Konfliktparteien in Syrien im Jahr 2021 getötet wurden, wobei SNHR insgesamt 1.271 getötete Zivilisten zählte, davon 299 Kinder und 134 Frauen (SNHR 01.01.2022):
Quelle: SNHR 01.01.2022
Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) dokumentierte im Zeitraum 01.01.2021 - 02.12.2022 in den syrischen Gouvernements die folgende Anzahl an Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer sowie Todesopfern:
Gouvernements | Vorfälle 2021 | Todesopfer 2021 | Vorfälle 2022 (bis 2.12.) | Todesopfer 2022 (bis 2.12.) |
Deir ez Zor | 469 | 1127 | 284 | 618 |
Daraa | 375 | 649 | 431 | 643 |
Al Hasakeh | 345 | 621 | 323 | 907 |
Aleppo | 303 | 690 | 425 | 1017 |
Idlib | 301 | 690 | 169 | 345 |
Raqqa | 296 | 780 | 253 | 709 |
Hama | 140 | 544 | 87 | 234 |
Homs | 114 | 402 | 99 | 314 |
Rural Damascus | 110 | 137 | 143 | 219 |
As Sweida | 37 | 43 | 29 | 56 |
Quneitra | 31 | 39 | 11 | 21 |
Lattakia | 30 | 70 | 26 | 56 |
Damaskus | 14 | 41 | 14 | 20 |
Tartous | 4 | 8 | 3 | 5 |
Insg. | 2569 | 5841 | 2297 | 5164 |
Quelle: ACLED o.D.; *2022: Zeitraum 01.01. – 30.11.2022
Im Monatsverlauf dokumentierte ACLED im Zeitraum 01.01.2020-30.11.2022 die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):
Quelle: ACLED o.D.; *2022: Zeitraum 01.01.-30.11.2022
Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen. Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu verwenden (ACLED/ACCORD 25.03.2021).
Die folgende Aufstellung listet die konfliktrelevanten Vorfälle im Zeitraum April bis September 2022 mittels Vergleich zwischen dem zweiten und dem dritten Quartal 2022 auf:
Informationen zur Untersuchung von Chemiewaffeneinsätzen in Syrien
Seit der im November 2017 an russischen Vetos im VN-Sicherheitsrat gescheiterten Verlängerung des Mandats des „Joint Investigative Mechanism“ (JIM) fehlte ein Mechanismus, der die Urheberschaft von Chemiewaffeneinsätzen feststellt. Ein, gegen heftigen Widerstand Russlands im Juni 2018 angenommener Beschluss erlaubt nun der Organisation für das Verbot von Chemischen Waffen (OPCW), die Verantwortlichen der Chemiewaffenangriffe in Syrien im Rahmen eines hierfür neu gebildeten „Investigation and Identification Team“ (IIT) zu ermitteln. Dies gilt auch für vergangene, von der Fact Finding Mission (FFM) bestätigte Einsätze, die der 2016/17 tätige JIM nicht abschließend behandelt hat. Im April 2021 legte das IIT seinen zweiten Ermittlungsbericht vor, demzufolge hinreichende Belege vorliegen, dass der Chemiewaffeneinsatz in der Stadt Saraqib im Februar 2018 auf Kräfte des syrischen Regimes zurückzuführen ist. Ein erster Bericht des IIT wurde am 08.04.2020 vorgelegt. Die Untersuchung dreier Angriffe im März 2017 kam zu dem Ergebnis, dass hinreichende Belege vorliegen, dass die syrischen Luftstreitkräfte für den Einsatz von Sarin am 24. und 30.03.2017 sowie Chlorgas am 25.03.2017 in Latamenah verantwortlich sind. Die unabhängigen internationalen Experten der FFM gehen, davon unabhängig, weiter Meldungen zu mutmaßlichen Chemiewaffeneinsätzen nach. So kommt der FFM-Bericht vom 01.03.2019 zu dem Ergebnis, dass bei der massiven Bombardierung von Duma am 07.04.2018 erneut Chemiewaffen (Chlor) eingesetzt wurden („reasonable grounds“). Auch eine Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kam zu diesem Ergebnis. Pressemeldungen zufolge soll das Assad-Regime am 19.05.2019 wiederholt Chlorgas in Kabana/Jabal al-Akrad im Gouvernement Lattakia eingesetzt haben. Die US-Regierung hat hierzu erklärt, dass auch sie über entsprechende Hinweise verfüge, um den Chlorgaseinsatz entsprechend zuzuordnen. Untersuchungen durch FFM bzw. IIT stehen noch aus. Am 01.10.2020 veröffentlichte die FFM zwei weitere Untersuchungsberichte zu vermuteten Chemiewaffeneinsätzen in Saraqib (01.08.2016) und Aleppo (24.11.2018). In beiden Fällen konnte die OPCW angesichts der vorliegenden Informationslage nicht sicher feststellen, ob chemische Waffen zum Einsatz gekommen sind (AA 29.11.2021). Am 26.01.2022 veröffentlichte die Untersuchungskommission der OPCW einen Bericht, in dem sie zu dem Schluss kommt, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 01.09.2015 in Marea, Syrien, ein chemischer Blisterstoff als Waffe eingesetzt wurde (OPCW 26.01.2022). In einem weiteren Bericht vom 01.02.2022, kommt die OPCW zu dem Schluss, dass es außerdem hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 01.10.2016 in Kafr Zeita, Syrien, eine industrielle Chlorflasche als chemische Waffe eingesetzt wurde (OPCW 01.02.2022).
Eine umfangreiche Analyse des Global Public Policy Institute (GPPi) von 2019 konnte auf Basis der analysierten Daten im Zeitraum 2012 bis 2018 mindestens 336 Einsätze von Chemiewaffen im Syrien-Konflikt bestätigen und geht bei 98 % der Fälle von der Urheberschaft des syrischen Regimes aus (AA 29.11.2021)
Das Regime zeigt sich weiterhin nicht willens, die noch offenen Fragen zu seinem Chemiewaffenprogramm aufzuklären. Daher hat die Vertragsstaatenkonferenz des Chemiewaffenübereinkommens (CWÜ) Syrien im April 2021 mit dem Entzug der Stimmrechte sanktioniert. Diese Entscheidung gilt bis zur Erfüllung verschiedener Auflagen, insbesondere der vollständigen Offenlegung von Chemiewaffenbeständen (AA 29.01.2021).
"Versöhnungsabkommen" (auch "Beilegungsabkommen")
Letzte Änderung: 29.12.2022
Die sogenannten "Versöhnungsabkommen" sind Vereinbarungen, die Einzelpersonen, Männern und Frauen, die in ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten leben, die von der syrischen Regierung während militärischer Operationen zurückerobert wurden, auferlegt werden (NMFA 6.2021; vgl. STDOK 8.2017). Der Abschluss der sogenannten „reconciliation agreements“ [in anderen Quellen auch als "settlement agreements" bezeichnet] folgt in der Regel einem Muster, das mit realer Versöhnung wenig gemeinsam hat (ÖB 01.10.2021). Diese Versöhnungsabkommen sind de facto Kapitulationsvereinbarungen (NMFA 5.2022; vgl. SACD 08.11.2021, TIMEP 15.10.2021). Diese Vereinbarungen wurden meist dann unterzeichnet, wenn eine Pattsituation erreicht war, und es dem syrischen Regime nicht gelang, die militärische Macht zu übernehmen (SACD 08.11.2021; vgl. TIMEP 15.10.2021). Laut der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD), eine 2018 gegründete zivilgesellschaftliche Basisbewegung aus Syrien, gehörten zu den Taktiken bisher auch Belagerungen, bei denen das Regime die Menschen in diesen Gebieten nicht nur der Grundversorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten beraubte, sondern sie auch mit Luftangriffen und Granaten beschoss, die Infrastruktur zerstörte und Zivilisten tötete, um das Gebiet schließlich zur Kapitulation und zur Unterzeichnung eines Versöhnungsabkommens zu zwingen (SACD 08.11.2021). Die Regierung hat vor allem Mitglieder der bewaffneten Opposition und bestimmte Gruppen von Zivilisten gezwungen, diese Gebiete zu verlassen oder den Versöhnungsprozess als Bedingung für ihren Verbleib zu durchlaufen (NMFA 5.2022). Im letzteren Fall wird die Person aufgefordert, sich beim Sicherheitsdienst oder dem Sicherheitskomitee in dem Gebiet zu melden. Die Person wird dann festgenommen, befragt und gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, in der sie sich verpflichtet, den Sicherheitsdienst über jegliche Aktivitäten der Opposition in dem Gebiet, in dem sie oder er lebt, zu informieren. Männer, die sich dem Militärdienst entziehen wollen, werden nach Feststellung ihres Status an Militäreinheiten übergeben. Es gibt Quellen, die berichten, dass diejenigen, die freigelassen werden, ein Dokument erhalten. Versöhnungsprozesse scheinen auf Ad-hoc-Basis durchgeführt zu werden, was bedeutet, dass Unterschiede auftreten und keine eindeutige Beschreibung des Prozesses gegeben werden kann (NMFA 5.2022). In vielen Fällen, meist kurz nach der Klärung ihres Status, werden diese Menschen wieder verhaftet, gefoltert und verschwinden gelassen (NMFA 6.2021; vgl. ÖB 01.10.2021).
Die von der Regierung angebotenen Versöhnungsabkommen sind an verschiedene Bedingungen geknüpft (STDOK 8.2017; vgl. ÖB 01.10.2021). Die Bedingungen dieser Abkommen unterscheiden sich von Fall zu Fall (STDOK 8.2017). Sie beinhalteten oft die Ausweisung von Rebellenkämpfern und deren Familien, die dann in andere Regionen des Landes (zumeist im Norden) verbracht werden. Sie werden also auch dazu benutzt, Bevölkerungsgruppen umzusiedeln (ÖB 01.10.2021). Die Wehrpflicht war bisher meist ein zentraler Bestandteil der Versöhnungsabkommen (AA 13.11.2018). Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt werden, sondern stattdessen bei der örtlichen Polizei eingesetzt werden (STDOK 8.2017). Im Rahmen von Versöhnungsabkommen gemachte Garantien der Regierung gegenüber Individuen oder Gemeinschaften werden jedoch nicht eingehalten (EIP 7.2019; vgl. BS 23.02.2022). Die syrischen Behörden haben Einzelpersonen verhaftet, nachdem ihnen die Freilassung zugesichert wurde, und Vereinbarungen über die Freistellung von der Wehrpflicht und über den Dienstort neuer Wehrpflichtiger gebrochen (BS 23.02.2022).
Zuletzt wurde nach Ablauf einer in den sog. Versöhnungsabkommen ausgehandelten einjährigen Frist auch aus den ehemaligen Oppositionshochburgen Ost-Ghouta sowie Dara'a und Quneitra im Süden Syriens ein erneuter Anstieg von Verhaftungen als oppositionell geltender Personen oder humanitärer Helfer sowie Zwangsrekrutierungen berichtet. Während ein Versöhnungsabkommen in einer Region geachtet wird, kann dies bei Überquerung eines Checkpoints bereits missachtet werden, und es kann zu willkürlichen Verhaftungen kommen (AA 04.12.2020). In neuen Versöhnungsabkommen im Süden Syriens erzwang das Regime die Vertreibung von Zivilisten - ohne Beweise für ihre Beteiligung an den Feindseligkeiten - allein aufgrund ihrer öffentlichen Opposition gegen das Regime oder der Weigerung ehemaliger Oppositionskämpfer, sich den Reihen der Regimetruppen anzuschließen. Die erzwungene Vertreibung in Syrien hat erhebliche Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, da Familien auseinandergerissen werden und die Zivilbevölkerung gezwungen ist, in Vertriebenenlagern zu leben, in denen es an grundlegenden Dingen fehlt (TIMEP 15.10.2021). Berichten zufolge sind Personen in Gebieten, die erst vor kurzer Zeit durch die Regierung wiedererobert wurden, aus Angst vor Repressalien zurückhaltend, über die Situation in diesen Gebieten zu berichten (USDOS 12.04.2022).
Soweit bekannt, gibt es auch individuelle Versöhnungsabkommen für Syrer, die aus dem Ausland nach Syrien zurückkehren wollen, bzw. für Vertriebene, die in ein Gebiet unter der Kontrolle der Behörden zurückkehren. Der Abschluss eines individuellen Versöhnungsabkommens ist auch hier kein genau definiertes Verfahren und kann von Person zu Person und von Botschaft zu Botschaft variieren; in der Regel beinhaltet es jedoch die Unterzeichnung eines Dokuments in einer Botschaft, in dem die Person ihre "Straftat" zugibt. Versöhnungsabkommen bieten allerdings keinen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen (NMFA 5.2022; vgl. HRW 13.01.2022). In den letzten Jahren wurden zahlreiche Fälle von Verhaftungen und anderen Verstößen gegen die Abkommen durch die syrischen Behörden dokumentiert (NMFA 5.2022). Die syrischen Behörden und regierungsnahe Milizen verhaften und misshandeln weiterhin willkürlich Menschen, oder lassen sie verschwinden, darunter auch Personen, die sogenannte Versöhnungsabkommen unterzeichnet haben (HRW 13.01.2022; vgl. TIMEP 15.10.2021)
Nordwest-Syrien
Letzte Änderung: 29.12.2022
Auf diesem Kartenausschnitt sind die Machtverhältnisse in Nordwest-Syrien eingezeichnet:
Während die Assad-Regierung die Kontrolle über etwa 70 % Syriens wiedererlangt oder aufrechterhalten hat, stellt die nordwestliche Region, insbesondere das Gouvernement Idlib, ein bedeutendes Widerstandsgebiet der Rebellen dar (USCIRF 11.2022). In der nordwestlichen Provinz Idlib und den angrenzenden Teilen der Provinzen Nord-Hama und West-Aleppo befindet sich die letzte verbleibende Hochburg der Opposition. Die Region wird von der dschihadistischen Gruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) beherrscht, beherbergt aber auch etablierte Rebellengruppen (BBC 15.03.2022). Während die syrische Regierung die gesamte Provinz zurückerobern will, versucht Ankara zu verhindern, dass Idlib an Damaskus fällt, und daraufhin noch mehr Syrer in die Türkei flüchten (ORF 14.03.2021). Die Türkei hat die HTS als terroristische Organisation eingestuft, doch hat sie die Rebellengruppe in den letzten Jahren nicht aktiv daran gehindert, die Verwaltungsmacht in Idlib zu übernehmen (USCIRF 11.2022). Idlib ist bereits seit den Anfängen des Konfliktes eine Oppositionshochburg. Im März 2015 übernahmen oppositionelle Gruppierungen die Kontrolle über die Provinz (CRS 02.01.2019). Im Mai 2017 wurden durch eine Vereinbarung in Astana (Kasachstan) zwischen Russland und Iran (als Verbündete des syrischen Regimes) einerseits, und der Türkei (als Unterstützer der Rebellen) andererseits, vier Deeskalationszonen eingerichtet, die unter anderem ganz Idlib sowie auch Teile der Provinzen Lattakia, Aleppo und Hama umfassten. Einheiten der syrischen Regierung führen jedoch trotz dieser Vereinbarung militärische Operationen in diesem Gebiet durch und eroberten bis Mitte 2018 etwa die Hälfte der Deeskalationszone im Nordwesten zurück (CRS 02.01.2019; vgl. KAS 6.2020). Im März 2020 wurde ein Waffenstillstand zwischen Russland und der Türkei geschlossen, der eine von Russland unterstützte Offensive der Regierung auf die Provinz Idlib beendete. Der Waffenstillstand wurde in den letzten zwei Jahren wiederholt verletzt, wobei zahlreiche Menschen getötet und verletzt wurden (VOA 06.11.2022).
Die folgende Karte zeigt die Vorfälle sowie die Intensität der Kampfhandlungen im Norden Syriens von Januar bis Juni 2022:
Quelle: UNHRC 14.09.2022 (mit Stand 6.2022)
Hier sind die sicherheitsrelevanten Vorfälle des 3. Quartals 2022 auf einer Karte des Carter Center verortet:
Quelle: CC 03.11.2022 (Daten vom Carter Center und ACLED)
Aus dem Nordwesten Syriens wurde eine deutliche Zunahme der konfliktbezogenen Aktivitäten gemeldet: Die Streitkräfte der Regierung setzten verstärkt Artilleriebeschuss ein. Im 3. Quartal 2022 verzeichnete ACLED 1.412 Konfliktfälle zwischen den Streitkräften der Regierung und ihren Verbündeten und den bewaffneten Oppositionsgruppen. Dies ist ein deutlicher Anstieg (+225 %) gegenüber den 434 Konflikten, die im zweiten Quartal verzeichnet wurden. Die Streitkräfte der syrischen Regierung waren an insgesamt 708 von 1.265 Beschussereignissen beteiligt. Trotz dieses massiven Anstiegs gibt es kaum Anzeichen dafür, dass sich die zugrunde liegende Dynamik zwischen der Regierung und der Opposition verändert hat. Der Beschuss scheint vielmehr der Grund für das Ausbleiben militärischer Aktionen zu sein und die Gegner an den Fronten zu zermürben (CC 03.11.2022).
Die Gebiete im Norden um die Städte Afrin und Jarabulus im Norden des Gouvernements Aleppo stehen weiterhin unter der Kontrolle der Türkei und Türkei-naher Milizen, darunter die Syrische Nationalarmee (SNA, vormals „Freie Syrische Armee“). Dort kommt es nach wie vor vereinzelt zu Kampfhandlungen zwischen Türkei-nahen Milizen und der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG (Yekîneyên Parastina Gel) sowie zu asymmetrischen Auseinandersetzungen, darunter zuletzt auch zahlreiche Anschläge mit hohen zivilen Opferzahlen (AA 29.11.2021). Mit Stand Dezember 2022 kontrollierten HTS und andere regierungsfeindliche Gruppen den Nordwesten des Gouvernorats Idlib, während das Regime die Regionen im Süden des Gouvernorats kontrollierte, inklusive der M5-Autobahn (Liveuamap 06.12.2022). Im Oktober 2022 hat die HTS ihre Kämpfer aus Idlib in den Bezirk Afrin entsandt und ist in den Norden vorgedrungen. Die von der HTS eroberten Gebiete standen unter der Kontrolle der syrischen Übergangsregierung (SIG) und ihrer bewaffneten Kräfte, der SNA. Dies war der erste größere Gebietsaustausch zwischen den Kriegsparteien seit zwei Jahren (Forbes 22.10.2022). Bis Ende Oktober 2022 kontrollierte die HTS den größten Teil der nördlichen syrischen Provinz Idlib und verlegte die meisten ihrer Kämpfer nach Afrin und in umliegende Gebiete. Die türkische Regierung, die als Folge der Eroberung ebenfalls mit der Verlegung von Truppen in die Umgebung begann, berichtete jüngst, dass die HTS den Großteil ihrer Streitkräfte wieder aus Afrin abgezogen hat. Seit 2018, als die türkischen Streitkräfte in den kurdischen Kanton Afrin einmarschierten, werden die Stadt und ihre Umgebung von der Türkei in Zusammenarbeit mit der SNA kontrolliert (Atalayar 06.11.2022). HTS geht aktuell gegen den Islamischen Staat (IS) und al-Qaida vor und reguliert nun die Anwesenheit ausländischer Dschihadisten mittels Ausgabe von Identitätsausweisen für die Einwohner von Idlib, ohne welche z.B. das Passieren von HTS-Checkpoints verunmöglicht wird. Die HTS versucht so dem Verdacht entgegenzutreten, dass sie das Verstecken von IS-Führern in ihren Gebieten unterstützt, und darüber hinaus, um ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft bei der Terrorismusbekämpfung zu signalisieren (COAR 28.02.2022). Es wurde allerdings von weiteren Spaltungen innerhalb der verschiedenen HTS-Fraktionen berichtet (AM 22.12.2021).
Viele IS-Kämpfer übersiedelten nach dem Fall von Raqqa 2017 nach Idlib - großteils Ausländer, die für den Dschihad nach Syrien gekommen waren, und beschlossen, sich anderen islamistischen Gruppen wie der Nusra-Front anzuschließen, heute als Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) bekannt. Meistens geschah das über persönliche Kontakte, aber ihre Lage ist nicht abgesichert. Ausreichend Geld und die richtigen Kontaktleute ermöglichen derartige Transfers über die Frontlinie (Zenith 11.02.2022). Laut Schätzungen befinden sich mit Stand April 2020 insgesamt etwa 70.000 oppositionelle Kämpfer in Idlib. Auch al-Qaida und der IS sollen dort Netzwerke unterhalten (KAS 4.2020). Unter den Kämpfern befinden sich auch zahlreiche ausländische Kämpfer (Uiguren, Tschetschenen, Usbeken) (10.2021) und viele Kämpfer aus anderen Gebieten Syriens, wie Ost-Ghouta und Dara'a, die nach der Eroberung durch das Regime nach Idlib flohen (KAS 6.2020).
Im Februar 2019 kam es zu Luftangriffen der syrischen Regierung im Großraum Idlib (ISW 07.03.2019) und im März 2019 wieder zu russischen Luftangriffen auf die Provinz (DS 14.03.2019). Im Mai 2019 weiteten die russische Luftwaffe und syrische Regierungstruppen ihre Boden- und Luftangriffe auf Idlib und Nord-Hama massiv aus (DS 08.05.2019). Im Dezember 2019 intensivierten das Regime und seine Unterstützer die Militäroffensive deutlich. Luftangriffe auf zivile Infrastruktur wie Schulen, Krankenhäuser, Märkte und Flüchtlingslager führten laut den Vereinten Nationen zur größten humanitären Katastrophe im Verlauf des Syrien-Konflikts (AA 29.11.2021; vgl. USDOS 12.04.2022). Die 2019 begonnene Luft- und Bodenoffensiven zur Rückeroberung des Gouvernements Idlib und anderer Gebiete im Nordwesten des Landes wurde während des Jahres 2021 fortgeführt, wobei Zivilisten getötet und mehr als 11.000 Menschen zusätzlich vertrieben wurden (USDOS 12.04.2022).
Im Februar 2020 begann die Türkei die sogenannte Militäroperation "Spring Shield" mit Vergeltungsschlägen gegen das syrische Regime. Anfang März 2020 vereinbarten Russland und die Türkei dann ein zeitlich unbegrenztes Zusatzprotokoll zu dem in Kraft bleibenden Abkommen über die Deeskalationszone Idlib von 2018, das unter anderem eine Waffenruhe in Idlib, die Einrichtung eines Sicherheitskorridors nördlich und südlich der Fernstraße M4 sowie russisch-türkische Patrouillen vorsieht (AA 19.05.2020). Es kommt fast täglich zu Verstößen gegen die Waffenruhe. Beschuss, Luftangriffe und Bombardierungen führen zu Toten und Verletzten unter der Zivilbevölkerung sowie zu Schäden an wichtigen zivilen Infrastrukturen wie Schulen, Krankenhäusern und Wasserstellen. Unsicherheit und Gewalt als Folge des Konflikts sind nach wie vor weit verbreitet, ebenso wie ein hohes Maß an Kriminalität und fehlende Rechtsstaatlichkeit (GPC/UNHCR 24.06.2022). Der Konflikt führte zu massiven humanitären Verwerfungen mit 2,7 Mio. Binnenvertriebenen (ÖB 01.10.2021). Mehr als eine Million Menschen wurden alleine zwischen Dezember 2019 und Februar 2020 vertrieben (UNOCHA 17.02.2020; vgl. OHCHR 18.02.2020). Entlang der M4 und M5 Autobahnen kam es u.a zu täglichem Beschuss, periodischen Luftangriffen und internen Machtkämpfen zwischen nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen. Der Beschuss betraf den Süden Idlibs. Luftangriffe erfolgten in von Zivilisten bewohnten Regionen in Nord-Idlib (UNOCHA 26.02.2021, 26.01.2021, 06.03.2021).
Einem Untersuchungsbericht zu Vorgängen im ersten Halbjahr 2020 zufolge hat die Syrian National Army (SNA) in Afrin und Umgebung möglicherweise Kriegsverbrechen, wie Geiselnahme, grausame Behandlung, Folter und Vergewaltigung begangen. In der gleichen Region wurden zahlreiche Zivilisten durch große improvisierte Sprengsätze sowie bei Granaten- und Raketenangriffen getötet und verstümmelt. Plünderungen und die Aneignung von Privatland durch die SNA waren weit verbreitet, insbesondere in den kurdischen Gebieten (UNHRC 15.09.2020).
Ein nach einer neuerlichen Eskalation Ende Februar/Anfang März 2021 zwischen den Präsidenten Erdogan und Putin vereinbarter Waffenstillstand sorgte für eine Deeskalation. Es kommt aber immer wieder zu lokal begrenzten militärischen Gefechten zwischen den erwähnten Konfliktparteien (ÖB 01.10.2021). Im Juli 2021 erlebten die Orte in Nordwest-Syrien und in den Gebieten Ra's al-'Ayn and Tell Abyad die größte Eskalation seit Beginn des Waffenstillstands im März 2020. Durch Beschuss wurden im Juli 2021 mindestens 42 Zivilisten, davon sieben Frauen und 27 Kinder getötet und zumindest 89 Zivilisten (davon 15 Frauen und 36 Kinder) verletzt (UNOCHA 7.2021). In den Regionen Afrin und Ra's al-'Ayn in Aleppo werden improvisierte Sprengsätze an Fahrzeugen (VBIEDs) häufig in frequentierten zivilen Gebieten wie Märkten und belebten Straßen gezündet. Bei sieben derartigen Angriffen wurde die Tötung und Verstümmelung von mindestens 243 Frauen, Männern und Kindern dokumentiert - die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist jedoch wesentlich höher (UNHRC 14.09.2021).
Die Türkei verstärkte ihre militärische Präsenz, u.a. in Form von Beobachtungsposten, dehnt die türkische Verwaltung auf die besetzten Gebiete in Syrien aus und errichtet auch zivile Strukturen. Im Jahr 2021 war eine Zunahme russischer Luftangriffe und Angriffe der syrischen Regierung auf Nordwest-Syrien (ÖB 10.2021) bzw. eine Intensivierung der Gewalt in der Deeskalationszone von Idlib festzustellen (UNSC 21.10.2021). Die Artillerieangriffe im Laufe des Jahres 2021 zielten auch auf die zivile Infrastruktur wie Schulen und Krankenhäuser ab (SN4HR 04.07.2021, 21.07.2021; vgl. HRW 08.12.2021, F24 07.03.2021). Im Herbst/Winter 2021 wurde ebenfalls von zivilen Opfern bei Kampfhandlungen in Nordwest-Syrien berichtet (MSF 13.12.2021; vgl. HRW 08.12.2021, ACLED 27.10.2021, BAMF 25.10.2021, II 10.2021). Anfang Jänner 2022 führten die russischen Sicherheitskräfte in Idlib Luftangriffe durch, bei denen unter anderem eine Pumpstation getroffen wurde, welche die Stadt Idlib und angrenzende Dörfer mit Wasser versorgt (RFE/RL 02.01.2022). Bei einem erneuten russischen Angriff am 22.07.2022 auf die nordwestliche syrische Provinz Idlib sind sieben Zivilisten, darunter fünf Kinder, getötet und 13 weitere Zivilisten verletzt worden (DSA 22.07.2022). In der türkischen Besatzungszone Al-Bab im Nordwesten von Syrien sind bei einem Raketenangriff auf einen Markt im August 2022 mindestens 17 Menschen getötet worden. Zudem seien 35 Menschen verletzt worden, teilte die in Großbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) mit. SOHR machte Truppen des syrischen Regimes für den Angriff verantwortlich (ANF 17.08.2022). Insgesamt nahmen die Gefechte, Luftschläge und Bombardierungen im vergangenen Jahr besonders im südlichen Idlib zu (BBC 15.03.2022). Der UN-Sondergesandte für Syrien warnte bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates zu Syrien am 29.11.2022 vor der Gefahr einer militärischen Eskalation in Syrien. Dabei verwies er unter anderem auf die Zunahme von Waffenstillstandsverletzungen in der letzten von Rebellen gehaltenen Hochburg im Nordwesten Idlibs (AW 30.11.2022).
Türkische Militäroperationen in Nordsyrien
Letzte Änderung: 29.12.2022
"Operation Schutzschild Euphrat" (türk. "Fırat Kalkanı Harekâtı")
Am 24.08.2016 hat die Türkei die "Operation Euphrates Shield" (OES) in Syrien gestartet (MFATR o.D.; vgl. WINEP 26.03.2019). Die OES war die erste große Militäroperation der Türkei in Syrien (OR o.D.). In einer Pressemitteilung des Nationalen Sicherheitsrats (vom 30.11.2016) hieß es, die Ziele der Operation seien die Aufrechterhaltung der Grenzsicherheit und die Bekämpfung des Islamischen Staat (IS) im Rahmen der UN-Charta; außerdem wurde betont, dass die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) sowie die mit ihr verbundenen PYD/YPG keinen Korridor des Terrors vor den Toren der Türkei errichten dürfen (CE 19.01.2017). Obwohl die türkischen Behörden offiziell erklärten, dass die oberste Priorität der Kampf gegen den IS sei, betonen viele Kommentatoren und Analysten jedoch, dass das Ziel darin bestand, die Schaffung eines einzigen von den Kurden kontrollierten Gebiets in Nordsyrien zu verhindern (OR o.D.; vgl. WINEP 26.03.2019, SWP 30.05.2022). Die Türkei betrachtet die kurdische Volksverteidigungseinheit (Yekîneyên Parastina Gel - YPG) und ihren politischen Arm, die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat - PYD), als den syrischen Zweig der PKK und damit als direkte Bedrohung für die Sicherheit der Türkei (SWP 30.05.2022). Seit die türkischen Streitkräfte und die von ihnen unterstützten Gruppierungen nach der Militäroperation OES mehrere Gebiete in Aleppo eingenommen haben, haben sich die humanitären Krisen allmählich verschärft, es kommt fast täglich zu Übergriffen, Angriffen und Explosionen (SOHR 04.12.2022).
"Operation Olivenzweig" (türk. "Zeytin Dalı Harekâtı")
Im März 2018 nahmen Einheiten der türkischen Armee und der mit ihnen verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) im Rahmen der "Operation Olive Branch" (OOB) die zuvor kurdisch kontrollierte Stadt Afrin ein (Bellingcat 01.03.2019). Laut türkischem Außenministerium waren die Ziele der OOB die Gewährleistung der türkischen Grenzsicherheit, die Entmachtung der Terroristen in Afrin und die Befreiung der lokalen Bevölkerung von der Unterdrückung der Terroristen. Das türkische Außenministerium berichtete weiter, dass das Gebiet in weniger als zwei Monaten von PKK/YPG- und IS-Einheiten befreit wurde (MFATR o.D.). Diese Aussage impliziert, dass Ankara bei der Verfolgung der Grenzsicherheit und der regionalen Stabilität keinen Unterschied zwischen IS und YPG macht (WINEP 26.03.2019). Bis März 2018 hatte die türkische Offensive Berichten zufolge den Tod Dutzender Zivilisten und laut den Vereinten Nationen (UN) die Vertreibung Zehntausender zur Folge. Von der Türkei unterstützte bewaffnete Gruppierungen, die mit der FSA in Zusammenhang stehen, beschlagnahmten, zerstörten und plünderten das Eigentum kurdischer Zivilisten in Afrin (HRW 17.01.2019). Laut UN ist die Menschenrechtssituation in Orten wie Afrin, Ra's al-ʿAin und Tall Abyad schlecht - Gewalt und Kriminalität seien weit verbreitet (UN News 18.09.2020).
"Operation Friedensquelle" (türk. "Barış Pınarı Harekâtı")
Nachdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 09.10.2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens. Im Zuge dessen riefen die kurdischen Behörden eine Generalmobilisierung aus. Einerseits wollte die Türkei mithilfe der Offensive die YPG und die von der YPG geführten Syrian Democratic Forces (SDF) aus der Grenzregion zur Türkei vertreiben, andererseits war das Ziel der Offensive einen Gebietsstreifen entlang der Grenze auf syrischer Seite zu kontrollieren, in dem rund zwei der ungefähr 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, angesiedelt werden sollen (CNN 11.10.2019). Der UN zufolge wurden ebenfalls innerhalb einer Woche bis zu 160.000 Menschen durch die Offensive vertrieben und es kam zu vielen zivilen Todesopfern (UN News 14.10.2019). Es gab Befürchtungen, dass es aufgrund der Offensive zu einem Wiedererstarken des IS kommt (TWP 15.10.2019). Medienberichten zufolge sind in dem Gefangenenlager ʿAyn Issa 785 ausländische IS-Sympathisanten auf das Wachpersonal losgegangen und geflohen (DS 13.10.2019). Nach dem Beginn der Operation kam es außerdem zu einem Angriff durch IS-Schläferzellen auf die Stadt Raqqa. Die geplante Eroberung des Hauptquartiers der syrisch-kurdischen Sicherheitskräfte gelang den Islamisten jedoch nicht (DZ 10.10.2019). Auch im Zuge der türkischen Militäroperation "Friedensquelle" kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB 01.10.2021).
Die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad ist nach einer Einigung mit den SDF am 14.10.2019 in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der "türkischen Aggression" entgegenzustellen, wie Staatsmedien berichteten (DS 15.10.2019). Laut der Vereinbarung übernehmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die Sicherheitsfunktionen, die Administration soll aber weiterhin in kurdischer Hand sein (TWP 15.10.2019). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021).
Nach Vereinbarungen zwischen der Türkei, den USA und Russland richtete die Türkei eine "Sicherheitszone" in dem Gebiet zwischen Tall Abyad und Ra's al-ʿAyn ein (SWP 01.01.2020; vgl. AA 19.05.2020), die 120 Kilometer lang und bis zu 14 Kilometer breit ist (AA 19.05.2020).
"Operation Frühlingsschild" (türk. "Bahar Kalkanı Harekâtı")
Ab Ende Februar 2020 rückten die Regierungstruppen auch im Osten Idlibs vor, und die Frontlinien verschoben sich rasch. Die Vereinten Nationen bezeichneten die Luftangriffe der Regierung und der regierungsnahen Kräfte im Nordwesten im Februar 2020 als "eines der höchsten Ausmaße seit Beginn des Konflikts [...] Zu den täglichen Zusammenstößen mit nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen gehörten gegenseitiger Artilleriebeschuss und Zusammenstöße am Boden mit einer hohen Zahl von Opfern" (UNSC 23.04.2020). Die Offensive führte zu direkten Kämpfen zwischen Kräften der syrischen Regierung und türkischen Streitkräften, und bei einem Luftangriff der Regierungskräfte und Russlands auf einen türkischen Konvoi im Februar 2020 wurden in Idlib 33 türkische Soldaten getötet. Dies veranlasste die Türkei, die "Operation Frühlingsschild" einzuleiten, um die Offensive der syrischen Regierung im Gouvernement Idlib zu stoppen (CC 17.02.2021). Der Auslöser für die türkische "Operation Frühlingsschild" im Norden Idlibs im Februar 2020 war die Verhinderung eines Übergreifens des syrischen Konflikts - insbesondere in Bezug auf Extremisten und Flüchtlingen - auf die Türkei als Folge einer neuen Regimeoffensive. Ein tieferer Beweggrund für die Operation war der Wunsch Ankaras, eine Grenze gegen weitere Vorstöße des Regimes zu ziehen, die die türkischen Gebietsgewinne in Nordsyrien gefährden könnten. Die Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) war ein wichtiger Profiteur der Operation (Clingendael 9.2021).
Das vorrangige Ziel Russlands und des syrischen Regimes ist es, den Druck auf HTS aufrechtzuerhalten. Die Türkei hat ihrerseits regelmäßig Drohnenaktivitäten über Idlib gezeigt. Das Hauptziel der Türkei besteht darin, eine Pufferzone zu den Kräften des syrischen Regimes aufrechtzuerhalten, deren Vorrücken - ohne vorherige Absprache oder Vereinbarung - die Sicherheit der türkischen Grenze gefährden würde (EPC 17.02.2022). Es kommt in den türkisch-besetzten Gebieten zu internen Kämpfen zwischen von der Türkei unterstützten bewaffneten Gruppen. Obwohl die Türkei versucht hat, die Ordnung innerhalb der von ihr unterstützten oppositionellen Syrian National Army (SNA) aufrechtzuerhalten, kommt es immer wieder zu Gewaltausbrüchen (TCC 18.02.2021). Die Kämpfe zwischen den Fraktionen der SNA haben zur allgemeinen Instabilität in den von der Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien beigetragen. Weder die von den USA unterstützten, kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) noch die HTS sind in ihren Reihen so konfliktreich wie die SNA (CC 3.2022). In den von der Türkei beherrschten Gebieten, vor allem im nördlichen Teil der Provinz Aleppo, kommt es vermehrt zu Anschlägen seitens der kurdischen YPG. Die sehr komplexe Gemengelage an (bewaffneten) Akteuren, u.a. YPG und Türkei-nahe Rebellengruppen, die sich auch untereinander bekämpfen, führt zu einer sehr konfliktgeladenen Situation in der Provinz Aleppo und vor allem in deren nördlichem Teil (ÖB 01.10.2021). Der jüngste Anstieg der Gewalt kam, als die Türkei nach dem Bombenanschlag vom 13.11.2022 in Istanbul, für den sie die YPG und die PKK verantwortlich machte, mit einer neuen Bodenoperation drohte (AJ 24.11.2022; vgl. VOA 27.11.2022; HRW 07.12.2022).
Die von Präsident Erdoğan ankündigte Militäroffensive der Türkei 2022
Im Mai 2022 erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die Türkei erwäge eine Militäroperation zur Ausweitung der türkisch kontrollierten Gebiete in Syrien, um dem Einfluss der YPG entgegenzuwirken (CRS 08.11.2022; vgl. HRW 17.08.2022). Erdogan hat wiederholt angekündigt, einen 30 Kilometer breiten Streifen an der syrischen Grenze vollständig einzunehmen, um eine sogenannte Sicherheitszone auf der syrischen Seite der Grenze zu errichten (MI 21.11.2022; vgl. RND 27.11.2022; vgl. HRW 17.08.2022). Zuletzt konzentrierte er seine Drohungen auf die Region um Kobanê und Manbij - also die westlichen Selbstverwaltungsgebiete (MI 21.11.2022). Kobanê als Symbol des Widerstandes des kurdischen Selbstverwaltungsgebiets (auch Rojava) steht im Fokus der türkischen Angriffe. Dörfer und das Zentrum von Kobanê werden immer wieder attackiert (ANF 29.11.2022).
Am 20.11.2022, eine Woche nach einem Bombenanschlag in Istanbul am 13.11.2022, bei dem sechs Menschen getötet und Dutzende verletzt wurden (OSES 29.11.2022; vgl. AW 30.11.2022, AJ 22.11.2022), startete die Türkei die sogenannte "Claw-Sword Air Operation". Die Regierung in Ankara macht die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die syrische Kurdenmiliz YPG für den Anschlag verantwortlich. Sowohl PKK als auch YPG und die Demokratischen Kräfte Syriens, die wichtigste Bodentruppe im Kampf gegen den IS im Nordosten Syriens, haben eine Beteiligung an dem Bombenanschlag in Istanbul bestritten (HRW 07.12.2022; vgl. DZ 20.11.2022; OSES 29.11.2022). Als Vergeltungsmaßnahme hat das türkische Militär eine Reihe von Luftangriffen auf mutmaßliche militante Ziele in Nordsyrien und im Irak geflogen (AW 30.11.2022; vgl. AJ 22.11.2022). Eine Bodenoffensive werde "zu gegebener Zeit" beginnen, so Erdoğan. Es wäre die vierte Militäroperation in Nordsyrien, wo die Türkei mit den Invasionen von 2016, 2018 und 2019 die YPG aus der Grenzregion zurückgedrängt hat und große Landstriche besetzt hält. Auf diese Weise will Ankara die YPG eindämmen. Zugleich erhofft sich die Türkei, syrische Kriegsflüchtlinge aus der Türkei in dieser Region anzusiedeln (RND 27.11.2022). Seit dem 19.11.2022 attackiert die türkische Armee das kurdische Selbstverwaltungsgebiet mit Kampfbombern, Artillerie und Drohnen. Dabei sind Dutzende Zivilisten und Mitglieder der Verteidigungs- und Sicherheitskräfte ums Leben gekommen. Außerdem wurden mehr als zwanzig Soldaten des Assad-Regimes getötet (ANF 29.11.2022). Die kurdische Miliz SDF teilten mit, türkische Flugzeuge hätten bei den Angriffen auch zwei Dörfer mit Binnenflüchtlingen in Nordsyrien unter Beschuss genommen. Die türkischen Angriffe hätten außerdem zivile Infrastruktur zerstört, darunter Getreidesilos, ein Kraftwerk und ein Krankenhaus. Türkischen Angaben hingegen zufolge handle es sich bei den zerstörten Zielen um Bunker, Tunnel und Munitionsdepots. Die SDF im Norden Syriens hat Vergeltung für türkische Luftangriffe auf ihre Stellungen angekündigt (DZ 20.11.2022). Am 23.11.2022 richteten sich die türkischen Angriffe auch gegen einen SDF-Posten im Gefangenenlager al-Hol, in dem mehr als 53 000 IS-Verdächtige und ihre Familienangehörigen festgehalten werden, die meisten von ihnen Frauen und Kinder aus etwa 60 Ländern (HRW 07.12.2022). Die verstärkten Militäraktionen in Teilen des Nordwestens und Nordostens Syriens haben die Angst vor einem weiteren Ausbruch des Konflikts geweckt, der sich auf bewohnte Zivilgebiete und überfüllte humanitäre Einrichtungen auswirken könnte. In ganz Nordsyrien wurden Berichten zufolge Zivilisten verletzt und wichtige zivile Infrastrukturen beschädigt, wodurch der Zugang der Menschen zu lebenswichtigen Gütern wie Strom und Wasser gefährdet ist (SIRF 01.12.2022; vgl. HRW 07.12.2022).
Die USA, Russland und Iran haben öffentlich vor einem weiteren türkischen Einmarsch in Nordostsyrien gewarnt (HRW 17.08.2022). Die USA haben zur "sofortigen Deeskalation" aufgerufen. Größte Sorge in Washington ist, dass eine türkische Offensive im Nordirak der Terrormiliz IS in die Hände spielt (RND 27.11.2022; vgl. USDOS 23.11.2022). Zellen des IS sind in Syrien immer noch aktiv. Die YPG ist ein wichtiger Verbündeter der USA im Kampf gegen den IS. Tausende ehemalige IS-Kämpfer sitzen in Gefängnissen, die von der Kurdenmiliz kontrolliert werden. Eine Schlüsselrolle für die türkische Syrien-Strategie spielt Russland. Präsident Wladimir Putin ist der wichtigste politische und militärische Verbündete des syrischen Machthabers Bashar al-Assad. Die russischen Streitkräfte haben die Lufthoheit über Syrien. Für eine Bodenoffensive braucht Erdoğan zumindest die Duldung Moskaus. Putins Syrien-Beauftragter Alexander Lawrentjew forderte die Türkei auf, "von exzessiver Gewaltanwendung auf syrischem Staatsgebiet abzusehen" (RND 27.11.2022). Am 30.11.2022 verlegte Russland Truppenverstärkungen in ein Gebiet in Nordsyrien, das von kurdischen Kämpfern und Regierungstruppen kontrolliert wird, wie Anwohner und ein Kriegsbeobachter sagten. Auch die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) erklärte, Russland verstärke seine Truppen auf einem von der Regierung kontrollierten Luftwaffenstützpunkt in der Nähe von Tal Rifa'at (AN 30.11.2022).
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Rechtsschutz / Justizwesen
Gebiete unter der Kontrolle des syrischen Regimes
Letzte Änderung: 29.12.2022
Die syrische Verfassung sieht Demokratie (Art. 1, 8, 10, 12), Achtung der Grund- und Bürgerrechte (Art. 33-49), Rechtsstaatlichkeit (Art. 50-53), Gewaltenteilung sowie freie, allgemeine und geheime Wahlen zum Parlament (Art. 57) vor. Faktisch haben diese Prinzipien in Syrien jedoch nie ihre Wirkung entfaltet, da die Ba'ath-Partei durch einen von 1963 bis 2011 geltenden, extensiv angewandten Ausnahmezustand wichtige Verfassungsregeln außer Kraft setzte. Zwar wurde der Ausnahmezustand 2011 beendet, aber mit Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Syrien umgehend im Jahr 2012 durch eine genauso umfassende und einschneidende „Anti-Terror-Gesetzgebung“ ersetzt. Sie führte zu einem Machtzuwachs der Sicherheitsdienste und massiver Repression, mit der das Regime auf die anfänglichen Demonstrationen und Proteste sowie den späteren bewaffneten Aufstand großer Teile der Bevölkerung antwortete. Justiz und Gerichtswesen sind von grassierender Korruption und Politisierung durch das Regime geprägt. Laut geltender Verfassung ist der Präsident auch Vorsitzender des Obersten Justizrates (AA 29.11.2021).
Das Justizsystem Syriens besteht aus Zivil-, Straf-, Militär-, Sicherheits- und religiösen Gerichten sowie einem Kassationsgericht. Gerichte für Personenstandsangelegenheiten regeln das Familienrecht (SLJ 05.09.2016). Die Unabhängigkeit syrischer Straf-, Zivil- oder Verwaltungsgerichte ist unverändert nicht gewährleistet, diese werden regelmäßig vom Regime für politische Zwecke missbraucht. Zudem ist Korruption weit verbreitet. Vor allem vor Strafgerichten ist eine effektive Verteidigung in Fällen mit politischem Hintergrund praktisch nicht möglich. Immer wieder werden falsche Geständnisse durch Folter und Drohungen durch die Anklage erpresst und seitens der Gerichte weitestgehend vorbehaltlos akzeptiert. Die CoI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) kommt vor diesem Hintergrund in ihrem Bericht vom März 2021 zu der Einschätzung, dass ein Recht auf ein ordentliches und faires Verfahren vor syrischen nationalen Gerichten nicht gewährleistet ist und diese daher kein effektives Mittel zur Gewährleistung von Recht und Gerechtigkeit sind (AA 29.11.2021). In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Implementierung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weit verbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt. Die Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle operieren können (ÖB 01.10.2021). Richter und Staatsanwälte müssen im Grunde genommen der Ba'ath-Partei angehören und sind in der Praxis der politischen Führung verpflichtet (FH 04.03.2020).
Tausende von Gefangenen wurden monatelang oder jahrelang ohne Kontakt zur Außenwelt ("incommunicado") festgehalten, bevor sie ohne Anklage oder Gerichtsverfahren freigelassen wurden, während viele andere im Gefängnis starben (USDOS 12.04.2022).
Im April 2022 aktualisierte das syrische Regime sein Cyberkriminalität-Gesetz, welches nun alle online getätigten Äußerungen unter Strafe stellt, die angeblich die Staatsgewalt oder das Ansehen des Staates untergraben. Es bleibt zwar vage, welche Tatbestände genau unter das Gesetz fallen, doch die möglichen Strafen wurden drastisch erhöht: Nach Angaben der staatlich-syrischen Nachrichtenagentur Sana können Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren oder Geldstrafen von bis zu 15 Millionen syrischen Pfund verhängt werden. Menschenrechtsgruppen vermuten, dass der einzige Zweck dieses Gesetzes darin besteht, abweichende Meinungen zu verbieten (Qantara 28.06.2022).
Anti-Terror-Gerichte (CTC)
2012 wurde in Syrien ein Anti-Terror-Gericht (Counter Terrorism Court - CTC) eingerichtet. Dieses soll Verhandlungen aufgrund "terroristischer Taten" gegen Zivilisten und Militärpersonal führen, wobei die Definition von Terrorismus im entsprechenden Gesetz sehr weit gefasst ist (SJAC 9.2018). Anklagen gegen Personen, die vor das CTC gebracht werden, beinhalten: das Finanzieren, Fördern und Unterstützen von Terrorismus; Teilnahme an Demonstrationen; das Schreiben von Stellungnahmen auf Facebook; die Kontaktierung von Oppositionellen im Ausland; Waffenschmuggel an bewaffnete Oppositionelle; das Liefern von Nahrungsmitteln, Hilfsgütern und Medizin in von der Opposition kontrollierte Gebiete (NMFA 5.2020).
Das Syrian Network for Human Rights (SNHR) und andere Quellen betonen, dass sowohl der Gerichtsprozess im CTC als auch die Gesetzgebung, auf deren Basis dieser Gerichtshof agiert offenkundig internationales Menschenrecht und fundamentale rechtliche Standards verletzen. Diese Verletzungen beinhalten: willkürliche Verhaftungen, unter Folter erzwungene Geständnisse als Beweismittel, geschlossene Gerichtssitzungen unter Ausschluss der Medien, das Urteilen des Gerichts über Zivilisten, Minderjährige und Militärangehörige gleichermaßen, die Ernennung der Richter durch den Präsidenten, die Nicht-Zulässigkeit von ZeugInnen der/des Angeklagten, usw. (NMFA 6.2021, vgl. USDOS 30.03.2021). Das normale juristische Prozedere gilt bei keinem der Fälle vor den CTCs. Eine Berufung gegen Urteile ist nicht möglich (BS 23.02.2022).
Mangels Definition von "Terrorismus" und mit "Terrorismus" als Generalvorwurf gegen jede Form von abweichender Meinung werden die Anti-Terrorismus-Gerichte als "politisch" kategorisiert (BS 23.03.2022): Sie dienen insbesondere dem Zweck, politische Gegner und Personen, die sich für politischen Wandel und Menschenrechte einsetzen, auszuschalten. Demnach sollen seit Errichtung dieser Gerichte bis Oktober 2020 schätzungsweise mindestens 90.560 Fälle vor diesen Gerichten verhandelt worden sein. Dabei sollen mindestens 20.641 Gefängnisstrafen und mehr als 2.147 Todesurteile verhängt worden sein, davon der Großteil in Abwesenheit der Angeklagten. Vor diesen Gerichten sei Angeklagten in Verfahren, die oftmals nur wenige Minuten dauern, ein Rechtsbeistand verwehrt; sie würden nach glaubhaften Aussagen ehemaliger Häftlinge oftmals gezwungen, Geständnisse ohne Kenntnis des Textes blind zu unterschreiben. Viele der von diesen Gerichten Verurteilten erhielten laut SNHR Haftstrafen zwischen 10 und 20 Jahren, politische Dissidenten häufig bis zu 30 Jahre. In letzteren Fällen sei es wiederholt auch zu außergerichtlichen Hinrichtungen gekommen (AA 29.11.2021). 10.000 Fälle sind demnach noch anhängig (BS 23.02.2022).DIe „Terrorismus-Gerichte“ sind außerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens tätig. Versteckte Internierungslager, in denen unmenschliche Bedingungen vorherrschen, sind weit verbreitet. Auch Kinder und Frauen werden in diesen Internierungszentren festgehalten. Im Mai 2018 veröffentlichte die syrische Regierung Listen mit tausenden Namen von in Internierungslagern verstorbenen Bürgern. Eine Aufklärung dieser Todesfälle steht aus (ÖB 01.10.2021).
Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden. Durch mehrere Dekrete wurde die Regierung 2019 zur Konfiszierung des Eigentums von „Terroristen“ ermächtigt. Als Terroristen werden vor allem auch viele Oppositionelle gelistet. Umfasst ist auch das Eigentum der Familien der Verurteilten und in einigen Fällen sogar ihrer Freunde (ÖB 01.10.2021).
Militär-Feldgerichte
Militär-Feldgerichte sind geheime Gerichte, deren Richter Militärangehörige sind, die keinerlei Ausbildung oder juristischen Hintergrund haben müssen. Inhaftierte haben hierbei nicht die Möglichkeit, einen Anwalt zu beauftragen, und Anwälte können den Sitzungen nicht beiwohnen. Es gibt keine Möglichkeit zum Einspruch (NMFA 6.2021).
Ein befragter Experte beschrieb die Arbeit der Feldgerichte während aktiver Kämpfe in Kriegsgebieten folgendermaßen: "Feldtribunal" bedeutet nicht, dass es in einem großen Gebäude abseits der Front stattfindet, sondern es ist im Grunde ein Tisch mit drei Offizieren. Sie prüfen die Anschuldigungen, und es gibt eine sehr kurze Verhandlung, in der sie die Version der Geschichte des Angeklagten hören. Sie hören auch die Versionen der Offiziere und der Mitsoldaten, und wenn der Angeklagte beispielsweise des Hochverrats für schuldig befunden wird, kann er im Schnellverfahren hingerichtet werden, was bedeutet, dass er an die Wand gestellt und erschossen wird. Während des Konflikts ist es zu derartigen Fällen gekommen. Die Hinrichtungen werden üblicherweise von der Militärpolizei (al-Shurta al-Askariya) oder dem Militärgeheimdienst durchgeführt (Üngör 15.12.2021).
Andere Gerichte
Die Verwaltung in den von der Regierung kontrollierten Gebieten arbeitet in Routineangelegenheiten mit einer gewissen Zuverlässigkeit, vor allem in Personenstandsangelegenheiten (AA 29.11.2021). Die religiösen Gerichte behandeln das Familien- und Personenstandsrecht und regeln Angelegenheiten wie Eheschließungen, Scheidungen, Erb- und Sorgerecht (IA 7.2017). Hierbei sind Scharia-Gerichte für sunnitische und schiitische Muslime zuständig. Drusen, Christen und Juden haben ihre eigenen gerichtlichen Strukturen. Für diese Gerichte gibt es auch eigene Berufungsgerichte (SLJ 05.09.2016). Manche Personenstandsgesetze spiegeln die Scharia unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Beteiligten wider (USDOS 12.04.2022).
Die anhaltende Regierungskampagne zur Konfiszierung von Land und Häusern oder Beschlagnahmung ohne adäquate Entschädigung macht Land- und Immobilienbesitzrechte zu einem sensiblen Thema, bei dem die Justiz nicht unabhängig ist. In diesen Fällen dienen die Gerichte dazu, die Einziehung des Besitzes im Namen des Kampfes gegen "Terrorismus" zu legitimieren. BürgerInnen im Ausland riskieren, dass ihr Besitz beschlagnahmt wird, wenn sie vom Regime mit der Opposition in Verbindung gebracht werden und haben kaum Einspruchsmöglichkeiten. Die Verfügungen zur Durchführung der Konfiszierung werden nur in lokalen Zeitungen bekannt gegeben und sind so vom Ausland nicht zugänglich. Die Kläger müssten persönlich (bei Einsprüchen) in solchen Fällen zugegen sein (BS 23.03.2022).
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Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen
Letzte Änderung: 05.08.2022
Die Regierung hat zwar die effektive Kontrolle über die uniformierten Polizei-, Militär- und Staatssicherheitskräfte, jedoch nur beschränkten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Einheiten, z.B. russische Streitkräfte, die mit dem Iran verbündete Hizbullah und die iranischen Islamischen Revolutionsgarden (USDOS 12.04.2022). Der Präsident stützt seine Herrschaft auf die Loyalität der Streitkräfte sowie die militärischen und zivilen Geheimdienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen (AA 04.12.2020).
Straflosigkeit unter den Sicherheitsbehörden bleibt ein weitverbreitetes Problem bei Sicherheitskräften und NachrichtendienstmitarbeiterInnen und auch sonst im Regime (USDOS 12.04.2022; vgl. BS 29.04.2020). In der Praxis sind keine Fälle von Strafverfolgung oder Verurteilung von Polizei- und Sicherheitskräften hinsichtlich Misshandlung bekannt. Es gibt auch keine Berichte von Maßnahmen der Regierung, um die Einhaltung der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte zu verbessern (USDOS 12.04.2022). Dekrete fungieren de facto als gesetzlicher Schutzmechanismus für Mitglieder des Sicherheitsapparats vor eventueller Strafverfolgung bei Verbrechen während der Dienstausübung (OSS 01.10.2017, vgl. HRW 12.2015). Die Sicherheitskräfte operieren unabhängig und im Allgemeinen außerhalb der Kontrolle des Justizwesens (USDOS 11.03.2020). In keinem Teil des Landes besteht ein umfassender und langfristiger Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Repression durch die zahlreichen Sicherheitsdienste, Milizen und sonstige regimenahe Institutionen (AA 19.05.2020).
Russland, Iran, die libanesische Hizbullah (KAS 04.12.2018a; vgl. DW 20.05.2020) und Einheiten mit irakischen Kämpfern unterstützen die syrische Regierung, unter anderem mit Einsätzen an der Seite der syrischen Streitkräfte (KAS 04.12.2018a).
Es ist schwierig Informationen über die Aktivitäten von spezifischen Regierungs- oder regierungstreuen Einheiten zu spezifischen Zeiten oder an spezifischen Orten zu finden, weil die Einheiten seit dem Beginn des Bürgerkrieges oft nach Einsätzen organisiert („task-organized“) sind, bzw. aufgeteilt oder für spezielle Einsätze mit anderen Einheiten zusammengelegt werden. Berichte sprechen oft von einer speziellen Militäreinheit an einem bestimmten Einsatzort (z.B. einer Brigade), wobei die genannte Einheit aus Teilen mehrerer verschiedener Einheiten nur für diesen speziellen Einsatz oder eine gewisse Zeit zusammengestellt wurde (Kozak 28.12.2017).
Kämpfe um die lokale Vorherrschaft unter den verschiedenen Sicherheitsakteuren (Offiziere, Soldaten, Miliz-Kämpfer und lokale Polizei) des Regimes sind eskaliert und haben zu gegenseitigen Verhaftungen von Personal, offenen Zusammenstößen und Gewalt geführt (TWP 30.07.2019).
Streitkräfte
Letzte Änderung: 29.12.2022
Die syrischen Streitkräfte bestehen aus dem Heer, der Marine, der Luftwaffe, den Luftabwehrkräften und den National Defense Forces (NDF, regierungstreue Milizen und Hilfstruppen). Aktuelle Daten zur Anzahl der Soldaten in der syrischen Armee existieren nicht. Vor dem Konflikt sollen die Truppen eine Mannstärke von geschätzt 300.000 Personen gehabt haben (CIA 02.12.2022). Zu Jahresbeginn 2013 war etwa ein Viertel bis ein Drittel aller Soldaten, Reservisten und Wehrpflichtigen desertiert bzw. zur Opposition übergelaufen (zwischen 60.000-100.000 Mann). Weitere rd. 50.000 Soldaten fielen durch Verwundung, Invalidität, Haft oder Tod aus. Letztlich konnte das Regime 2014 nur mehr über rd. 70.000-100.000 loyale und mittlerweile auch kampferprobte Soldaten zurückgreifen (BMLV 12.10.2022). 2014 hat die syrische Armee mit Restrukturierungsmaßnahmen begonnen (MEI 18.07.2019) und seit 2016 werden irreguläre Milizen im begrenzten Ausmaß in die regulären Streitkräfte integriert (CMEC 12.12.2018; vgl. Üngör 15.12.2021). Mit Stand Dezember 2022 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 02.12.2022).
Die syrische Armee war der zentrale Faktor für das Überleben des Regimes während des Bürgerkriegs. Im Laufe des Krieges hat ihre Kampffähigkeit jedoch deutlich abgenommen (CMEC 26.03.2020) und mit Stand September 2022 war die syrische Armee in jeglicher Hinsicht grundsätzlich auf die Unterstützung Russlands, Irans bzw. sympathisierender, vornehmlich schiitischer Milizen, angewiesen – d.h. ein eigenständiges Handeln, Durchführung von Militäroperationen usw. sind nicht oder nur in äußerst eingeschränktem Rahmen möglich (BMLV 12.10.2022).
Im Zuge des Konfliktes hat das Regime loyale Einheiten in größere Einheiten der Streitkräfte eingegliedert, um eine bessere Kontrolle ausüben und ihre Effektivität im Kampf verbessern zu können (ISW 08.03.2017). Der Aufbau basiert auf dem sogenannten Qutaʿa-System [arab. Sektor, Landstück]. Hierbei wird jeder Division (firqa) ein bestimmtes Gebiet (qutaʿa) zugeteilt. Mit diesem System wurde in der Vergangenheit verhindert, dass Offiziere überlaufen. Gleichzeitig hatte der Divisionskommandeur für den Fall eines Zusammenbruchs der Kommunikation oder für Notfälle freie Hand über dieses Gebiet. Dadurch kann der Präsident auch den Einfluss einzelner Divisionskommandeure einschränken, indem er sie gegeneinander ausspielt (CMEC 14.03.2016).
Das syrische Regime und damit auch die militärische Führung unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und "rein militärischen Zielen" (BMLV 12.10.2022). Nach Experteneinschätzung trägt jeder, der in der syrischen Armee oder Luftwaffe dient, per Definition zu Kriegsverbrechen bei, denn das Regime hat in keiner Weise gezeigt, dass es das Kriegsrecht oder das humanitäre Recht achtet. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass eine Person in eine Einheit eingezogen wird, auch wenn sie das nicht will, und somit in einen "schmutzigen" Krieg, in dem die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern nicht wirklich ernst genommen wird (Üngör 15.12.2021). Soldaten können in Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen verwickelt sein, weil das Militär in Syrien auf persönlichen Vertrauensbeziehungen, manchmal auch auf familiären Netzwerken innerhalb des Militärs beruht. Diejenigen, die Verbrechen begehen, handeln innerhalb eines vertrauten Netzwerks von Soldaten, Offizieren, Personen mit Verträgen mit der Armee, Zivilisten, die mit ihnen als nationale Verteidigungskräfte oder lokale Gruppen zusammenarbeiten (Khaddour 24.12.2021).
Zivile und militärische Sicherheits- und Nachrichtendienste, Polizei
Letzte Änderung: 05.08.2022
Es gibt vier Sicherheits- und Nachrichtendienste: den militärischen Nachrichtendienst, den Luftwaffennachrichtendienst, das Direktorat für politische Sicherheit und das allgemeine Nachrichtendienstdirektorat (USDOS 12.04.2022; vgl. EIP 6.2019). Die zahlreichen syrischen Sicherheitsbehörden arbeiten autonom und ohne klar definierte Grenzen zwischen ihren Aufgabenbereichen (USDOS 30.03.2021). Jeder Geheimdienst unterhält eigene Gefängnisse und Verhöreinrichtungen, bei denen es sich de facto um weitgehend rechtsfreie Räume handelt. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle im Zuge des Konfliktes verteidigt oder sogar weiter ausgebaut (AA 04.12.2020). Innerhalb der Sicherheitsdienste ist bekannt, dass die Nachrichtendienste der Luftwaffe am wenigsten einer Kontrolle unterliegen und mit der geringsten Zurückhaltung agieren (BS 29.04.2020). Vor 2011 war die vorrangige Aufgabe der Nachrichtendienste die syrische Bevölkerung zu überwachen. Seit dem Beginn des Konfliktes nutzt Assad den Sicherheitssektor, um die Kontrolle zu behalten. Diese Einheiten überwachten, verhafteten, folterten und exekutierten politische Gegner sowie friedliche Demonstranten. Um seine Kontrolle über die Sicherheitsdienste zu stärken, sorgte Assad künstlich für Feindschaft und Konkurrenz zwischen ihnen. Um die Loyalität zu sichern, wurde einzelnen Behörden bzw. Beamten die Kontrolle über alle Bereiche des Staatswesens in einem bestimmten Gebiet überlassen, was für diese eine enorme Geldquelle darstellt (EIP 6.2019).
Die Sicherheitskräfte nutzen eine Reihe an Techniken, um Bürger einzuschüchtern oder zur Kooperation zu bringen. Diese Techniken beinhalten im besten Fall Belohnungen, jedoch auch Zwangsmaßnahmen wie Reiseverbote, Überwachung, Schikanen von Individuen und/oder deren Familienmitgliedern, Verhaftungen, Verhöre oder die Androhung von Inhaftierung. Die Zivilgesellschaft und die Opposition in Syrien sind Ziel spezieller Aufmerksamkeit von den Sicherheitskräften, aber auch ganz im Allgemeinen müssen Gruppen und Individuen mit dem Druck der Sicherheitsbehörden umgehen (GS 11.02.2017; vgl. USDOS 30.03.2021). Gebiete, in denen es viele Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten gab, wie Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs, stehen nun unter verstärkter Beobachtung der Geheimdienste (Üngör 15.12.2021).
Der Sicherheitssektor übt eine allgegenwärtige Kontrolle über die Gesellschaft (sowohl informell als auch formell) aus. Festnahmen und Inhaftierungen werden genutzt, um Informationen zu erhalten, jene, die als illoyal gesehen werden, zu bestrafen, und um Geld für die Freilassung der Inhaftierten zu erpressen (EIP 6.2019).
In jüngster Zeit hat das syrische Regime seine Sicherheitsdienste umgebaut, indem es neue "Loyalisten" in leitende Sicherheitspositionen berufen hat. Es handelt sich um Personen, die sich durch ihre Rolle bei der Eskalation der Gewalt nach 2011 einen Namen machten, und gegen die das Regime in Form von Akten über Korruption erhebliche Druckmittel besitzt. Es zeigt sich außerdem grundsätzlich eine breitere Dynamik der russisch-iranischen Konkurrenz um die Gestaltung des syrischen Sicherheitstrukturen (Clingendael 5.2020). Die Führung der Sicherheitsdienste hat oft enge familiäre und persönliche Beziehungen zum Präsidenten, der Alawit ist. Im Allgemeinen sind diese Behörden weitgehend mit Personen aus Gemeinschaften besetzt, die historisch der herrschenden Familie gegenüber loyal sind. Das klarste Beispiel hierfür ist die verhältnismäßig große Anzahl an Alawiten, die im Sicherheitssektor arbeiten (NMFA 5.2020).
Regierungstreue Einheiten, ausländische Kämpfer, russischer und iranischer Einfluss
Letzte Änderung: 05.08.2022
Die National Defence Forces (NDF) sind eine Dachorganisation für verschiedene Pro-Regime-Milizen und wurden aus sogenannten Volkskomitees gegründet (FIS 14.12.2018). Der Iran und die libanesische Hizbollah spielten eine wichtige Rolle bei der Gründung der NDF nach dem Vorbild der iranischen paramilitärischen Basij-Einheiten (ISW 08.03.2017; vgl. JTF 24.03.2017, CMEC 26.03.2020a). Die NDF sind nicht Teil der syrischen Armee, aber offiziell als "Verbündete" und als legitime Institutionen anerkannt, die Waffen tragen dürfen und zudem operative und logistische Unterstützung durch die syrische Armee erhalten. Die regierungstreuen Milizen stellen für die Regierung jedoch auch eine Konkurrenz dar, z.B. in Zusammenhang mit der Rekrutierung, weil die Milizen teilweise über bessere Finanzierung verfügen, und somit höheren Sold bezahlen können. Manche der bewaffneten Gruppen kritisieren die syrische Regierung und ihre Geheimdienste auch vergleichsweise offen (FIS 14.12.2018). Pro-Regime Milizen wie die NDF (National Defence Forces - Nationale Selbstverteidigungskräfte) integrierten sich mit anderen regimetreuen Kräften und führten ähnliche Aufgaben ohne definierte Zuständigkeiten aus (USDOS 12.04.2022).
Die regierungsnahen Milizen stellen mittlerweile selbst eine Bedrohung der staatlichen Souveränität dar, weil sie an Größe, Anzahl und Einfluss gewonnen haben (CMEC 26.03.2020a). Bei Übergriffen regimetreuer Milizen ist der Übergang zwischen politischem Auftrag, militärischen bzw. polizeilichen Aufgaben und mafiösem Geschäftsgebaren fließend (AA 29.11.2021).
Iran und Russland unterstützen jeweils unterschiedliche Einheiten bzw. Akteure des syrischen Sicherheitssektors (TWP 30.07.2019). Russland konzentriert sich vor allem auf den Aufbau von staatlichen Institutionen, während der Iran auch Einfluss außerhalb syrischer staatlicher Institutionen ausübt (Clingendael 5.2020; vgl. CMEC 26.03.2020a). Milizen, die von der libanesischen Hizbollah und den iranischen Quds-Brigaden eingerichtet wurden, treten als nahezu unabhängige Einheiten auf (JTF 26.06.2020; vgl. CMEC 26.03.2020a).
Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Unterstützung mit fortschrittlichen Waffentechnologien, Spezial- und Lufteinheiten, sowie die ausgeweitete Bodenintervention Irans konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 04.12.2018b). Das Eingreifen Russlands, Irans und der Hizbollah bilden seit 2011 jedoch auch die wichtigste Quelle für die Erosion der Autonomie und Souveränität des syrischen Regimes: Dieses ist weiterhin abhängig von der politischen und militärischen Unterstützung Russlands und Irans (Clingendael 5.2020).
Russland ist besonders in die Reform der syrischen Streitkräfte involviert (CMEC 26.03.2020c). Im Oktober 2015 wurde das sogenannte Vierte Korps (Fourth Storming Corps/Fourth Assault Corps) und im November 2016 das Fünfte Korps ("Fifth Storming Corps"/"Fifth Assault Corps") gegründet (Kozak 3.2018). Ähnlich wie die NDF sollten auch diese beiden Einheiten Strukturen bieten, in denen regierungstreue Milizen integriert, und so unter die Kontrolle der Regierung gebracht werden (CEIP 12.12.2018; vgl. TWP 30.07.2019). In das Vierte Korps wurden neben Einheiten aus den syrischen Streitkräften auch irreguläre Einheiten aus NDF-Mitgliedern und Wehrpflichtigen aus Lattakia aufgenommen (CMEC 26.03.2020b). Das Fünfte Korps besteht ausschließlich aus Freiwilligen, einerseits aus verschiedenen Einheiten der syrischen Armee, andererseits vor allem aber aus irregulären Einheiten wie den NDF oder loyalen Ba'ath-Bataillonen. Rekrutiert wurde in ganz Syrien. 2018 wurden auch ehemalige Rebellen aus der Provinz Dara’a in das Fünfte Korps integriert. Zu Beginn oblag das Kommando vollständig dem russischen Militär. Mittlerweile haben russische Berater weniger Einfluss (CMEC 26.03.2020b).
Von Russland gestützte Milizen stellen eine große Bedrohung für die Bevölkerung dar, weil sie an keine Gesetze oder Regeln gebunden sind (DIYARUNA 20.08.2020). Angesichts der Sensibilität der russischen öffentlichen Meinung in Bezug auf militärische Verluste sind viele der in Syrien kämpfenden Russen Söldner - offiziell auf Eigeninitiative, aber in Wirklichkeit von privaten Militärunternehmen mit mutmaßlichen Verbindungen zum Kreml, wie z.B. der Wagner-Gruppe (EPRS 11.2018). Es gibt zahlreiche Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen der Wagner-Gruppe gegen Zivilisten (FIDH 22.03.2021, vgl. RFE/RL 15.03.2021).
Die traditionelle Strategie des Iran besteht darin, parallele nicht-staatliche Militärstrukturen zu schaffen und zu entwickeln, die dem syrischen Staat nicht direkt unterstellt und dem Iran gegenüber loyaler sind als dem syrischen Zentralkommando (CMEC 26.03.2020a). Das syrische Regime hat während des Konflikts ausländische schiitische Milizen eingesetzt, die vor allem vom Iran getragen werden (CMEC 26.03.2020a). Die iranische Koalition besteht aus iranischen Kämpfern (Teileinheiten der Iranischen Revolutionswächter und der regulären iranischen Streitkräfte - sogenannte "Artesh"-Kämpfer) und ausländischen Kämpfern (ISW 08.03.2017), darunter Pakistanis und Afghanen (KAS 04.12.2018b; vgl. CMEC 26.03.2020a). Iranische Offiziere unterstützen auch Einheiten der syrischen Armee, regierungstreue Milizen, die (libanesischen) Hizbollah sowie irakische schiitische Milizen bei der Planung und Koordination von Einsätzen. Die afghanischen und pakistanischen Kämpfer werden von den iranischen Einheiten rekrutiert, ausgebildet, versorgt und ihre Führung im Kampf wird von iranischer Seite organisiert (KAS 04.12.2018b; vgl. CMEC 26.03.2020a).
Hochrangige syrische Funktionäre erlebten durch die iranische und russische Dominanz einen Machtverlust, der wiederholt zu Spannungen in der iranisch-russisch-syrischen Militärkooperation führte (KAS 04.12.2018b). Im Zuge dessen kam es auch zu Säuberungen, Exekutionen und Versetzungen von niederrangigen oder auch höherrangigen syrischen Offizieren, die sich gegen die Ausweitung des iranischen Einflusses wehrten (ISW 08.03.2017). Im Jahr 2017 und vor allem im Jahr 2018 standen sich die verschiedenen Unterstützer des syrischen Regimes immer stärker konfrontativ gegenüber. Im Juni 2018 kam es beispielsweise zu einem offenen Zusammenstoß zwischen der Hizbollah und syrischen Truppen unter russischer Führung und im Januar 2019 zu Kämpfen zwischen dem Vierten (de facto iranisch kontrolliert) und dem Fünften (unter russischer Dominanz) Korps der syrischen Armee in der Provinz Hama (BS 29.04.2020). Spannungen entstehen auch oft durch das Aufeinanderprallen lokaler Organisationen des Sicherheitsapparats bei der Verfolgung ihrer eigenen Interessen bezüglich Einnahmen, Personalstärke und Relevanz. Derart eskalierende Interessenskonflikte zwischen Offizieren, Soldaten, Milizionären und lokalen Polizisten umfassen z.B. Verhaftungen von niedrigrangigeren Mitgliedern der konkurrierenden Sicherheitsorganisation und offene Konfrontationen auch mit Gewalt - Berichten zufolge auch in Form von Attentaten auf die durch die "Versöhnungsabkommen" rekrutierten ehemaligen Oppositionskämpfer der gegnerischen Organisation (TWP 30.07.2019). Im Dezember 2021 wurde von der Ermordung prominenter Offiziere in der Küstenregion Syriens berichtet, welche möglicherweise mit dem Machtkampf zwischen Russland und dem Iran zu tun hatten. Der Konflikt konzentriert sich derzeit auf die vom Iran unterstützte Vierte Division, die vom Bruder des Regimepräsidenten Maher al-Assad angeführt wird, und auf das Fünften Korps, das neben mehreren anderen Brigaden Russland vertritt (TSO 15.12.2021).
Die Diversifizierung der bewaffneten Akteure im Sicherheitsapparat hat zur Etablierung lokaler, mafiaartiger Machtzentren geführt und verschafft Warlords Einfluss (BS 23.02.2022).
Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 29.12.2022
Das Gesetz verbietet Folter und andere grausame oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen, wobei das Strafgesetzbuch eine Strafe von maximal drei Jahren Gefängnis für Täter vorsieht. Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichteten jedoch von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung vermeintlicher Oppositioneller einsetzten, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und sogar schon vor 2011 dokumentiert wurde. Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.04.2022). Willkürliche Festnahmen, Misshandlung, Folter und Verschwindenlassen sind in Syrien weit verbreitet (HRW 13.01.2021; vgl. AI 070.4.2021, USDOS 12.04.2022, AA 04.12.2020).
In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht. Im Zuge dieses Prozesses kommt es zu Folter und Todesfällen (SHRC 24.01.2019).
Das Auswärtige Amt fasst die Haftbedingungen in Syrien als "unverändert grausam und menschenverachtend" zusammen. Dies ist allgemein der Fall, gilt jedoch besonders für diejenigen Haftanstalten, in denen DissidentInnen und sonstige politische Gefangene festgehalten werden (AA 29.11.2021). Seit Ausbruch des Konflikts haben sich die Zustände danach aufgrund von Überfüllung und einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert (AA 29.11.2021). NGOs berichten, dass die syrische Regierung und mit ihr verbündete Milizen physische Misshandlungen, Bestrafungen und Folter an oppositionellen Kämpfern und Zivilisten verüben (USDOS 12.04.2022; vgl. TWP 23.12.2018). Gefängnispersonal und Nachrichtendienstoffiziere sowie weitere Regimetruppen und regierungstreue Kräfte begingen sexuellen Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern (USDOS 12.04.2022). Unter den von der UN Commission of Inquiry (COI) dokumentierten Fällen waren die jüngsten betroffenen Buben und Mädchen elf Jahre alt (HRW 13.01.2022). Die Regierung nimmt hierbei auch Personen ins Visier, denen Verbindungen zur Opposition vorgeworfen werden (USDOS 30.03.2021). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben. (AA 29.11.2021; vgl. bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021).
Systematische Folter, Hinrichtungen und die Haftbedingungen führen zu einer hohen Sterblichkeitsrate von Gefangenen. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Hygiene und Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung (USDOS 12.04.2022). Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 12.04.2022; vgl. SHRC 24.01.2019). Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 12.04.2022). SNHR schätzt die Gesamtzahl der verschwunden gelassenen Personen auf mindestens 100.000, hinter fast 85% dieser steckt das Regime (HRW 13.01.2022). Zehntausende Menschen sind weiterhin in willkürlicher Haft, darunter humanitäre Helfer, Anwälte, Journalisten und friedliche Aktivisten (AI 07.04.2021).
In Gebieten, die unter der Kontrolle der Opposition standen und von der Regierung zurückerobert wurden, darunter Ost-Ghouta, Dara'a und das südliche Damaskus, verhafteten die syrischen Sicherheitskräfte Hunderte von Aktivisten, ehemalige Oppositionsführer und ihre Familienangehörigen, obwohl sie alle Versöhnungsabkommen mit den Behörden unterzeichnet hatten, in denen garantiert wurde, dass sie nicht verhaftet würden (HRW 14.01.2020; vgl. ÖB 01.10.2021).
Zwischen März 2011 und Juni 2021 dokumentierte das Syrische Netzwerk für Menschenrechte (SNHR) den Tod von mindestens 14.565 Personen, darunter 181 Kinder und 93 (erwachsene) Frauen, durch Folter durch die Konfliktparteien und die kontrollierenden Kräfte in Syrien, wobei das syrische Regime für 98,6 % dieser Todesfälle verantwortlich ist (SNHR 14.06.2021). Im gesamten Jahr 2021 zählte SNHR insgesamt 104 Todesopfer aufgrund von Folter (SNHR 01.01.2022). Seit 2018 wurden von den Regierungsbehörden Sterberegister veröffentlicht, wodurch erstmals offiziell der Tod von 7.953 Menschen in Regierungsgewahrsam bestätigt wurde, wenn auch unter Angabe unspezifischer Todesursachen (Herzversagen, Schlaganfall etc.). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen. (AA 29.11.2021). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht: Im Jahr 2020 lag die Rate bei etwa 17 Personen pro Monat. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Verwandten zu erfahren (SHRC 09.01.2021). Die syrische Regierung übergibt nicht die sterblichen Überreste der Verstorbenen an die Familien (HRW 14.01.2020).
Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Gefängnissen sind jedoch keine Neuerungen der Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.01.2019).
Am 04.11.2020 ließ die syrische Regierung 60 Personen aus Gefängnissen im südlichen Syrien und Damaskus frei (HRW 13.01.2022).
Von Familien von Häftlingen wird Geld verlangt, dafür dass die Gefangenen Nahrung erhalten und nicht mehr gefoltert werden, was dann jedoch nicht eingehalten wird. Große Summen werden gezahlt, um die Freilassung von Gefangenen zu erwirken (NMFA 7.2019). Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.11.2021).
Syrien hat am 30.03.2022 das Anti-Folter-Gesetz Nr. 16 per Präsidialdekret erlassen, das Folter zu einem Straftatbestand (Verbrechen) macht und harte Strafen für alle Personen (Privatpersonen oder Beamte) vorsieht, die Folter anwenden. Nichtsdestotrotz hat SNHR seit dem Inkrafttreten des Dekrets von Ende März bis Juni 2022 elf Todesfälle durch Folter in syrischen Haftanstalten dokumentiert und kritisiert unter anderem, dass das Dekret keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.06.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.03.2022, vgl. STJ 12.07.2022).
Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten, Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Berichte dazu betreffen u.a. HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham), IS (Islamischer Staat), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 12.04.2022).
Korruption
Letzte Änderung: 29.12.2022
Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International für das Jahr 2021 liegt Syrien mit einer Bewertung von 13 von 100 Punkten (0=highly corrupt, 100=very clean) auf dem vorletzten Platz 179 von 180 untersuchten Ländern (TI 1.2022).
Korruption war bereits vor dem Bürgerkrieg weit verbreitet und beeinflusste das tägliche Leben der Syrer (FH 1.2017). Sie wurde im Laufe des Konfliktes noch viel schlimmer (BS 29.04.2020). Der Machtmissbrauch der syrischen Behörden war eine der Hauptursachen für den Aufstand im Jahr 2011. Die zunehmende Gesetzlosigkeit, von der Syrien im Laufe des Krieges betroffen war, die florierende Kriegswirtschaft und die Kürzung der Gehälter der syrischen Staats- und Regimebediensteten erhöhten die Anreize und Möglichkeiten für Korruption (NLI 04.06.2021). Das Gesetz sieht strafrechtliche Konsequenzen für amtliche Korruption vor, die Regierung setzt diese jedoch nicht effektiv durch. Beamte üben häufig korrupte Praktiken aus, ohne dafür bestraft zu werden. Korruption ist weiterhin ein allgegenwärtiges Problem bei Polizei, Sicherheitskräften, Migrationsbehörden und in der Regierung (USDOS 12.04.2022).
Mitglieder und Verbündete des Regimes sollen einen Großteil der syrischen Wirtschaft besitzen oder kontrollieren. Der Bürgerkrieg hat neue Möglichkeiten für Korruption in der Regierung, den regierungstreuen Streitkräften und im Privatsektor geschaffen. Auch verteilte das Regime regelmäßig Zuwendungen in Form öffentlicher Ressourcen an von ihr bevorzugte Industrien und Firmen, bzw. implementierte auch Maßnahmen zu deren Gunsten. Regierungsverträge und Handelsabkommen ergingen an Vertreter ausländischer Verbündeter wie Russland oder Iran. Selbst grundlegende staatliche Dienstleistungen und humanitäre Hilfe sind Berichten zufolge von der demonstrierten Loyalität zum Assad-Regime abhängig, oder werden andernfalls vorenthalten. Personen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten, die versuchen, offizielle Korruption aufzudecken oder zu kritisieren - zum Beispiel in den sozialen Medien - sehen sich Repressalien ausgesetzt, einschließlich Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis und Inhaftierung (FH 2021).
Die Mitgliedschaft in der Baʿath-Partei oder enge familiäre Beziehungen zu einem prominenten Parteimitglied oder einem mächtigen Regimebeamten helfen beim wirtschaftlichen, sozialen und bildungsmäßigen Aufstieg. Partei- oder Regimeverbindungen erleichterten die Zulassung zu besseren Schulen, den Zugang zu lukrativen Arbeitsplätzen und den Aufstieg und die Macht innerhalb der Regierung, des Militärs und der Sicherheitsdienste. Das Regime reservierte bestimmte prominente Positionen, wie z. B. Gouverneursposten in den Provinzen, ausschließlich für Mitglieder der Baʿath-Partei (USDOS 12.04.2022). Die Duldung von Korruption sichert dem Regime das Stillhalten von Personen sowie deren Verbleib auf Regimeseite, ohne dass ihm Kosten entstehen (BS 23.02.2022).
Laut einer von der syrischen NGO The Day After (TDA) im September 2022 durchgeführten Studie geben mehr als 70 % aller Familien, die in den vom Regime kontrollierten Gebieten leben, an, dass Korruption ihre Lebensbedingungen stark beeinträchtigt, wobei der Anteil mit 81 % der Familien in Damaskus am höchsten ist. Darüber hinaus zeigen die Daten, dass dieses Phänomen, wenn auch in geringerem Maße, in allen anderen Regionen weit verbreitet ist. - Die Quote in den Gebieten der [kurdischen] Autonomieverwaltung beträgt in etwa 57 % und in Idlib und A'zaz kommt sie auf etwa 50 % (TDA 9.2022).
Bewegungseinschränkungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie schufen 2020 noch mehr Möglichkeiten für Korruption, weil diejenigen, welche es sich leisten konnten, Bestechungsgelder an Beamte und Sicherheitskräfte zahlten, um die Regeln zu umgehen (FH 2021).
In der syrischen Armee gibt es eine Tradition der Bestechung Ranghöherer (FIS 14.12.2018), etwa um eine bessere Position oder einfachere Aufgaben zu erhalten, einen Einsatz an der Frontlinie zu vermeiden oder überhaupt den Wehrdienst selbst zu umgehen (FIS 14.12.2018; vgl. DIS 5.2020).
Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
Letzte Änderung: 29.12.2022
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Letzte Änderung: 29.12.2022
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB 29.09.2020). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.05.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.11.2021).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB 01.10.2021).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB 01.10.2021; vgl. EASO 4.2021).
Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 04.12.2020). Die im März 2020 und Mai 2021 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetzbuch, darunter Fahnenflucht; die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB 01.10.2021).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.11.2021).
Palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht, dienen jedoch in der Regel in der Palästinensischen Befreiungsarmee (Palestinian Liberation Army - PLA) unter palästinensischen Offizieren. Diese ist jedoch de facto ein Teil der syrischen Armee (AA 13.11.2018; vgl. FIS 14.12.2018, ACCORD 21.09.2022).
Zusätzlich gibt es die Möglichkeit eines freiwilligen Militärdienstes. Frauen können ebenfalls freiwillig Militärdienst leisten (CIA 17.08.2021; vgl. FIS 14.12.2018).
Die syrische Regierung hat im Jahr 2016 begonnen, irreguläre Milizen im begrenzten Ausmaß in die regulären Streitkräfte zu integrieren (CMEC 12.12.2018). Mit Stand Dezember 2022 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 02.12.2022).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Rekrutierungskampagnen werden aus allen Gebieten unter Regimekontrolle gemeldet, besonders auch aus wiedereroberten Gebieten (EASO 11.2021). Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020).
Ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet (FIS 14.12.2018; vgl. ICG 09.05.2022). In Homs führt die Militärpolizei beispielsweise stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 03.06.2020). Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z.B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. EB 03.06.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht. Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) in der Lage ist, zu rekrutieren, jedoch nicht in allen Gebieten der AANES, in denen die kurdischen Gruppierungen vor Ort die Oberhand haben. Die syrische Regierung ist nach wie vor in einigen von der AANES kontrollierten Gebieten präsent und kann dort rekrutieren, wo sie im Sicherheitsdistrikt oder muraba'a amni im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie in Qamishli oder in Deir ez-Zor. In einigen Gebieten wie Afrin hat die syrische Regierung jedoch keine Kontrolle und kann dort keine Personen einberufen (Rechtsexperte 14.09.2022).
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die Syrische Arabische Armee eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.09.2022).
Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) operiert hauptsächlich im Gouvernement Idlib und anderen Gebieten im Nordwesten Syriens (Grenzstädte zur Türkei). Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.09.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 01.12.2022; vgl. Liveuamap 12.12.2022). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen und sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der „Gesuchten“ zu setzen, was ihre Verhaftung zur Rekrutierung erleichtert, wenn sie das Gouvernement Idlib in Gebiete unter der Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.09.2022).
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich im Gouvernement Aleppo konzentriert, von der Türkei unterstützt wird und aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA) besteht. Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann dort keine Personen für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.09.2022).
Reservedienst
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden (TIMEP 22.8.2019; vgl. STDOK 8.2017). Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z.B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Die Behörden ziehen vornehmlich Männer bis zu einem Alter von 27 Jahren ein, während Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise angehoben und auch Männer bis zu einem Alter von 55 oder sogar 62 Jahren, abhängig vom Rang, eingezogen, bzw. konnten Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen (ÖB 29.09.2020; vgl. FIS 14.12.2018, vgl. NMFA 5.2020). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020).
Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.01.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches "Hochfahren" dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.09.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).
Vor 2011 lag die Dauer der Wehrpflicht zwischen eineinhalb und zweieinhalb Jahren. Seit 2011 leisten die meisten Reservisten und Militärangehörigen ihren Dienst auf unbestimmte Zeit (NMFA 6.2021), nachdem die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten einstellte (DIS 5.2020; vgl. ÖB 7.2019). Nachdem die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020, vgl. NMFA 6.2021). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte, und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.02.2020). Im November 2020 erließ die Armeeführung der syrischen Regierung zwei Verwaltungserlässe, mit denen der Militärdienst für bestimmte Kategorien von Offizieren und Ärzten, die bis Januar 2021 zwei, bzw. siebeneinhalb Jahre als Reservisten gedient haben, faktisch beendet wird (COAR 24.11.2020). Zwei Erlässe beendeten mit 07.04.2020 den Militärdienst für bestimmte Kategorien von ehemals Wehrpflichtigen, welche nach dem Wehrdienst nicht abgerüstet worden waren, sowie von einberufenen Reservisten. Zwei weitere Erlässe - Berichten zufolge im November 2020 - beendeten den Einsatz und die Einberufung bestimmter Profile von Reservisten (EASO 11.2021). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vgl. NMFA 6.2021). Gleichzeitig werden Berichten aus dem Jahr 2021 zufolge weiterhin neue Rekruten und Reservisten eingezogen, und Rekrutierungskampagnen werden aus allen Gebieten unter Regimekontrolle gemeldet, besonders auch aus wiedereroberten Gebieten (EASO 11.2021).
Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen, wie zuletzt beispielsweise in Dara'a, trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022). Alle Eingezogenen können dagegen laut EASO [Anm.: inzwischen in European Union Agency for Asylum (EUAA) umbenannt] potenziell an die Front abkommandiert werden. Ihr Einsatz hängt vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab. Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EASO 11.2021). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus dem Bericht nicht hervor.]
Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts
Letzte Änderung: 29.12.2022
Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Diese Ausnahmen sind theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr Beschränkungen und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt werden (FIS 14.12.2018). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017).
EASO [inzwischen in European Union Agency for Asylum (EUAA) umbenannt] kommt in seinem Bericht vom April 2021 zu dem Schluss, dass aufgrund der unklaren Maßstäbe, die von den medizinischen Ausschüssen für die Bewertungen verwendet werden, die tatsächliche Handhabung der Tauglichkeitskriterien schwer eruierbar ist (EASO 4.2021).
Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB 29.09.2020). Es gibt Beispiele, wo Männer sich durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern vom Wehrdienst freigekauft haben, was jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet werden kann. So war es vor dem Konflikt gängige Praxis, sich vom Wehrdienst freizukaufen, was einen aber nicht davor schützt – manchmal sogar Jahre danach – trotzdem eingezogen zu werden (STDOK 8.2017). Auch berichtet eine Quelle, dass Grenzbeamte von Rückkehrern trotz entrichteter Befreiungsgebühr Bestechungsgelder verlangen könnten (DIS 5.2020).
Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland
Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr ("badal an-naqdi") zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000 US-Dollar zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (NMFA 6.2021; vgl. DIS 5.2020, vgl. EB 09.02.2019), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 09.02.2019). Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 31 (Rechtsexperte 14.09.2022) die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert, und die Gebühr auf 10.000 USD erhöht. Wer zwei, drei, vier oder mehr Jahre im Ausland wohnhaft ist, muss 9.000, 8.000 bzw. 7.000 USD bezahlen, um befreit zu werden. Wer außerhalb Syriens lebt und als Reservist einberufen wird, kann eine Befreiung erhalten, indem er 5.000 USD bezahlt (NMFA 6.2021). Für außerhalb Syriens geborene Syrer im wehrpflichtigen Alter, welche bis zum Erreichen des wehrpflichtigten Alters dauerhaft und ununterbrochen im Ausland lebten, gilt eine Befreiungsgebühr von 3.000 USD. Wehrpflichtige, die im Ausland geboren wurden und dort mindestens zehn Jahre vor dem Einberufungsalter gelebt haben, müssen einen Betrag von 6.500 USD entrichten (Rechtsexperte 14.09.2022). Ein Besuch von bis zu drei Monaten in Syrien wird dabei nicht als Unterbrechung des Aufenthalts einer Person in dem fremden Land gewertet. Für jedes Jahr, in welchem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den Wehrdienst aufschiebt oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an (DIS 5.2020; vgl. Rechtsexperte 14.09.2022). Eine Quelle berichtet, dass auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, durch die Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit werden können (DIS 5.2020; vgl. Rechtsexperte 14.09.2022). Diese müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor bei einer syrischen Auslandsvertretung bereinigen (DIS 10.2019).
Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann (NMFA 5.2020). Laut z.B. der syrischen Botschaft in Berlin müssen u.a. entweder ein Reisepass oder Personalausweis sowie eine Bestätigung der Ein- und Ausreise vorgelegt werden (SB Berlin o.D.), welche von der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde ausgestellt wird ("bayan harakat"). So vorhanden, sollten die Antragsteller auch das Wehrbuch oder eine Kopie davon vorlegen (Rechtsexperte 14.09.2022).
Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange, und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem Bestechungsgelder für die Bürokratie. Beispielsweise müssen junge Männer, die mit der Opposition in Verbindung standen, aber aus wohlhabenden Familien kommen, wahrscheinlich mehr bezahlen, um vorab ihre Akte zu bereinigen (Balanche 13.12.2021).
Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts
Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in Syrischen Pfund leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2.000 USD oder das Äquivalent in Syrischen Pfund nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird als ganzes Jahr gerechnet (SANA 08.11.2017; vgl. SLJ 10.11.2017, PAR 15.11.2017).
Diese mit dem Gesetz Nr. 35 vom 15.11.2017 beschlossene Änderung ermöglicht es der Direktion für militärische Rekrutierung, Vermögen wie Immobilien und bewegliche Güter von syrischen Männern zu beschlagnahmen, die ihren Verpflichtungen zur Ableistung des Militärdienstes nicht nachgekommen sind. Gesetz Nr. 39 vom 24.12.2019 zur Änderung von Artikel 97 des Wehrdienstgesetzes Nr. 30 aus dem Jahr 2007 veränderte die Art der vorgesehenen Beschlagnahmung. Es ermöglicht die Beschlagnahme von Eigentum von Männern, die das 42. Lebensjahr vollendet haben und weder den Militärdienst abgeleistet noch die Kompensationszahlung von 8.000 USD ordnungsgemäß beglichen haben, oder von deren Ehefrauen oder Kindern, ohne dass die betroffenen Personen davon in Kenntnis gesetzt werden. Derzeit kann das Vermögen dieser Person vorsorglich beschlagnahmt werden, was bedeutet, dass es weder verkauft noch an eine andere Partei übertragen werden kann. Das Vermögen kann ohne weitere Ankündigung vom Staat versteigert werden, anstatt es bis zu einer Lösung der Frage einzufrieren. Der Staat kann den geschuldeten Betrag aus der Versteigerung einbehalten und den Restbetrag (falls vorhanden) an die Person zurückzahlen, deren Eigentum versteigert wurde. Erreicht das Vermögen des Mannes nicht den Wert der Kompensationszahlung, kann das gleiche Versteigerungsverfahren auf das Vermögen seiner Frau oder seiner Kinder angewandt werden, bis der Wert der Gebühr erreicht ist (Rechtsexperte 14.09.2022).
Im Februar 2021 veröffentlichte das Ministerium für Medien und Information ein Video des Chefs der Abteilung für die Befreiung vom Militärdienst der syrischen Armee, in dem dieser die sofortige Beschlagnahme von Vermögenswerten ohne vorherige Benachrichtigung ankündigte, sofern die Zahlung des Ersatzgeldes nicht bis spätestens drei Monate nach Vollendung des 43. Lebensjahres erfolge. Eine Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten bzw. gerichtlich überprüfen zu lassen, fehlt laut Human Rights Watch. Außerdem wird dadurch ein zusätzliches Rückkehrhindernis geschaffen (AA 29.11.2021).
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Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung: 29.12.2022
Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und relativ wenige werden derzeit deswegen verhaftet (Landinfo 03.01.2018).
In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.11.2021).
Rückkehrüberlegungen syrischer Männer werden auch durch ihren Militärdienststatus beeinflusst (DIS/DRC 2.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.11.2021).
Rückkehrüberlegungen syrischer Männer werden auch durch ihren Militärdienststatus beeinflusst (DIS/DRC 2.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.11.2021).
Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Ob die Entrichtung einer "Befreiungsgebühr" wirklich dazu führt, dass man nicht eingezogen wird, hängt vom Profil der Person ab. Dabei sind junge, sunnitische Männer im wehrfähigen Alter am stärksten im Verdacht der Behörden, aber sogar aus Regimesicht untadelige Personen wurden oft verhaftet (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen". Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann (Balanche 13.12.2021).
Syrische Männer im wehrpflichtigen Alter können sich nach syrischem Recht durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freikaufen. Diese Regelung findet jedoch nur auf Syrer Anwendung, die außerhalb Syriens leben. Das Wehrersatzgeld ist nach einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre). Bei einem Aufenthalt ab fünf Jahren kommen pro Jahr weitere 200 USD Strafgebühr hinzu (AA 29.11.2021; vgl. Rechtsexperte 14.09.2022). Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 29.11.2021). Während es laut einer Quelle keine Berichte darüber gibt, dass diejenigen, die die Wehrdienstbefreiungsgebühr von 8.000 USD bezahlt haben, bei ihrer Rückkehr Probleme hatten (DIS 5.2022), berichten andere Quellen, dass unter anderem auch Rückkehrer bei ihrer Ankunft von den syrischen Behörden verhaftet, inhaftiert und gefoltert wurden, die eine Statusbereinigung vorgenommen hatten. Eine erteilte positive Sicherheitsüberprüfung stellt keinesfalls eine Garantie für eine sichere Rückkehr nach Syrien dar (EASO 6.2021).
Im Dezember 2019 trat eine Bestimmung in Kraft, wonach wehrfähige Männer, welche den Wehrdienst bis zu einem Alter von 42 Jahren nicht abgeleistet haben, eine Befreiungsgebühr von 8.000 USD bezahlen müssen, um einer Beschlagnahmung ihres Vermögens, bzw. des Vermögens ihrer Ehefrauen oder Kinder, zu entgehen (DIS 5.2020, vgl. AA 29.11.2021, Rechtsexperte 14.09.2022).
Gesetzliche Lage und aktuelle Handhabung
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Art. 98-99 ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 29.11.2021; vgl. Rechtsexperte 14.09.2022). Während manche die Ergreifung eines Wehrdienstverweigerers mit garantierter Folter und Todesurteil gleichsetzen (Landinfo 03.01.2018), sagen andere, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vgl. Landinfo 03.01.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 03.01.2018; vgl. DIS 5.2020). Berichten zufolge betrachtet die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen "terroristische" Bedrohungen zu schützen (STDOK 8.2017).
Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen "interner" und "externer" Desertion. Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z.B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.09.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Art. 102 bei Überlaufen zum Feind und gemäß Art. 105 bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 29.11.2021; vgl. Rechtsexperte 14.09.2022).
Die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen. Es gibt jedoch Fälle von militärischer Desertion, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.09.2022). Eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 03.01.2018; vgl. DIS 5.2020). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020). In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten zudem viele Deserteure und Überläufer, denen durch die "Versöhnungsabkommen" Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020). Human Rights Watch berichtete 2021 vom Fall eines Deserteurs, der nach seiner Rückkehr zuerst inhaftiert und nach Abschluss eines "Versöhnungsabkommens" zur Armee eingezogen wurde, wo er nach Angaben einer Angehörigen aufgrund seiner vorherigen Desertion gefoltert und misshandelt wurde (HRW 20.10.2021).
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen dokumentierte im ersten Halbjahr 2022 die Festnahme, Folter und Misshandlung von neun Männern, die der Wehrpflicht nicht nachgekommen oder übergelaufen waren. Unter anderem betraf dies Überläufer, die nach einer Amnestie zurückkehrten und dann verhaftet wurden (UNHRC 17.08.2022).
Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 04.12.2020; vgl. DIS 5.2020). Dazu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021).
Im Rahmen sog. lokaler "Versöhnungsabkommen" in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Ein Monitoring durch VN oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.11.2021). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am "Versöhnungsprozess" einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 09.05.2022). Zudem sind in den "versöhnten Gebieten" Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert. In manchen dieser Gebiete drohte die Regierung auch, dass die Bevölkerung keinen Zugang zu humanitärer Hilfe erhält, wenn diese nicht den Regierungseinheiten beitreten (FIS 14.12.2018).
Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Die Informationslage bezüglich wehrpflichtiger Rückkehrer ist widersprüchlich: Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutze das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar in den Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021). Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber wahnsinnig, als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine "Befreiungsgebühr" bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen. Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter). Selbst für privilegierte Leute mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021).
Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedene Organisationen
Letzte Änderung: 29.12.2022
Das Gesetz N. 11/2013 kriminalisiert alle Formen von Rekrutierung und Einsatz von Kindern unter 18 Jahren durch die Syrischen Streitkräfte und bewaffnete Oppositionsgruppen. Allerdings hat die Regierung keine Bemühungen gezeigt, den Einsatz von Kindersoldaten durch Regierungs- und regierungstreue Milizen, bewaffnete Oppositionsgruppen und terroristische Organisationen zu verfolgen. Die Regierung berichtete nicht von der Untersuchung, Verfolgung oder Verurteilung von verdächtigten Menschenhändlern, noch wurden Regierungsmitarbeiter, die an Menschenhandel, inklusive der Rekrutierung von Kindern, beteiligt waren untersucht, verfolgt oder verurteilt. Die Regierung führt weiterhin Verhaftungen und Inhaftierungen durch und misshandelte Opfer von Menschenhandel schwer - inklusive Kindersoldaten - und bestrafte diese für illegale Taten, zu denen sie von Menschenhändler gezwungen wurden. Sie hat regelmäßig Kinder für die vermeintliche Verbindung zu bewaffneten Gruppen inhaftiert, vergewaltigt, gefoltert und exekutiert. Sie hat keine Bemühungen gezeigt, diesen Kindern irgendwelche Schutzdienste zur Verfügung zu stellen. Die Regierung schützte Kinder auch nicht vor der Rekrutierung und dem Einsatz durch bewaffnete Oppositionsgruppen und Terrororganisationen (USDOS 29.07.2022).
Der UN-Sicherheitsrat konnte die Rekrutierung von insgesamt 1.423 Kindern zwischen 1.7.2018 und 30.6.2020 in 11 von 14 Gouvernements verifizieren, 73 % der Fälle wurden im Nordwesten Syriens (Idlib, Aleppo und Hama) bestätigt und 26 % im Nordosten (Raqqa, Hassakah und Der az-Zour). Zum Zeitpunkt der Rekrutierung waren 250 Kinder (18 %) unter 15 Jahre alt (UNSC 23.04.2021). In ihrem 2021 Bericht über Kinder und bewaffneten Konflikt verifizierten die UN die Rekrutierung und den Einsatz von 813 Kindern (777 Buben, 36 Mädchen) von Jänner bis Dezember 2020 durch: - Hay’at Tahrir ash-Sham (390); syrische bewaffnete oppositionelle Gruppen (früher als Freie Syrische Armee - FSA) bekannt) (170); - die Kurdischen Volksverteidigungseinheiten und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) (119) unter dem Schirm der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF); - regierungstreue Milizen (42); - Ahrar ash-Sham (31), Nur ad-Din az-Zanki (3) und die Armee des Islam (Jaysh al-Islam) (3), alle dem Namen nach unter dem Schirm der oppositionellen Syrischen Nationalen Armee (SNA) operierend; - die Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung (YDG-H) (30); - die Internen Sicherheitskräfte (13); - Hurras ad-Din (6); - IS (sog. Islamischer Staat) (4); - syrische Regierungskräfte (2). Die Fälle wurden vor allem in Idlib (477) und Aleppo (119) verifiziert. Von 813 Kindern wurden 99% (805) in Kampfhandlungen eingesetzt (UNGASC 06.05.2021). In Idlib werden von HTS Kinder für Kampfhandlungen eingesetzt, ebenso durch den sog. Islamischen Staat (IS), die Opposition und in geringerer Anzahl von regierungsnahen Milizen (ÖB 01.10.2021).
Die Regierung und regimenahe Milizen führten weiterhin Zwangsrekrutierungen von Kindersoldaten und deren Einsatz durch, was dazu führte, dass Kinder extremer Gewalt und Vergeltungsschlägen durch oppositionelle Kräfte ausgesetzt waren. Manche bewaffneten Gruppen, die für die syrische Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und regierungstreue Milizen, die als National Defence Forces oder „Shabiha“ bekannt sind, rekrutieren zwangsweise Kinder im Alter von sechs Jahren. Der Iran rekrutierte im Iran minderjährige Afghanen - darunter auch Zwölfjährige - unter Androhung von Abschiebung nach Afghanistan sowie iranische Minderjährige für schiitische Milizen in Syrien (USDOS 29.07.2022).
Jabhat an-Nusra und der sogenannte IS haben Kinder auch als menschliche Schutzschilder, Selbstmordattentäter, Scharfschützen und Henker eingesetzt. Kämpfer haben auch Kinder für Zwangsarbeit oder als Informanten eingesetzt, wodurch diese Vergeltungsschlägen und extremer Bestrafung ausgesetzt waren (USDOS 29.07.2022).
2014 haben die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) – Kernbestandteile der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) - die Geneva Call Verpflichtungserklärung zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten und der Vermeidung ihrer Rekrutierung unterzeichnet. Im Juni 2019 gelobten die SDF wieder, die Rekrutierung von Kindern zu stoppen, indem sie einen Aktionsplan mit den UN zur Beendigung und Vorbeugung der Rekrutierung und Einsatz von Kindern unter 18 unterschrieben (STJ 02.06.2021, ÖB 01.10.2021). Im September 2018 erließen die SDF einen Befehl, der die Rekrutierung von Minderjährigen verbietet und für Alterskontrollen der aktuellen Mitglieder der SDF sorgt (HRW 11.09.2018; cf. EB 07.12.2019). Zudem kündigte die sog. Selbstverwaltung am 30.08.2020 an, ein Büro für den Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten einzurichten. Das Büro und seine Außenstellen sollen seit Oktober 2020 operativ sein und Berichte und Beschwerden über die Zwangsrekrutierung Minderjähriger durch die SDF entgegennehmen. Laut den VN und dem SNHR wurden zwischen Januar 2014 und September 2020 mindestens 911 Kinder durch die YPG zwangsrekrutiert (AA 29.11.2021).
2019 wurden 30 rekrutierte Kinder vom Dienst bei den SDF entlassen. Mit Stand Juni 2020 wurde die Entlassung von 51 Mädchen berichtet (UNGASC 09.06.2020). Trotz dieser Schritte gab es Berichte von breiten Rekrutierungskampagnen durch die SDF und die Inhaftierung und zwangsweise Einziehung von Jugendlichen, sowie die Rekrutierung von Kindern zwischen 13 und 16 Jahren vom al-Hol Camp, darunter viele Waisen (EMHRM 18.09.2019). Obwohl die Auflistung von Kindersoldaten in Nordost-Syrien im Vergleich zu den Vorjahren zurückgegangen ist, beinhalten bewaffnete Einheiten weiterhin Minderjährige, die gerade mal 16 Jahre alt sind (STJ 02.06.2021). Die Praxis der Rekrutierung Minderjähriger scheint nach wie vor nicht eingestellt worden zu sein (AA 29.11.2021). Zu Anfang 2022 gab es noch einige Minderjährige in den SDF trotz früherer Entlassungen von Minderjährigen und Bemühungen deren Aufnahme zu unterbinden. Wie es zu Rekrutierungen, bzw. möglichen Zwangsrekrutierungen, von Minderjährigen für die SDF kommt, gibt es verschiedene Erklärungen (DIS 6.2022).
Nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen (regierungsfreundlich und regierungsfeindlich)
Letzte Änderung: 29.12.2022
Manche Quellen berichten, dass die Rekrutierung durch regierungsfreundliche Milizen im Allgemeinen auf freiwilliger Basis geschieht. Personen schließen sich häufig auch aus finanziellen Gründen den National Defense Forces (NDF) oder anderen regierungstreuen Gruppierungen an (FIS 14.12.2018; vgl. DRC/DIS 8.2017). Andere Quellen berichten von der Zwangsrekrutierung von Kindern im Alter von sechs Jahren durch Milizen, die für die Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und die NDF (auch als "shabiha" bekannt) (USDOS 01.07.2021). In vielen Fällen sind bewaffnete regierungstreue Gruppen lokal organisiert, wobei Werte der Gemeinschaft wie Ehre und Verteidigung der Gemeinschaft eine zentrale Bedeutung haben. Dieser soziale Druck basiert häufig auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft. Ein weiterer Hauptgrund für das Eintreten in diese Gruppierungen ist, dass damit der Wehrdienst in der Armee umgangen werden kann. Die Mitglieder können so in ihren oder in der Nähe ihrer lokalen Gemeinden ihren Einsatz verrichten und nicht in Gebieten mit direkten Kampfhandlungen. Die syrische Armee hat jedoch begonnen, diese Milizen in ihre eigenen Strukturen zu integrieren (FIS 14.12.2018), indem sie Mitglieder der Milizen, welche im wehrfähigen Alter sind, zum Beitritt in die syrische Armee zwingt (MEI 18.07.2019). Dadurch ist es unter Umständen nicht mehr möglich, durch den Dienst in einer lokalen Miliz die Rekrutierung durch die Armee oder den Einsatz an einer weit entfernten Front zu vermeiden (FIS 14.12.2018). Auch aufgrund der deutlich höheren Bezahlung der Milizmitglieder stießen die laufenden Bemühungen, Milizen in die syrische Armee zu integrieren, auf erheblichen Widerstand (MEI 18.07.2019). Regierungstreue Milizen haben sich außerdem an Zwangsrekrutierungen von gesuchten Wehrdienstverweigerern beteiligt (FIS 14.12.2018).
Was die oppositionellen Milizen in Syrien betrifft, so ist die Grenze zur Zwangsrekrutierung ebenfalls nicht klar. Nötigung und sozialer Druck, sich den Milizen anzuschließen, sind in von oppositionellen Gruppen gehaltenen Gebieten hoch (STDOK 8.2017). Anders als die Regierung und die Syrian Democratic Forces (SDF), erlegen bewaffnete oppositionelle Gruppen wie SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) Zivilisten in von ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 6.2021). Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer "regulären Armee" zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten "HTS-Wehrpflicht" in ldlib liebäugelte, damit dem "Staatsvolk" von ldlib eine "staatliche" Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte (BMLV 12.10.2022).
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Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 29.12.2022
Die Menschenrechtslage in Syrien hat sich trotz eines messbaren Rückgangs der gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht verbessert (AA 29.11.2021). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 01.03.2011 und 31.03.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.06.2022). Laut UN-Menschenrechtsrat erlaubt die Situation in Syrien unter Einbeziehung der Menschenrechtslage keine nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen (UNHRC 13.08.2021). Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 08.02.2022 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht von z.B. Angriffen auf die Zivilbevölkerung über Folter bis hin zur Beschlagnahmung des Eigentums von Vertriebenen (UNHRC 08.02.2022). Human Rights Watch (HRW) bezeichnet einige Angriffe der russisch-syrischen Allianz als Kriegsverbrechen (HRW 13.01.2022).
Das Regime wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich am Fehlen freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Bewaffnete Akteure aller Fraktionen, darunter auch die Regierung, versuchen ihre Herrschaft mit Gewalt durchzusetzen und zu legitimieren (BS 29.04.2020).
Es gibt erhebliche Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten mit einem in sich geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten (BS 29.4.2020). Konfessionelle und ethnische Zugehörigkeit, der Herkunftsort, der familiäre Hintergrund, etc. entscheiden über den Zugang zu Leistungen und Privilegien - oder deren Vorenthaltung. Dieser Umstand hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft, da es weniger Ressourcen zu verteilen gibt, und das Misstrauen der Bürger in den vom Regime kontrollierten Gebieten gestiegen ist (BS 23.02.2022).
Die Verfassung bestimmt die Ba'ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden wie den Arbeiter- und Frauenorganisationen hat. Die Ba'ath-Partei und neun kleinere Parteien in ihrem Gefolge bilden die Koalition der Nationalprogressiven Front, welche den Volksrat (das Parlament) dominiert. Die Wahlen 2020 waren von Anschuldigen von Wahlbetrug gekennzeichnet. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien, auch jenen, die mit der Ba'ath-Partei in der Nationalprogressiven Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Die Polizei verhaftete Mitglieder der verbotenen islamistischen Parteien einschließlich der Hizb ut-Tahrir und der syrischen Muslimbruderschaft (USDOS 12.04.2022).
Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen, pro-demokratischen Studentenvereinigungen und anderer Organisationen zu verhaften, welche als Unterstützer der Opposition wahrgenommen werden - einschließlich humanitärer Organisationen (USDOS 12.04.2022).
Das Regime bezeichnete Meinungsäußerungen routinemäßig als illegal, und Einzelpersonen konnten das Regime weder öffentlich noch privat kritisieren, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Das Regime übt weiterhin strikte Kontrolle über die Verbreitung von Informationen, auch über die Entwicklung der Kämpfe zwischen dem Regime und der bewaffneten Opposition und die Verbreitung des COVID-19-Virus, aus und verbietet die meiste Kritik am Regime und die Diskussion über konfessionelle Angelegenheiten, einschließlich der konfessionellen Spannungen und Probleme, mit denen religiösen und ethnischen Minderheiten konfrontiert sind. Kritik wird auch durch den breiten Einsatz von Gesetzen gegen Konfessionalismus erstickt (USDOS 12.04.2022).
Weiterhin besteht laut Auswärtigem Amt in keinem Teil des Landes ein umfassender und langfristiger Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Repression durch die zahlreichen Sicherheitsdienste, Milizen und sonstige regimenahe Institutionen. Dies gilt auch für Landesteile insbesondere im äußersten Westen des Landes sowie der Hauptstadt Damaskus, in denen traditionell Bevölkerungsteile leben, die dem Regime näher stehen. Selbst bis dahin als regimenah geltende Personen können aufgrund allgegenwärtiger staatlicher Willkür grundsätzlich Opfer von Repressionen werden (AA 29.11.2021; vgl. 19.05.2020). Im Rahmen der systematischen Gewalt, die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde, wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB 01.10.2021).
In Gebieten, die von der Regierung zurückerobert werden, kommt es zu Beschlagnahmungen von Eigentum, großflächigen Zerstörungen von Häusern und willkürlichen Verhaftungen (SNHR 26.01.2021; vgl. SHRC 1.2019, HRW 13.01.2022). Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie, auch Personen in zurückeroberten Gebieten, die sogenannte Versöhnungsabkommen unterzeichnet haben (HRW 13.01.2022; vgl. AA 29.11.2021, SNHR 26.01.2021). Berichten zufolge zögern die Menschen in kürzlich vom Regime zurückeroberten Gebieten aus Angst vor Repressalien über die dortigen Vorgänge zu reden (USDOS 12.04.2022). Ganze Städte und Dörfer wurden durch erzwungenes Verlassen ("forced deportations") entvölkert (BS 29.04.2020).
Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Auch Kollektivhaft von Angehörigen - auch Kindern - oder Nachbarn ist dokumentiert, fallweise auch wegen als regimefeindlich geltenden Personen im Ausland (AA 29.11.2021). Frauen mit familiären Verbindungen zu Oppositionskämpfern oder Abtrünnigen werden z.B. als Vergeltung oder zur Informationsgewinnung festgenommen (UNHRC 31.01.2019). Außerdem werden Personen festgenommen, die Kontakte zu Verwandten oder Freunden unterhalten, die in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (UNHRC 31.01.2019; vgl. UNHCR 07.05.2020, SNHR 26.01.2021).
Nach Angaben des Syrian Network for Human Rights (SNHR) sind seit März 2011 fast 15.000 Menschen an den Folgen von Folter gestorben, die meisten von ihnen durch syrische Regierungstruppen (HRW 13.01.2022). Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 1.2019). Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.11.2021).
Die syrischen Regimekräfte und ihre Sicherheitsapparate setzen ihre systematische Politik der Inhaftierung und des Verschwindenlassens von Zehntausenden von Syrern fort. Trotz der Verringerung des Tempos der Inhaftierungen und des gewaltsamen Verschwindenlassens im Jahr 2020 konnte keine wirkliche Veränderung im Verhalten des Regimes beobachtet werden, sei es in Bezug auf die Freilassung der Inhaftierten oder die Aufdeckung des Schicksals der Verschwundenen (SHRC 1.2021). Dem SNHR zufolge beläuft sich die Zahl von Inhaftierten und Verschwundenen mit Stand September 2021 auf rund 150.000. Für das erste Halbjahr 2021 dokumentierte SNHR 972 Fälle willkürlicher oder unrechtmäßiger Verhaftungen, darunter mindestens 45 Kinder und 42 Frauen. Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Das Regime macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021).
Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten. Es findet keine zuverlässige und für die Betroffenen verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt. Die Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Laut UNO ist in derartigen Fällen ein zentralisiertes Muster von Verlegungen in den Raum Damaskus erkennbar. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt. Häufiger werden die Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, zu denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen hiernach verschwunden. Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller Regel nicht. Oft werden die Familien unter Androhung von Gewalt und Repressionen zu Stillschweigen verpflichtet. Die VN und IKRK haben unverändert keinen Zugang zu Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (UNHRC 11.03.2021).
Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind unter anderem willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Tötungen von Zivilisten und sexuelle Gewalt; Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, einschließlich Zensur. Für das Jahr 2021 lagen keine Berichte über den Einsatz der verbotenen Chemiewaffen vor. Die Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) kam jedoch zum Schluss, dass stichhaltige Gründe vorliegen, dass das Regime z.B. im Jahr 2018 in Saraqib einen Angriff mit chemischen Waffen durchführte und ebenso in drei Fällen in Ltamenah im Jahr 2017 (USDOS 12.04.2022).
Die Regierung überwacht die Kommunikation im Internet, inklusive E-Mails, greift in Internet- und Telefondienste ein und blockiert diese. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke z.B. von E-Mails und Sozialen Medien ein. Die Syrian Electronic Army (SEA) ist eine regimetreue Hackergruppe, die regelmäßig Cyberattacken auf Websites und Überwachungen ausführt. Sie, weitere Gruppen und das Regime schleusen auch Software zum Ausspionieren und andere Schadsoftware auf Geräte von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionsmitgliedern und Journalisten ein (USDOS 12.04.2022). Des Weiteren wurde im April 2022 ein neues Cybercrime-Gesetz verabschiedet, welches von mehreren NGOs und Menschenrechtsgruppen als problematisch für die Meinungsfreiheit betrachtet wird.
Am 28.04.2022 erließ die syrische Regierung das Gesetz Nr. 15, welches Teile des Strafgesetzbuches novelliert und unter anderem Artikel 287 erweitert, der einen Zusatz bezüglich der Schädigung des Ansehens Syriens im Ausland beinhaltet. SNHR erklärt in einer Analyse zum Gesetz Nr. 15, dass das Gesetz früher diejenigen bestraft hatte, die im Ausland falsche oder übertriebene Nachrichten verbreitet hätten, die das Ansehen des Staates oder seine finanzielle Position untergraben würden. Gemäß der Änderung ist jede Person strafbar, die jegliches Ansehen des Staates untergräbt, sei es finanziell, sozial, kulturell, historisch oder andersartig. Vorgesehen ist eine Freiheitsstrafe zwischen einem halben und drei Jahren. Darüber hinaus ist Artikel 287 um ein neues Verbrechen erweitert worden, das alle Syrer bestraft, die Nachrichten verbreiten, die als Imageverbesserung eines feindlichen Staates angesehen werden könnten, um den Status des syrischen Staates zu kompromittieren (SNHR 28.04.2022). Die syrische Regierung hat Artikel 285 bis 287 des Strafgesetzbuches verwendet, um Journalisten, Medienschaffende und Blogger anzuklagen und zu inhaftieren (NMFA 15.05.2020).
Mit dem Regime verbündete paramilitärische Gruppen begingen Berichten zufolge häufig Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker, willkürliches Töten, Entführungen von Zivilisten, sexuelle Gewalt und ungesetzliche Haft. Alliierte Milizen des Regimes, darunter die Hizbollah, führten etwa zahlreiche Angriffe aus, die Zivilisten töteten oder verletzten (USDOS 12.04.2022).
Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen
In ihrem Bericht von März 2021 betont der Bericht der COI, dass das in absoluten Zahlen größere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das Regime und seine Verbündeten andere Konfliktparteien ausdrücklich nicht entlaste. Vielmehr ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen (u.a. Free Syrian Army, Syrian National Army [SNA], Syrian Democratic Forces [SDF]) und terroristische Organisationen (u.a. HTS - Hay'at Tahrir ash-Sham bzw. Jabhat an-Nusra, IS - Islamischer Staat) über den Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählen für alle Akteure willkürliche Verhaftungen, Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt sowie Verschwindenlassen Verhafteter. Insbesondere im Fall von Free Syrian Army, HTS bzw. Jabhat al-Nusra sowie IS werden auch Hinrichtungen berichtet (UNHRC 11.03.2021).
Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie z. B. die mit al-Qaida in Verbindung stehende Gruppe HTS, sind verantwortlich für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, darunter rechtswidrige Tötungen und Entführungen, rechtswidrige Inhaftierungen, extreme körperliche Misshandlungen und Tötungen von Zivilisten bei Angriffen, die als wahllos beschrieben wurden. Es kommt vor, dass Terrorgruppen wie der HTS gewaltsam Organisationen und Personen angreifen, die Menschenrechtsverletzungen untersuchen oder sich für die Verbesserung der Menschenrechtslage einsetzen (USDOS 12.04.2022).
Trotz der territorialen Niederlage des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Jahr 2019 verübt die Gruppe weiterhin Morde, Angriffe und Entführungen, darunter auch manchmal mit Zivilisten als Ziele (USDOS 12.04.2022).
Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten ist Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren das Rückzugsgebiet für viele moderate, aber auch radikale, teils terroristische Gruppen der bewaffneten Opposition geworden. HTS hat neben der militärischen Kontrolle über den Großteil des verbleibenden Oppositionsgebiets der Deeskalationszone Idlib dort auch lokale Verwaltungsstrukturen unter dem Namen "Errettungsregierung" aufgebaut. Auch unterhält der HTS ein eigenes Gerichtswesen, welches die Scharia anwendet, sowie eigene Haftanstalten (AA 29.11.2021). In der Region Idlib war 2019 ein massiver Anstieg an willkürlichen Verhaftungen und Fällen von Verschwindenlassen zu verzeichnen, nachdem der HTS dort die Kontrolle im Jänner 2019 übernommen hatte. Frauen wurden bzw. sind in den von IS und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt. Angehörige sexueller Minderheiten werden exekutiert (ÖB 01.10.2021).
In Idlib verhaftet der HTS Aktivisten, Mitarbeiter humanitärer Organisationen sowie ihm kritisch eingestellte Zivilisten. Im ersten Halbjahr 2021 waren laut dem SNHR mindestens 57 Personen Ziel willkürlicher Verhaftungen durch den HTS. In einigen Fällen verhängte der HTS die Todesstrafe (HRW 13.01.2022). Berichtet werden zudem Verhaftungen von Minderjährigen, insbesondere Mädchen. Als Gründe werden vermeintliches unmoralisches Verhalten wie beispielsweise das Reisen ohne männliche Begleitung oder unangemessene Kleidung angeführt. Mädchen soll zudem in vielen Fällen der Schulbesuch untersagt worden sein. HTS zielt darüber hinaus auch auf religiöse Minderheiten ab. So hat sich HTS laut der COI im März 2018 zu zwei Bombenanschlägen auf den schiitischen Friedhof in Bab al-Saghir bekannt, bei dem 44 Menschen getötet, und 120 verletzt wurden (AA 29.11.2021) Der HTS greift in vermehrtem Ausmaß in alle Aspekte des zivilen Lebens ein, z.B. durch Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen, Vorschreiben von Kleidungsvorschriften und Frisuren sowie durch das wahllose Einheben von Steuern und Geldbußen. Er beschlagnahmt auch viele Häuser und Immobilien von Christen (HRW 13.01.2022).
Versuche der Zivilgesellschaft, sich gegen das Vorgehen der HTS zu wehren, werden zum Teil brutal niedergeschlagen. Mitglieder der HTS lösten 2020 mehrfach Proteste gewaltsam auf, indem sie auf die Demonstrierenden schossen oder sie gewaltsam festnahmen. Laut der COI gibt es weiterhin Grund zur Annahme, dass es in Idlib unverändert zu Verhaftungen und Entführungen durch Mitglieder der HTS, auch unter Anwendung von Folter, kommt (AA 29.11.2021).
In den von der Türkei besetzten Gebieten verletzen die Türkei und lokale syrische Gruppierungen ungestraft die Rechte der Zivilbevölkerung und schränken ihre Freiheiten ein. Im Zuge der türkischen Militäroperation Friedensquelle im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam und kommt es Berichten zufolge zu willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der – mit den türkischen Truppen affiliierten – Milizen der SNA sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen (ÖB 01.10.2021). In der ersten Jahreshälfte 2021 verhaftete die SNA laut SNHR willkürlich 162 Personen. Mit Dezember 2019 hatten die türkischen Behörden und die mit der ihre verbündete SNA mindestens 63 syrische Staatsbürger verhaftet und illegalerweise in die Türkei verbracht. Dort stehen sie wegen Anklagen vor Gericht, die lebenslange Haftstrafen nach sich ziehen könnten. Fünf der 63 Syrer wurde bereits im Oktober 2020 zu lebenslanger Haft verurteilt. In der ersten Jahreshälfte 2021 verhaftete die SNA laut dem SNHR willkürlich 162 Personen (HRW 13.01.2022). Die Festnahme syrischer Staatsangehöriger in Afrin und Ra's al 'Ayn sowie deren Verbringung in die Türkei durch die SNA könnte laut COI das Kriegsverbrechen einer unrechtmäßigen Deportation darstellen (AA 29.11.2021).
Teile der SDF, einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen ebenfalls für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein, darunter willkürliche Inhaftierungen, Folter, Korruption, Rekrutierung von Kindersoldaten und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. Die SDF untersuchen weiterhin die gegen sie vorgebrachten Klagen. Es liegen keine Informationen über die gerichtliche Anklage einzelner Mitglieder der SDF vor (USDOS 12.04.2022). Die SDF führen Massenverhaftungen von Zivilisten, darunter Aktivisten, Journalisten und Lehrer, durch. In der ersten Jahreshälfte 2021 belief sich die Zahl der Verhafteten laut dem SNHR auf 369 Personen (HRW 13.01.2022). Das US-Außenministerium berichtet hingegen von "gelegentlichen" Einschränkungen von Menschenrechtsorganisationen und Schikanen gegen Aktivisten vonseiten der SDF und anderen Oppositionsgruppen, darunter "in manchen Fällen" willkürliche Haft (USDOS 12.04.2022). Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt jedoch laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA 04.12.2020).
Nach der territorialen Niederlage des IS im Nordosten Syriens meinen manche NGOs, wie beispielsweise Human Rights Watch (HRW), die Notwendigkeit, dass noch Entschädigungen für zivile Opfer geleistet, dass Unterstützung bei der Ermittlung des Schicksals der vom IS Entführten angeboten und dass sich angemessen mit der Notlage von mehr als 60.000 syrischen und ausländischen Männern, Frauen und Kindern, die auf unbestimmte Zeit als IS-Verdächtige und als deren Familienmitglieder unter schlechten Bedingungen in geschlossenen Lagern und Gefängnissen festgehalten wurde, befasst werden (HRW 13.01.2022).
Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen
Letzte Änderung: 29.12.2022
Todesfälle in der Haft und standrechtliche Hinrichtungen wurden in Hafteinrichtungen aller Parteien dokumentiert (UNHRC 17.11.2021).
Gebiete unter Regimekontrolle
Die Todesstrafe blieb für viele Straftaten in Kraft (AI 29.03.2022): Die syrische Strafgesetzgebung sieht für Mord, schwere Drogendelikte, Terrorismus, Hochverrat und weitere Delikte (AA 29.11.2021), wie zum Beispiel die Zerstörung öffentlicher Gebäude und Transport- sowie Kommunikationswege, die Todesstrafe vor (UNHRC 17.11.2021). In der juristischen Praxis wird der Begriff Hochverrat sehr weit gefasst und kann schon bei wahrgenommener Dissidenz erfüllt sein. Dies dient nicht zuletzt politischen Zwecken: Politische Gegner, bewaffnete Rebellen oder die humanitär tätigen syrischen „Weißhelme“ werden weitgehend unterschiedslos als „Terroristen“ eingestuft und sind damit von der Todesstrafe bedroht. Nach Definition des Regimes können bereits die Belieferung von Gebieten unter Kontrolle der Opposition mit humanitären Gütern oder die medizinische Behandlung von Oppositionellen mit der Todesstrafe geahndet werden. Regelmäßig vom Regime verkündete Amnestien (so zuletzt Dekret 13/2021) verringern ausgesprochene Todesurteile für eine Vielzahl von „klassischen“ Vergehen auf lebenslange harte Strafarbeit. Urteile wegen Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft, auf welche ebenfalls die Todesstrafe steht, werden seit einigen Jahren in der Regel in zwölfjährige Freiheitsstrafen umgewandelt. Bei anderen Vergehen, z.B. im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes von 2012, besteht die Todesstrafe jedoch im Allgemeinen fort (AA 29.11.2021). Offizielle Zahlen zu vollstreckten Todesurteilen liegen seit Beginn des bewaffneten Konflikts nicht mehr vor. Immer wieder werden jedoch Einzelfälle vom Regime bekannt gemacht, so im Oktober 2021 die Hinrichtung von 24 vermeintlich Verantwortlichen für die schweren Waldbrände in Nordsyrien im Jahr 2020 (AA 29.11.2021; vgl. AI 29.03.2022). Die Todesstrafe wird oftmals ohne vorangegangenes faires Verfahren und im Geheimen vollstreckt (ÖB 01.10.2021). Die Gerichtsverfahren vor einem militärischen Feldgericht erfüllten die internationalen Mindeststandards für faire Gerichtsverfahren bei Weitem nicht (AI 22.02.2018). Ein Überprüfungsausschuss, der befugt ist, die von syrischen Strafgerichten verhängten Todesstrafen zu überprüfen, nicht aber die der Sondergerichte, wurde im April 2022 wieder eingesetzt (EUAA 9.2022, vgl. STJ 07.06.2022).
- Beispiele - das Gefängnis von Sednaya und das Beilegungsabkommen von Dara'a
Anmerkung: Das Gefängnis Saydnaya dient lediglich als vergleichsweise gut belegtes Beispiel. Tatsächlich gibt es eine große Bandbreite an staatlichen wie nicht-staatlichen Gerichten und bewaffneten Akteuren mit jeweils eigenen offiziellen oder geheimen Gefängnissen.
Neben vollstreckten Todesurteilen kommt es zu Tötungen und Hinrichtungen von Inhaftierten ohne Anklage oder Urteil (AA 29.11.2021). Amnesty International schätzte 2017 allein die Zahl der zwischen 2011 und 2015 in Saydnaya hingerichteten Personen auf mindestens 13.000 Menschen (AI 22.10.2021). Im Jahr 2017 äußerte die US-Regierung öffentlich die Vermutung, dass syrische Behörden in Saydnaya jeden Freitag eine zwei- bis dreistellige Anzahl Häftlinge hinrichteten und hierfür eigens ein Krematorium angelegt hätten, um die Leichen von Gefangenen ohne Spuren zu beseitigen (AA 29.11.2021). Auch im Jahr 2021 gab es weitere Berichte über hunderte Tote im Saydnaya-Gefängnis und den Einrichtungen der Sicherheitsdienste sowie über dutzende Tote nach einem Gefangenentransfer in das Tishrin Militärspital. Ehemalige Insassen von Saydnaya berichteten auch über Tote durch Folter und unmenschliche Behandlung vor dem Hintergrund von weitverbreitetem Hunger und Tuberkulose (UNHRC 13.08.2021).
Das Dara'a Martyrs' Documentation Office meldete im Jänner 2021 die Hinrichtung von 83 militärischen Gegnern des Regimes, welche ein Beilegungsabkommen unter Vermittlung der russischen Militärpolizei angenommen hatten, sowie von 31 weiteren Personen, welche das Abkommen nicht angenommen hatten. Der NGO Global Voices zufolge hielt sich das Regime nie an die Bedingungen des Abkommens und ging weiterhin gegen Mitglieder der Opposition vor (USDOS 12.04.2022).
[…]
Relevante Bevölkerungsgruppen
[…]
Kinder
Letzte Änderung: 29.12.2022
Auch im Berichtszeitraum [Anm.: 2021 bis inkl. November] kam es in Syrien zu schwersten Verletzungen der Rechte von Kindern. Allein im ersten Halbjahr 2021 wurden nach Angaben des Syrian Network for Human Rights (SNHR) 145 Kinder bei Kampfhandlungen getötet. Der im April 2021 veröffentlichte dritte Bericht des UN-Generalsekretärs zur Lage von Kindern im bewaffneten Konflikt in Syrien konstatiert zum wiederholten Male zahlreiche Verstöße gegen die Rechte von Kindern und verurteilt diese aufs Schärfste. Hierzu zählten insbesondere die Rekrutierung und der Einsatz von Kindersoldaten, Inhaftierung und Folter, Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Kinder, Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser in Syrien sowie die Verweigerung humanitärer Hilfsleistungen als schwere Verstöße (AA 29.11.2021).
Staatsbürgerschaft und Geburtsregistrierung
Kinder leiten die Staatsbürgerschaft ausschließlich von ihrem Vater ab (USDOS 12.04.2022). In einem 2021 vorgelegten Bericht schreiben die syrischen Behörden, dass Sonderausschüsse prüfen, ob man Änderungen im Staatsbürgerschaftsrecht vornehmen sollte, die syrischen Müttern eine Weitergabe ihrer Staatsbürgerschaft an ihre Kinder ermöglichen würde. Laut dem niederländischen Außenministerium wurde diese Intention jedoch noch nicht zu Recht (NMFA 5.2022). In weiten Teilen des Landes, in denen die Standesämter nicht funktionieren, registrieren Behörden Geburten oft nicht (USDOS 12.04.2022), obwohl das neue Kinderrechtsgesetz jedem Kind das Recht auf eine Staatsangehörigkeit garantiert (NMFA 5.2022). Das Regime registriert keine Geburten kurdischer Einwohner, die nicht die syrische Staatsbürgerschaft besitzen, einschließlich staatenloser Kurden. Die Nichtregistrierung führte zum Entzug von Dienstleistungen, wie z.B. Ausstellung von Zeugnissen für sekundäre Schulbildung, Zugang zu Universitäten, Zugang zu formeller Beschäftigung sowie zu Dokumenten und Schutz (USDOS 12.04.2022).
Bildung und Schulen
Für alle Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren besteht eine Schulpflicht (USDOS 12.04.2022). Besonders gravierende Langzeitfolgen hat der Konflikt unter anderem im Bildungsbereich (SWP 07.04.2020): Wiederholte Angriffe auf Schulen, die wachsende Armut, die Rekrutierung von Buben für militärische Aufgaben und die Gewalt gegen Kinder in Gefängnissen behindern weiterhin die Möglichkeiten der Kinder eine Ausbildung zu erhalten, und hatten unverhältnismäßig starke Auswirkungen auf vertriebene Kinder - besonders Mädchen - und auf Kinder mit Behinderungen. Außerdem benötigen viele Schulen massive Reparaturarbeiten, einschließlich der Räumung von nicht-detonierten Explosivstoffen des Krieges, und die Schulen benötigen Hilfe für die Beschaffung einer Basisausstattung mit Lernmaterialien (USDOS 12.04.2022).
Aufgrund der Angriffe auf Schulen, welche das syrische Regime gemäß dem SNHR willkürlich wie auch absichtlich verübte, verzichten viele Eltern nun darauf, ihre Kinder in die Schule zu schicken, weil sie befürchten, dass sie zur Zielscheibe werden (SNHR 20.11.2021). Für Mädchen besteht auf dem Weg zur oder von der Schule ein besonderes Risiko sexueller Gewalt, die häufig der Hauptgrund dafür ist, dass Mädchen die Schule abbrechen oder von ihren Eltern aus der Schule genommen werden (UNPFA 11.2017).
2,1 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule, und weitere 1,3 Millionen sind in Gefahr, die Schule verlassen zu müssen (USDOS 12.04.2021). 6,1 Mio. Syrerinnen und Syrer sind laut Weltbank weder beschäftigt noch in einer Schule oder Ausbildung. Eine ganze Generation hat inzwischen keine Schulbildung genossen. Über ein Drittel aller Schulen ist beschädigt oder vollständig zerstört. Aufgrund der Covid-19-Pandemie waren die verbliebenen Schulen von März bis Dezember 2020 immer wieder geschlossen (AA 29.11.2021).
In Gebieten, die zuvor unter Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates (IS) standen und von den Syrian Democratic Forces (SDF) zurückerobert wurden, konnten Schulen wiedereröffnet werden. Viele der Schulen benötigen jedoch noch umfangreiche Reparaturen und müssen von explosiven Kampfmittelrückständen gesäubert werden (USDOS 30.03.2021).
Kinder-, Früh- und Zwangsehe
Das gesetzliche Heiratsalter beträgt 18 Jahre für Männer und 17 Jahre für Frauen. Buben im Alter von 15 Jahren oder Mädchen im Alter von 13 Jahren können heiraten, wenn ein Richter beide Parteien für willig und "körperlich reif" erklärt und die Väter oder Großväter beider Parteien zustimmen. Früh- und Zwangsehen sind immer häufiger anzutreffen, insbesondere in bestimmten Lagern. Kinder sind aufgrund der extremen finanziellen Not, die der Konflikt den Familien auferlegt, sowie aufgrund von COVID-19 und des gesellschaftlichen Drucks zunehmend von Früh- und Zwangsehen bedroht. Berichten zufolge arrangierten viele Familien die Verheiratung von Mädchen in jüngerem Alter, als dies vor Ausbruch des Konflikts üblich war, in dem Glauben, dass dies sie schützen und die finanzielle Belastung der Familie verringern würde. Es gab Fälle von Früh- und Zwangsverheiratung von Mädchen mit Mitgliedern des Regimes, der regimenahen Kräfte und der bewaffneten Opposition. NGOs berichten, dass frühe Eheschließungen sowie Zwangsheiraten in Gebieten unter Kontrolle bewaffneter Gruppen verbreitet sind, und dass oft die Ehen aus Angst vor dem Wehrdienst oder der Verhaftungen an den Regimecheckpoints nicht offiziell registriert werden (USDOS 12.04.2022).
Nordwestsyrien
Berichten zufolge wurde in von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierten Gebieten Schulen ihre Auslegung der Scharia aufgezwungen und Mädchen diskriminiert. Die Gruppe schrieb Lehrerinnen und Schülerinnen eine Kleiderordnung vor, und drohte allen Frauen, die sich nicht an die Kleiderordnung hielten, mit Entlassung. Berichten zufolge hinderten sie auch eine große Zahl von Mädchen am Schulbesuch (USDOS 12.04.2022). Es wird berichtet, dass Familien im Nordwesten Syriens ihre Töchter zunehmend wiederholt für kurze Zeit gegen Geld verheiraten, was den Tatbestand des sexuellen Menschenhandels erfüllt. Früh- und Zwangsverheiratungen waren in den von HTS kontrollierten Gebieten weit verbreitet. Es wurden Fälle berichtet, in denen SNA (Syrian National Army)-Mitglieder der Sultan-Murad-Brigade kurdische Frauen in Afrin und Ra's al-'Ayn zwangsverheiratet (USDOS 30.03.2021) sowie allgemein Mitglieder der SNA kurdische - einschließlich jesidischer Frauen und Mädchen - vergewaltigt haben (USDOS 12.04.2022).
Nordost-Syrien
Die SDF halten seit mindestens 2019 weiterhin mehr als 10.000 mutmaßliche ehemalige IS-Kämpfer in Gefängnissen in ganz Ostsyrien fest. Darunter sind rund 750 männliche Jugendliche, die in mindestens zehn Gefängnissen inhaftiert sind. Auch Jahre nach der territorialen Niederlage des IS sind noch immer Tausende von Frauen und Kindern in Lagern im Nordosten Syriens in dem Gebiet unrechtmäßig interniert, welches von der kurdisch geführten SDF-Koalition kontrolliert wird. In al-Hol und anderen Lagern nahe der irakischen Grenze im Nordosten Syriens werden schätzungsweise 40.000 Kinder festgehalten. Fast die Hälfte davon sind Iraker; 7.800 kommen aus fast 60 anderen Ländern. Seit Mitte 2019 wurden fast 5.000 syrische Kinder im Rahmen sogenannter "Stammespatenschaften" aus den Lagern in Gemeinden im Nordosten entlassen. Etwa 1.000 ausländische Kinder wurden ebenfalls freigelassen und nach Hause gebracht. Die meisten ausländischen Kinder sind jedoch weiterhin ihrer Freiheit beraubt, weil sich ihre Heimatländer weigern, sie zurückzunehmen. Die meisten sind unter zwölf Jahre alt. Niemand beschuldigt sie eines Verbrechens, doch werden sie seit über drei Jahren unter entsetzlichen Bedingungen festgehalten und ihres Rechts auf Bildung, Spiel und angemessene medizinische Versorgung beraubt (UNHRC 14.09.2021, vgl. AI 29.03.2022, FH 24.02.2022, HRW 13.01.2022).
Unter der Herrschaft des sogenannten Islamischen Staats
Aus früheren Jahren sind Zwangsverheiratungen durch den IS bekannt - in vielen Fällen junge Mädchen (USDOS 12.04.2022): Ab 2014 begann der IS, Frauen und Mädchen im Alter von 12 bis 16 Jahren in den von ihm kontrollierten Gebieten zwangszuverheiraten. In den Jahren zuvor hatte der IS jesidische Mädchen im Irak entführt, sexuell ausgebeutet und sie zur Vergewaltigung und Zwangsverheiratung nach Syrien gebracht. Die Free Yezidi Foundation berichtete, dass jesidische Frauen und Kinder aufgrund des schweren Traumas, das sie durch die Behandlung unter dem ISIS erlitten haben, und aus Angst bei IS-nahen Familien in Internierungslagern bleiben. Der Oberste Geistliche Rat der Jesiden hat angekündigt, dass jedes Kind eines muslimischen oder "unbekannten" Vaters als muslimisch registriert werden muss, wodurch jesidischen Kindern, die unter dem IS geboren wurden, ein Platz in der jesidischen Gemeinschaft verwehrt wird, und ein weiteres Hindernis für die Rückkehr jesidischer Frauen in ihre Heimatgemeinden entsteht (USDOS 30.03.2021) Der Zugang zu Bildung im Lager für Binnenvertriebene in al-Hol ist Berichten zufolge weiterhin unzureichend. Die SDF beendeten die Nutzung von zwölf Schulen für militärische Zwecke und übergaben sie an die lokalen Räte, um den Zugang der Kinder zu Bildung zu verbessern. Trotz wiederholter Vereinbarungen, die Rekrutierung von Minderjährigen zu stoppen, gab es Berichte über groß angelegte Rekrutierungskampagnen der SDF, bei denen Jugendliche verhaftet und zwangsrekrutiert wurden, sowie über die Rekrutierung von Kindern zwischen 13 und 16 Jahren aus dem Lager al-Hol, von denen viele Waisen waren (EMHRM 18.09.2019). Alle Konfliktparteien haben Minderjährige rekrutiert (UNGASC 06.05.2021).
Kindesmisshandlung und -missbrauch
Das Gesetz verbietet Kindesmisshandlung nicht ausdrücklich. Es sieht vor, dass Eltern ihre Kinder in einer Form disziplinieren können, die nach allgemeinem Brauch zulässig ist (USDOS 12.04.2022).
NGOs berichteten ausführlich über Regime- und regimefreundliche Kräfte sowie HTS, die Kinder sexuell missbrauchen, foltern, festhalten, töten und anderweitig misshandeln. Die HTS hat Kinder in den von ihr kontrollierten Gebieten extrem hart bestraft und sogar hingerichtet (USDOS 30.03.2021). Das gesetzliche Alter für die sexuelle Mündigkeit liegt bei 15 Jahren, wobei es keine Ausnahmeregelung für Minderjährige gibt. Vorehelicher Sex ist illegal, aber Beobachter berichteten, dass die Behörden das Gesetz nicht durchsetzen. Die Vergewaltigung eines Kindes unter 15 Jahren wird mit einer Freiheitsstrafe von mindestens 21 Jahren und Zwangsarbeit bestraft. Es gab keine Berichte über die strafrechtliche Verfolgung in Vergewaltigungsfällen von Kindern durch das Regime (USDOS 12.04.2022). Regierungstruppen setzten die Vergewaltigung von Kindern als "Kriegswaffe" ein und missbrauchten die Kinder von Oppositionellen in den Gefängnissen der Regierung, an Kontrollpunkten und bei Hausdurchsuchungen systematisch und völlig ungestraft. Einem befragten Offizier zufolge machten sie in der Haft keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Minderjährigen - selbst bei Folter nicht (ZI 02.07.2017).
Zwischen März 2011 und Juni 2021 dokumentierte das SNHR den Tod von mindestens 14.565 Personen durch Folter, darunter 181 Kinder, durch die Konfliktparteien in Syrien, wobei das syrische Regime für 98,6 % dieser Todesfälle verantwortlich ist (SNHR 14.06.2021).
Kinderarbeit und Nahrungsmittelversorgung
Das Gesetz sieht den Schutz von Kindern vor Ausbeutung am Arbeitsplatz vor und verbietet die schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Es gab nur wenige öffentlich zugängliche Informationen über die Durchsetzung des Kinderarbeitsgesetzes. Das Regime unternahm keine nennenswerten Anstrengungen zur Durchsetzung von Gesetzen, die Kinderarbeit verhindern oder beseitigen. Das Mindestalter für die meisten nichtlandwirtschaftlichen Tätigkeiten beträgt 15 Jahre oder den Abschluss der Grundschule, je nachdem, was zuerst eintritt. Das Mindestalter für die Beschäftigung in Industrien mit schwerer Arbeit beträgt 17 Jahre. Für die Beschäftigung von Kindern unter 16 Jahren ist die Erlaubnis der Eltern erforderlich. Kinder, die jünger als 18 Jahre sind, dürfen nicht mehr als sechs Stunden pro Tag arbeiten und keine Überstunden leisten oder in Nachtschichten, an Wochenenden oder offiziellen Feiertagen arbeiten. Das Gesetz sieht vor, dass die Behörden bei Verstößen "angemessene Strafen" verhängen sollen. Es gab jedoch keine Informationen, aus denen hervorging, welche Strafen angemessen waren. Die Beschränkungen für Kinderarbeit gelten nicht für Personen, die in Familienbetrieben arbeiten und kein Gehalt erhalten (USDOS 12.04.2022).
Kinderarbeit gibt es in Syrien sowohl in informellen Sektoren, einschließlich Betteln, Hausarbeit und Landwirtschaft, als auch in Positionen, die mit dem Konflikt zu tun haben, z. B. als Aufpasser, Spione und Informanten. Bei konfliktbezogener Arbeit sind Kinder erheblichen Gefahren durch Vergeltung und Gewalt ausgesetzt. Organisierte Bettelringe setzen die innerhalb des Landes vertriebenen Kinder weiterhin der Zwangsarbeit aus (USDOS 12.04.2022).
Mindestens 12,4 Millionen Syrer von einer geschätzten Gesamtbevölkerung von ungefähr 16 Millionen sind einer Unsicherheit bei der Lebensmittelversorgung ausgesetzt - ein Anstieg von 3,1 Millionen innerhalb eines Jahrs. Mehr als 600.000 Kinder sind chronisch unterernährt (HRW 13.01.2022). Laut der NGO Save the Children waren im März 2022 sogar fast 800.000 Kinder unterernährt (NMFA 5.2022). Im Oktober 2020 waren 4,7 Millionen Kinder auf humanitäre Hilfe angewiesen (USDOS 30.03.2021). 90 % aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel aus (AA 29.11.2021). Haushalte, welche von einem Nahrungsmittelmangel betroffen waren, wendeten im Herbst 2021 mitunter Kinderarbeit und Schulabbruch als Bewältigungsstrategien an (WFP 11.2021). In drei Viertel der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei (AA 29.11.2021). Kinder als Straßenverkäufer oder auf Müllhalden wurden mit der anhaltenden Verschlechterung der Lebensbedingungen aller syrischen Familien ein regelmäßiger Anblick, weil Hunderttausende von Familien unterhalb der Armutsgrenze leben. Auch kam es zu einer Zunahme an obdachlosen Kindern, die allen Formen der Ausbeutung ausgesetzt sind (SNHR 20.11.2021).
Zivile Opfer durch nicht explodierte Kampfmittelrückstände
Das United Nations Mine Action Service (UNMAS) bezeichnet das Ausmaß, die Schwere und die Komplexität der Bedrohung durch Sprengstoffe in Syrien nach wie vor als ein großes Schutzproblem, das die humanitäre Krise und die Gefährdung der Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten verschärft (UNMAS 9.2022). Die Überreste der Waffen, die das syrische Regime und seine Verbündeten bei der massiven und wahllosen Bombardierung der nicht von ihnen kontrollierten Gebiete eingesetzt haben, und die es in jeder Form, Art und Größe gibt, gehören zu den größten Gefahren, die das Leben der Zivilbevölkerung und insbesondere der Kinder bedrohen. An erster Stelle stehen die Überreste von Streumunition, die in großem Umfang und wahllos eingesetzt wurde; die Submunition oder "Bomblets" dieser Waffen sind über große Gebiete verteilt, nachdem sie durch die erste Explosion nach dem Einschlag des Hauptsprengkörpers weiträumig verstreut wurden, wobei zwischen 10 % und 40 % dieser "Bomblets" nicht explodiert sind und daher eine tödliche Gefahr darstellen. Diese Submunition, die in großer Zahl auf landwirtschaftlichen Flächen, in den Ruinen von Städten und Dörfern und sogar in Flüchtlingslagern verstreut ist, ist in der Regel gut versteckt und kann jederzeit explodieren, da sie durch jede noch so kleine Bewegung ausgelöst wird. Landminen, die von allen Konfliktparteien gelegt wurden, stellen in dieser Kategorie nach Streumunition die zweitgrößte tödliche Bedrohung dar. Die Überreste dieser Waffen haben zahlreiche zivile Opfer gefordert, vor allem unter Kindern, die am stärksten gefährdet sind, weil sie die Überreste nicht identifizieren oder ihre Gefahr nicht erkennen können. Diejenigen Kinder, welche durch die Explosionen dieser Überreste verletzt wurden, haben oft Gliedmaßen verloren oder sind anderweitig dauerhaft behindert und müssen für den Rest ihres Lebens mit diesen Beeinträchtigungen leben (SNHR 20.11.2021).
Bewegungsfreiheit
Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens
Letzte Änderung: 09.08.2022
Die Regierung, Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und andere bewaffnete Gruppen beschränken die Bewegungsfreiheit in Syrien und richteten Checkpoints zur Überwachung der Reisebewegungen in den von ihnen kontrollierten Gebieten ein (USDOS 12.04.2022). Landesweit wurden zahlreiche Checkpoints eingerichtet. Überlandstraßen und Autobahnen werden zeitweise gesperrt (BMEIA 05.04.2022). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land (AA 05.04.2022). Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile von einander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara'a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021).
Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte "Versöhnungskarte" vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Listen. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, wenn sie aus oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder dort wohnen, oder auch wenn sie Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensgleichheit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Checkpoints führen (DIS/DRC 2.2019).
Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich (DIS 9.2019), bzw. ziemlich willkürlich, sein. Die fehlende Rechtssicherheit und die in Syrien im Verlauf des Konfliktes generell gestiegene Willkür verursacht auch Probleme an Checkpoints (FIS 14.12.2018). In den Gebieten des Regimes verlangen die Mitarbeiter der Sicherheitsdienste für eine sichere Passage durch ihre Checkpoints Bestechungsgeld. So werden z.B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara'a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben. Die ungefähr fünf Kontrollpunkte werden von verschiedenen Teilen des Sicherheitsapparats betrieben. Rückkehrende aus dem Libanon bezahlen Schmuggler, um die Checkpoints zu umgehen (HRW 20.10.2021).
Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2018 befinden sich weit weniger Gebiete unter Belagerung, nachdem die Regierung und sie unterstützende ausländische Einheiten die meisten Gebiete im Süden und Zentrum des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben (SHRC 24.01.2019). Vom 24.06. bis zum 09.09.2021 wurde Dara'a al-Balad von der syrischen Regierung und russischen Streitkräften belagert. Die Hauptverbindungsstraßen zwischen Dara'a al-Balad, dem Teil von Dara'a, der noch unter der teilweisen Kontrolle der versöhnten Oppositionellen stand, und anderen Teilen der Stadt sowie zu den Außenbezirken waren abgeschnitten (COAR 05.07.2021).
Die vorherrschende Gewalt und starke kulturelle Zwänge schränken die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten stark ein. In Gebieten, die von bewaffneten Oppositionsgruppen und terroristischen Gruppen wie der islamistischen Miliz Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert werden, schränken diese ebenfalls die Bewegungsfreiheit ein. Die HTS greift systematisch in die Bewegungsfreiheit von Frauen ein und schreibt ihnen die Begleitung durch einen "mahram", einem nahen männlichen Verwandten, in der Öffentlichkeit vor (USDOS 12.04.2022).
Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen
Letzte Änderung: 09.08.2022
Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet, verweigern. Die Kosten für einen Reisepass von 800 bis 2.000 USD macht diesen für viele unerschwinglich. Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer (USDOS 12.04.2022). Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt: Insbesondere in den Gouvernements Aleppo und Idlib ist die Lage weiterhin fragil, und es kommt nach wie vor zu teils intensiven Kampfhandlungen. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 31.03.2022).
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen „black lists“ betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Seit 01.08.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt (ÖB 01.10.2021). Das stellt ein weiteres Hindernis für eine Rückkehr dar. Fälle, bei denen Rückkehrende am Grenzübergang Nasib nicht den Betrag in syrischen Pfund ausgehändigt bekamen, sind von Human Rights Watch dokumentiert. Anfang April 2021 wurden Vertriebene von der Zahlung ausgenommen (HRW 20.10.2021).
Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen das Reisen zu verbieten (USDOS 12.04.2022).
Einige in Syrien aufhältige Palästinenser brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen. Dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017).
Infolge der COVID-19-Pandemie verfügte Maßnahmen wurden bereits wieder sowohl für Reisen in das Ausland, als auch bei der Einreise nach Syrien gelockert. Der Flugbetrieb am internationalen Flughafen in Damaskus wurde wieder aufgenommen (BMEIA 19.08.2020), ist aber weiterhin reduziert (BMEIA 05.04.2022). Der Flughafen Damaskus und Grenzübergänge werden regelmäßig unter Angabe drohender Gewalt als Begründung geschlossen (USDOS 12.04.2022).
Binnenvertriebene (IDPs) und Flüchtlinge
Letzte Änderung: 29.12.2022
Binnenvertriebene (IDPs)
Seit 2011 flüchteten 12,3 Millionen Syrer und Syrerinnen, davon waren Anfang 2022 6,7 Millionen Menschen Binnenvertriebene (HRW 13.01.2022). Im Jahr 2021 registrierte UNOCHA in Syrien 455.864 Binnenvertriebene, im Zeitraum Jänner-Oktober 2022 rund 170.800. Dem gegenüber dokumentierte UNOCHA im Jahr 2021 die Rückkehr von ca. 169.000 Binnenvertriebenen, in den Monaten Jänner bis Oktober 2022 kehrten rund 102.300 von UNOCHA erfasste Binnenvertriebene zurück (UNOCHA 27.12.2022).
Die meisten Binnenflüchtlinge suchen in Gastgemeinden, Sammelzentren, verlassenen Gebäuden oder informellen Lagern Obdach (USDOS 12.04.2022).
Die Verschiebung der Frontlinien und die daraus folgenden Veränderungen der Sicherheitslage führten zu mehrmaliger Vertreibung von Personen: IDPs verließen bei einem Rückgang der Gewalt [in einem Gebiet] ihre Unterkünfte und kehrten in ihre Heimat zurück, nur um dann erneut zu fliehen, nachdem die Kämpfe wieder eskalierten (IDMC o.D.).
Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut diesen Berichten haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 29.11.2021). Die Regierung verwendete weiterhin Gesetz Nr. 10, um regierungstreue Personen zu belohnen, und Flüchtlinge und IDPs daran zu hindern, ihr Eigentum einzufordern oder in ihre Heimat zurückzukehren (USDOS 02.06.2022).
Flüchtlinge
Es wird geschätzt, dass sich 23.600 nicht-palästinensische Flüchtlinge in Syrien aufhalten. Das syrische Gesetz bietet die Möglichkeit, den Flüchtlingsstatus zu gewähren. Das Gesetz garantiert Flüchtlingen nicht explizit das Recht auf Arbeit, außer Palästinensern mit einem bestimmten rechtlichen Status. Die Regierung gewährt Nicht-Palästinensern selten Arbeitsgenehmigungen, und viele Geflüchtete finden im informellen Sektor Arbeit, z.B. als Wachpersonal, Bauarbeiter, Straßenhändler oder in anderen manuellen Berufen (USDOS 12.04.2022).
Die Regierung gewährt irakischen Flüchtlingen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, wie Gesundheitsversorgung und Bildung, doch Aufenthaltsgenehmigungen sind nur für jene erhältlich, die legal einreisen, und über einen gültigen Pass verfügen. Diese Kriterien erfüllen nicht alle Flüchtlinge. Sie sind mit wachsenden Risiken und verstärkten Sicherheitsmaßnahmen bei Checkpoints konfrontiert (USDOS 12.04.2022).
Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung: 29.12.2022
Der seit 2011 andauernde Krieg in Syrien hat massive Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung, die Sicherheitslage und die humanitäre Lage im Land. Die Regierung Syriens sieht sich mit internationalen Sanktionen, einer breiten Zerstörung der Infrastruktur, geringen Devisenreserven, der weiterhin nicht vollständigen territorialen Kontrolle aller Landesteile, einer hohen Anzahl an Binnenflüchtlingen sowie der Präsenz kleinerer terroristischer Gruppen konfrontiert (WKO 13.09.2021). Mit 2021 belief sich der wirtschaftliche Schaden des Kriegs auf 1,2 Billionen USD, hauptsächlich durch die Zerstörung von Infrastruktur und die massiven Vertreibungen durch Einsatz verbotener Kriegstaktiken primär durch die syrischen und russischen Streitkräfte (HRW 130.1.2022). Das BIP schrumpfte [Anm.: Stand September 2021] auf ein Fünftel gegenüber 2010. Die Ölproduktion fiel von 380.000 auf 25.000 Barrel pro Tag. Die Handelsbilanz war 2020 mit 4,3 Mrd. USD stark defizitär. Ein Drittel des Wohnungsbestandes wurde ganz oder teilweise zerstört. Allein registrierte Arbeitslosigkeit beläuft sich auf 50 %. Andererseits gibt es einen Mangel an qualifiziertem Personal in bestimmten Sektoren und Gebieten, u.a. bedingt durch die Vertreibung. Der Konflikt hat die soziale Ungleichheit verschärft: 90 % der Menschen leben in Armut. Die Überweisungen der im Ausland lebenden Syrer bildeten mit 1,6 Mrd. USD einen wesentlichen Plusposten; diese dürften sich COVID-bedingt und aufgrund der Verschärfung der Sanktionen um 50 % halbieren (ÖB 01.10.2021). Laut Economist stellen Produktion und Schmuggel von Drogen - besonders von Captagon - mittlerweile die Hauptquelle Syriens für Devisen dar. Die Produktion und der Schmuggel erfolgen durch Elemente mit Verbindungen zu Regimefunktionären und der Hizbollah: Der New York Times zufolge dominiert dabei die Vierte Gepanzerte Division der Syrischen Armee, welche von Bashar al-Assads Bruder Maher al-Assad kommandiert wird. In Europa und dem Nahen Osten erfolgen große Beschlagnahmungen von Captagon, die aus regimekontrollierten Häfen in Syrien stammten (USDOS 12.04.2022).
Nach zwei Jahren Wachstum brach die Wirtschaft um 8 % ein. Die Inflation betrug mehr als 110 %. Der Verfall des syrischen Pfunds hat sich in den beiden letzten Jahren beschleunigt; ein Grund dafür ist die Liquiditätskrise/Limitierung der Ausgaben von USD durch die Banken im Libanon. Die Voraussetzungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung sind derzeit nicht gegeben; die Perspektiven haben sich vielmehr verschlechtert. Mit Iran sieht sich ein wichtiger Kreditgeber und Erdöllieferant aufgrund der US-Sanktionen selbst massiv unter wirtschaftlichem Druck (ÖB 01.10.2021). Die im November 2018 und März 2019 erfolgte Verschärfung der US-Sanktionen und das Auslaufen der iranischen Kredite für Ölimporte 2018 führten zu einem massiven Versorgungsengpass an Öl (WKO 17.10.2019).
Landesweite Wirtschaftsindikatoren zeigen die Lage in Syrien jedoch nur unvollständig, weil die Situation regional unterschiedlich ist und davon abhängt, unter wessen Kontrolle das jeweilige Gebiet steht (BS 29.04.2020). Auch basiert das Zahlenmaterial teils auf Schätzungen oder Statistiken, die regionale Unterschiede missachten, nicht flächendeckend sind oder zu Propagandazwecken veröffentlicht werden (WKO 10.2019). Die syrische Regierung kontrolliert auch die Sammlung von Daten (EIP 6.2019).
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Rückkehr
Letzte Änderung: 29.12.2022
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen [Anm.: Siehe weiter unten für weitere Informationen zu Sicherheitsüberprüfungen!], Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021). Einem Bericht von Amnesty International zufolge betrachten die syrischen Behörden Personen, welche das Land verlassen haben, als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen (AI 9.2021). Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Offiziell gibt der Staat zwar vor, Syrer zur Rückkehr zu ermutigen, aber insgeheim werden jene, die das Land verlassen haben, als "Verräter" angesehen. Aus Sicht des syrischen Staates ist es besser, wenn diese im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für Präsident al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo hat der syrische Staat laut einem befragten Syrien-Experten jedoch keine Verwendung (Balanche 13.12.2021). Das Regime will Rückkehrer mit Geld - nicht einfache Leute (Khaddour 24.12.2021).
Immer wieder sind Rückkehrende, insbesondere – aber nicht nur – solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt sind oder auch nur als solche erachtet werden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt. Fehlende Rechtsstaatlichkeit und allgegenwärtige staatliche Willkür führen dazu, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert, oder eingeschüchtert wurden. Zuletzt dokumentierten Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Berichten von September bzw. Oktober 2021 Einzelfälle schwerwiegendster Menschenrechtsverletzungen von Regimekräften gegenüber Rückkehrenden, die sich in verschiedenen Orten in den Regimegebieten, einschließlich der Hauptstadt Damaskus, ereignet haben sollen. Diese Berichte umfassten Fälle von sexualisierter Gewalt, willkürlichen und ungesetzlichen Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen bis hin zu Verschwindenlassen und mutmaßlichen Tötungen von Inhaftierten. Die Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.11.2021).
Hindernisse für die Rückkehr
Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD) ist für 58 % aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 04.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutze das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar in den Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).
Die katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 01.10.2021). Mangel an Wohnraum und Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.02.2022). Viele Menschen haben ihre Häuser zurückgelassen, die mittlerweile von jemandem besetzt wurden. Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst (mukhabarat) auf sie hetzen, und so in Schwierigkeiten bringen (Balanche 13.12.2021).
Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die verblieben sind. Erstere werden mit Missbilligung gesehen als Leute, die davon gelaufen sind, während Letztere oft Familienmitglieder im Krieg verloren und unter den Sanktionen gelitten haben (Khaddour 24.12.2021; vgl. Üngör 15.12.2021). Es kann daher zu Denunziationen oder Erpressungen von Rückkehrern kommen, selbst wenn diese eigentlich "sauber" sind, mit dem Ziel, daraus materiellen Gewinn zu schlagen (Üngör 15.12.2021). Ein weiteres soziales Problem sind persönliche Racheakte: Wenn bei Kämpfen zwischen zwei Gruppen jemand getötet wurde, kann es vorkommen, dass jemand, der mit dem Mörder verwandt ist, von der Familie des Ermordeten im Sinne der Vergeltung getötet wird. Dies hindert viele an der Rückkehr in ihren Heimatort (Balanche 13.12.2021).
Neben den fehlenden sozio-ökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer Rückkehr entgegensteht. Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr (ÖB 01.10.2021). Die Meinungen zur Haltung der Regimekräfte gegenüber Rückkehrern sind uneinheitlich. Uğur Üngör geht davon aus, dass jeder, der das Land verlassen hat und nach Europa geflohen ist, vom Regime als verdächtig angesehen wird, da es im Verständnis des Regimes keinen Grund gab, zu fliehen. Die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl können negativ gesehen werden - im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Dies gilt jedoch nicht für Personen, die eine offiziell bestätigte regierungsfreundliche Einstellung haben. Weiters werden Personen, die in die Türkei geflohen sind, als Vertreter von Erdoğans Regierung gesehen. Wer im Ausland negative Äußerungen über das Regime gemacht hat (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat auf Social Media), kann bei der Rückkehr speziell vom politischen Geheimdienst überprüft werden. Wenn man Glück hat, sind die Anschuldigungen nicht sehr ernst oder man kann ein Bestechungsgeld zahlen, um freizukommen, andernfalls kann man direkt vor Ort verhaftet werden. Hierbei spielen nicht nur eigene Aktivitäten eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör 15.12.2021). Laut dem Syrien-Experten Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Erdoğans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein "erweitertes Syrien", und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im Libanon Korruptionsnetzwerke zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021). Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als "Krankheitserreger" sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut dem syrischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird. Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021). Laut dem Nahost-Experten Fabrice Balanche kann man, wenn man Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht zurückkommen, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für politische Flüchtlinge. Auch besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil, um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021). Laut Khaddour sind Entführungen, um Geld zu erpressen, nur individuelle Akte (Khaddour 24.12.2021).
Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z.B. Rakka, Deir Ez-Zor). Laut UNMAS (United Nations Mine Action Service) sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 % der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben. Zwei Drittel der Überlebenden sind lebenslang eingeschränkt. 39 % der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 % auf landwirtschaftlichen Flächen, 10 % auf Straßen oder am Straßenrand. 26 % der Opfer seit 2019 waren Binnenvertriebene IDPs (ÖB 01.10.2021).
Die Frage einer möglichen Gefährdung des Individuums lässt sich weder auf etwaige Sicherheitsrisiken durch Kampfhandlungen und Terrorismus als Indikator beschränken, noch ist ganz grundsätzlich eine Eingrenzung auf einzelne Landesteile möglich. Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen können nach geografischen Kriterien daher weiterhin nicht getroffen werden. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann nach Einschätzung des Auswärtigen Amts insofern für keine bestimmte Region Syriens und für keine Personengruppe grundsätzlich gewährleistet und überprüft werden (AA 29.11.2021). UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie ehemals gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässiger Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (UNHCR 6.2022).
Inhaftierung, Folter, Vergewaltigung und Verschwindenlassen von Rückkehrern
Es besteht nach wie vor kein freier und ungehinderter Zugang UNHCRs und anderer Menschenrechtsorganisationen zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist (AA 29.11.2021; vgl. DIS 5.2022). Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen bei der Rückkehr ist es unklar, wie systematisch und weit verbreitet Übergriffe gegen Rückkehrer sind. Es gibt kein klares Gesamtmuster bei der Behandlung von Rückkehrern, auch wenn einige Tendenzen zu beobachten sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt zur Abwesenheit eines klaren Musters bei (DIS 5.2022).
Es ist schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude der Rückkehrer (TN 10.12.2018), pro-oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von Rückkehrern (TN 10.12.2018; vgl. TWP 02.06.2019, FP 06.02.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen durch die Regierung nach ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder auch nur mit Angehörigen sprechen (SD 16.01.2019; vgl. TN 10.12.2018). Die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat haben immer wieder Personen verfolgt, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Trotz Amnestien und gegenteiliger Erklärungen hat die syrische Regierung bisher keine Änderung ihres Verhaltens erkennen lassen. Selbst dort, wo Einzelpersonen von der Regierung Sicherheitsgarantien erhalten haben, kam es zu Übergriffen. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird (COAR/HRW/HBS/JUSOOR 19.04.2021).
Die syrische Regierung führt Listen mit Personen, die ihrer Meinung nach auf die eine oder andere Weise oppositionell sind. Alles in allem kann eine Person, die von der Regierung gesucht wird, aus einer Vielzahl von Gründen oder völlig willkürlich gesucht werden. So kann die Behandlung einer Person an einem Checkpoint von verschiedenen Faktoren abhängen, darunter der Willkür des Kontrollpersonals oder praktischen Problemen wie eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, müssen mit verschiedenen Konsequenzen seitens der Regierung rechnen, z.B. mit Verhaftung und im Zuge dessen auch mit Folter. Einigen Quellen zufolge gehört medizinisches Personal zu den Personen, die als oppositionell oder regierungsfeindlich gelten, insbesondere wenn es in einem von der Regierung belagerten Oppositionsgebiet gearbeitet hat. Dies gilt auch für Aktivisten und Journalisten, die die Regierung offen kritisiert oder Informationen oder Fotos von Ereignissen wie Angriffen der Regierung verbreitet haben, sowie generell für Personen, die die Regierung offen kritisieren. Einer Quelle zufolge kann es vorkommen, dass die Regierung eine Person wegen eines als geringfügig eingestuften Vergehens nicht sofort verhaftet, sondern erst nach einer gewissen Zeit (FIS 14.12.2018). Jeder Nachrichtendienst führt seine eigenen Fahndungslisten und es gibt keine Koordination oder Zentralisierung. Daher kann es trotz einer positiven Sicherheitsüberprüfung durch einen Dienst jederzeit zu einer Verhaftung durch einen anderen kommen (AA 04.12.2020; vgl. EASO 6.2021). Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Kontrollpunkt beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. Wenn eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann dies das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018). Nach Angaben der Regierungskonferenz ist das Konzept des Regimes, wer ein Oppositioneller ist, nicht immer klar oder kann sich im Laufe der Zeit ändern; es gibt keine Gewissheit darüber, wer vor Verhaftungen sicher ist. In Gesprächen mit der NGO International Crisis Group (ICG) berichteten viele Flüchtlinge, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.02.2020).
Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen gegen Personen, die nach Syrien zurückgekehrt sind (IT 17.03.2018). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört, darunter Flüchtlinge, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt sind, Binnenvertriebene aus von der Opposition kontrollierten Gebieten und Personen, die in von der Regierung zurückeroberten Gebieten ein Versöhnungsabkommen mit der Regierung unterzeichnet haben. Sie wurden gezwungen, Aussagen über Familienmitglieder zu machen, und in einigen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 02.06.2019; vgl. EIP 6.2019). Neben der allgemein instabilen Sicherheitslage bleibt die mangelnde persönliche Sicherheit in Verbindung mit der Angst vor staatlicher Repression das wichtigste Hindernis für die Rückkehr (AA 19.05.2020; vgl. SACD 21.07.2020, ICG 13.02.2020). Amnesty International hat in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 Informationen über 66 Personen vorgelegt, die bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland Opfer von Verstößen wurden. Unter ihnen wurden 59 Fälle von unrechtmäßiger oder willkürlicher Inhaftierung von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert. Unter den Inhaftierten befanden sich zwei schwangere Frauen und zehn Kinder im Alter zwischen drei Wochen und 16 Jahren, von denen sieben vier Jahre alt oder jünger waren. Außerdem wurden 27 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert, darunter vier Kinder, die mindestens eine Woche und bis zu vier Jahre lang festgehalten wurden, wobei 17 Fälle noch andauerten. Die Sicherheitsbeamten verhafteten die Rückkehrer zumeist unter dem pauschalen Vorwurf des "Terrorismus", da sie häufig davon ausgingen, dass einer ihrer Verwandten der politischen oder bewaffneten Opposition angehörte, oder weil die Rückkehrer aus einem Gebiet kamen, das zuvor von der Opposition kontrolliert wurde. Darüber hinaus wurden 14 Fälle gemeldet, in denen Sicherheitsbeamte sexuelle Gewalt gegen Kinder, Frauen und männliche Rückkehrer ausübten, darunter Vergewaltigungen an fünf Frauen, einem 13-jährigen Buben und einem fünfjährigen Mädchen. Die sexuelle Gewalt fand an Grenzübergängen oder in Haftanstalten während der Befragung am Tag der Rückkehr oder kurz danach statt. Berichten zufolge setzten Geheimdienstmitarbeiter 33 Rückkehrer, darunter Männer, Frauen und fünf Kinder, während ihrer Inhaftierung und Verhöre in Geheimdiensteinrichtungen Praktiken aus, die Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen (AI 9.2021).
Trotz der Behauptung, Damaskus und seine Vororte seien sicher, um dorthin zurückzukehren, fand ein Drittel der im Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2021 dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Damaskus selbst oder in der Umgebung von Damaskus statt, was darauf hindeutet, dass selbst dann, wenn die willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau liegt und/oder die Regierung ein bestimmtes Gebiet unter Kontrolle hat, die Risiken bestehen bleiben (AI 9.2021).
Rückkehr an den Herkunftsort
Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Für Personen aus bestimmten Gebieten Syriens lässt die Regierung derzeit keinen Wohnsitzwechsel zu. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die Rückkehrer von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 04.12.2020).
Syrer, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen. Die Einrichtung eines Wohnsitzes ist nur mit Genehmigung der Behörden möglich (ÖB 21.08.2019). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann. Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass Syrer aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen dürfen. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB 29.09.2020). Auch Jahre nach der Rückeroberung von Homs durch die Regierung benötigen die Bewohner immer noch eine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr und den Wiederaufbau ihrer Häuser (TE 28.06.2018; vgl. CMEC 15.05.2020).
Übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen und von Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) sowie Betroffenen zufolge finden Verstöße gegen Wohn,- Land- und Eigentumsrechte (Housing, Land and Property – HLP) seitens des Regimes fortgesetzt statt. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Seit 2011 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, die die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen. Die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen verweigern den Vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte (AA 29.11.2021). Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara'a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie ISIS-Angriffen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.02.2020). Eine Reihe von Stadtvierteln in Damaskus sind nach wie vor teilweise oder vollständig gesperrt, selbst für Zivilisten, die kurz nach ihren ehemaligen Häusern sehen wollen (SD 19.11.2018). So durften die Bewohner des palästinensischen Camps Yarmouk in Damaskus auch nach der Wiedererlangung der Kontrolle durch das Regime weitgehend nicht zurückkehren (EB 08.07.2020; vgl. AI 9.2021). Vor zwei Jahren haben die syrischen Behörden begonnen, ehemaligen Bewohnern die Rückkehr nach Yarmouk zu erlauben, wenn diese den Besitz eines Hauses nachweisen können und eine Sicherheitsfreigabe besteht. Bislang sollen allerdings nur wenige zurückgekommen sein. UNRWA dokumentierte bis Juni 2022 die Rückkehr von rund 4.000 Personen, weitere 8.000 haben im Laufe des Sommers eine Rückkehrerlaubnis bekommen (zur Einordnung: Vor 2011 lebten rund 1.2 Millionen Menschen in Yarmouk, davon 160.000 Palästinenser) (TOI 17.11.2022). Nach Angaben von Aktivisten durften bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 06.05.2020). Viele kehren aus Angst vor Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen nicht zurück, oder, da sie keine Häuser mehr haben, in die sie zurückkehren könnten. Die Rückkehrer kämpfen laut UNRWA mit einem "Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, begrenzten Transportmöglichkeiten und einer weitgehend zerstörten öffentlichen Infrastruktur" (TOI 17.11.2022).
Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (WB 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (MOFANL 7.2019). So berichtet UNHCR von einer "sehr begrenzten" und "abnehmenden" Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94% um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022).
Bedingungen der Rückkehr
Die Bedingungen, unter denen die Flüchtlinge zurückkehren, und die Mechanismen dieses Prozesses sind nur unzureichend bekannt - auch bei den Flüchtlingen selbst. Da Präsident al-Assad die Kontrolle über immer größere Gebiete festigt, sind immer weniger Informationen verfügbar (EIP 6.2019). Die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, hängt stark vom Einzelfall ab, und es gibt keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer (ÖB 29.09.2020).
Administrative Verfahren der syrischen Behörden für Rückkehrer
Die syrische Regierung bietet administrative Verfahren an, die Rückkehrwillige aus dem Ausland oder aus von der Opposition kontrollierten Gebieten vor der Rückkehr in durch die Regierung kontrollierte Gebiete durchlaufen müssen, um Probleme mit der Regierung zu vermeiden. Im Rahmen dieser Verfahren führen die syrischen Behörden auf die eine oder andere Weise eine Überprüfung der Rückkehrer durch. Während des als "Sicherheitsüberprüfung" (arabisch muwafaka amniya) bezeichneten Verfahrens wird der Antragsteller mit Fahndungslisten verglichen. Beim sogenannten "Statusregelungsverfahren" (arabisch: taswiyat wade) beantragt ein Antragsteller, wie es in einigen Quellen heißt, "Versöhnung", sodass sein Name von den Fahndungslisten der syrischen Behörden gestrichen wird (DIS 5.2022).
Sicherheitsüberprüfungen vor der Rückkehr sowie inoffizielle Schutzversprechen
Es gibt widersprüchliche Informationen darüber, ob sich Personen, die nach Syrien zurückkehren wollen, einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen müssen oder nicht [Anm.: Siehe weiter unten für Informationen über verschiedene Behördengänge in Syrien, welche eine Sicherheitsfreigabe erfordern!] (AA 19.05.2020). Gemäß einem Rechtsexperten der ÖB Damaskus hat prinzipiell jeder syrische Staatsbürger das Recht, sich auf dem syrischen Staatsgebiet zu bewegen sowie es zu verlassen und darf gemäß Artikel 38 der syrischen Verfassung von 2012 nicht an der Rückkehr gehindert werden. Daraus folgt, dass von syrischen Staatsbürgern vor ihrer Rückkehr keine Sicherheitsfreigabe verlangt wird, oder sie um eine solche ansuchen müssen. Der Konflikt hat die Sicherheitsfreigabe jedoch ins Zentrum gerückt. Viele syrische Staatsbürger haben die Rückkehr nach Syrien erwägt, fürchten allerdings, von den syrischen Behörden verhaftet zu werden. Darüber hinaus haben die Vereinten Nationen und die EU die Rückkehr von syrischen Flüchtlingen nur unterstützt, wenn dies freiwillig geschieht und Syrien als sicher gelten kann. Darauf basierend, und da die syrische Regierung auch bestrebt war, zu zeigen, dass Syrien sicher ist und für die Rückkehr von Flüchtlingen offen steht, damit diese am Wiederaufbau des Landes teilnehmen, hat die syrische Regierung zur Erleichterung der Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien zugestimmt, in manchen Fällen bekannt zu geben, ob jemand gemäß ihrer Aufzeichnungen in Syrien gesucht wird. Dies ist bei der freiwilligen Rückkehr von Gruppen von Syrern aus dem Libanon der Fall, erleichtert durch die Kooperation des "General Security Office (GSO)" [Libanesischer Nachrichtendienst, der auch für die Überwachung von ausländischen Staatsbürgern im Libanon zuständig ist.] im Libanon mit den syrischen Behörden. D.h., bei der Teilnahme an einer GSO-unterstützten Rückkehr führt das GSO akkordiert mit den syrischen Behörden eine Sicherheitsüberprüfung durch und leitet die persönlichen Daten der Rückkehrer an die syrischen Behörden weiter. Letztere informieren das GSO dann darüber, welche Personen eine Sicherheitsfreigabe erhalten haben. Eine ähnliche Vorgehensweise wurde auch bei individuellen Rückkehrern aus Jordanien vermerkt: Rückkehrer müssen hierzu bei der syrischen Botschaft in Amman um eine Sicherheitsfreigabe ansuchen. Laut einer in Syrien tätigen Menschenrechtsorganisation überprüfen die syrischen Behörden bei der Sicherheitsüberprüfung Informationen über den Antragsteller, Familienmitglieder und eventuell auch seine erweiterte Familie. Das syrische Außenministerium ermöglichte im Rahmen des letzten Amnestiegesetzes (Gesetzesdekret Nr. 7/2022 vom 30.4.2022), welches alle von syrischen Staatsbürgern vor dem 30.4.2022 verübten terroristischen Verbrechen ohne Todesopfer miteinschließt, dass syrische Staatsbürger im Ausland durch die diplomatischen Vertretungen überprüft werden, ob sie unter das Amnestiegesetz fallen. Die betroffenen Personen müssen bei der syrischen Botschaft ihres Wohnorts erscheinen und einen gesonderten Antrag ausfüllen. Die syrische Botschaft leitet den Antrag dann an das Außenministerium weiter, das eine Liste mit den persönlichen Daten der Antragsteller vorbereitet und sie an das syrische Innenministerium weiterleitet. Letzteres gleicht die Namen auf der Liste mit einer zentralen Datenbank ab, um zu überprüfen, ob eine Person Verbindungen zu "terroristischen" Gruppierungen hat (Rechtsexperte 27.09.2022).
Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes müssen sich syrische Flüchtlinge, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, vor ihrer Rückkehr weiterhin einer Sicherheitsüberprüfung durch die syrischen Sicherheitsbehörden unterziehen (AA 19.05.2020). Laut Mohamad Rasheed braucht jeder, der nach Syrien zurückkehren will, eine Sicherheitsüberprüfung, selbst Eltern von Personen, die für das syrische Regime arbeiten (Rasheed 28.12.2021). Die Kriterien und Anforderungen für ein positives Ergebnis sind nicht bekannt (AA 19.05.2020). Auch nach Angaben der ICG stellt die Sicherheitsüberprüfung durch den zentralen Geheimdienst in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) die endgültige Entscheidung darüber dar, ob ein Flüchtling sicher nach Hause zurückkehren kann, unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein Flüchtling, der zurückkehren möchte, einschlägt (ICG 13.02.2020). Im Gegensatz dazu berichtete die dänische Einwanderungsbehörde (Danish Immigration Service, DIS) auf der Grundlage von Befragungen, dass Syrer, die sich außerhalb Syriens aufhalten und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr nach Syrien benötigen. Syria Direct berichtete dem DIS, dass nur Syrer im Libanon, die über eine "organisierte Gruppenrückkehr" nach Syrien zurückkehren wollen, eine Sicherheitsüberprüfung für die Einreise nach Syrien benötigen (DIS 12.2020). Laut Fabrice Balanche brauchen Personen, die kein politisches Asyl und keine Probleme mit dem Regime haben auch keine Sicherheitsüberprüfung, sondern nur jene, die auf einer Liste gesuchter Personen stehen. Um diese Überprüfung durchzuführen, bezahlt man die zuständige Behörde (z.B. syrische Botschaft, Grenzbeamte an der Grenze zwischen Syrien und Libanon, syrische Behörden im Heimatort in Syrien), um zu überprüfen, ob der eigene Name auf einer Liste steht. Es sind jedoch viele Fälle bekannt, bei denen Personen inhaftiert wurden, die offiziell nicht vom Regime gesucht wurden, und die Sicherheitsüberprüfung gemacht hatten, zum Teil um Geld zu erpressen (Balanche 13.12.2021). Berichten zufolge gab es Fälle, in denen Rückkehrer trotz positiver Sicherheitsüberprüfung Opfer von willkürlicher Verhaftung, Folter oder gewaltsamem Verschwindenlassen wurden, auch wurde von vereinzelten Todesfällen in Haft berichtet (AA 19.05.2020; vgl. EASO 6.2021, HRW 20.10.2021).
Die Herkunftsregion spielt eine große Rolle für die Behörden bei der Behandlung von Rückkehrern, genauso wie die Frage, was die Person in den letzten Jahren gemacht hat. Syrer aus Homs, Deir iz-Zor oder Ost-Syrien werden dabei eher verdächtigt als Personen aus traditionell regierungstreuen Gebieten (Khaddour 24.12.2021). Besonders Gebiete, die ehemals unter Kontrolle oppositioneller Kräfte standen (West-Ghouta, Homs, etc.) stehen seit der Rückeroberung durch das Regime unter massiver Überwachung und der syrische Staat kontrolliert genau, wer dorthin zurückkehren darf. Es kann also besonders schwierig sein, für eine Rückkehr in diese Gebiete eine Sicherheitsüberprüfung zu bekommen und falls man diese erhält und zurückkehrt, wird man den Sicherheitsbehörden berichten müssen (Üngör 15.12.2021).
Mehrere Experten gehen davon aus, dass es vor allem auf die informelle Sicherheitsgarantie ankommt. Der sicherste Schutz vor Inhaftierung ist es, ein gutes Netzwerk bzw. Kontakte zum Regime zu haben, die einem im Notfall helfen können. Man muss jemanden in der Politik oder vom Geheimdienst haben, den man um Schutz bittet (Balanche 13.12.2021; vgl. Khaddour 24.12.2021, Rechtsexperte 27.09.2022). Laut Kheder Khaddour wird der offizielle Weg zur Rückkehr kaum genutzt, nicht nur weil er sehr langwierig ist, sondern auch weil niemand Vertrauen in die Institutionen hat. Nur bekannte Oppositionspersonen müssen den offiziellen Weg gehen, dieser Prozess bringt aber keine Garantie mit sich. Daher muss zusätzlich auch immer eine informelle Sicherheitsgarantie über persönliche Kontakte erlangt werden, wenn jemand zurückkehren will. Wenn jemand auf einer schwarzen Liste aufscheint, muss er seinen Namen bereinigen lassen. Dies geschieht meist durch Bestechung (Khaddour 24.12.2021).
"Versöhnungsanträge", Statusregelungsverfahren
Das Regime hat einen Mechanismus zur Erleichterung der "Versöhnung" und Rückkehr geschaffen, der als "Regelung des Sicherheitsstatus" (taswiyat al-wadaa al-amni) bezeichnet wird. Das Verfahren beinhaltet eine formale Klärung mit jedem der vier großen Geheimdienste und eine Überprüfung, ob die betreffende Person alle vorgeschriebenen Militärdienstanforderungen erfüllt hat. Einzelne Personen in Aleppo berichteten jedoch, dass sie durch die Teilnahme am "Versöhnungsprozess" einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden (ICG 09.05.2022). Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden und deshalb keine Erlaubnis zur Rückkehr erhalten, werden aufgefordert, ihren Status zu "regularisieren", bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.09.2018; vgl. SD 16.01.2019). Nach Angaben eines syrischen Generals müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren wollen, bei der zuständigen syrischen Vertretung einen Antrag auf "Versöhnung" stellen und unter anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben, und Informationen über Aktivitäten während ihres Auslandsaufenthalts vorlegen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsprüfung durchgeführt wird. Syrer, die über die Landgrenzen einreisen, müssen nach Angaben des Generals einen "Versöhnungsantrag" ausfüllen (DIS 6.2019). Um eine Verhaftung bei der Rückkehr zu vermeiden, versuchen Syrer, Informationen über ihre Sicherheitsakte zu erhalten und diese, wenn möglich, zu löschen. Persönliche Kontakte und Bestechungsgelder sind die gebräuchlichsten Kanäle und Mittel zu diesem Zweck (ICG 13.02.2020; vgl. EASO 6.2021), doch aufgrund ihrer Informalität und des undurchsichtigen Charakters des syrischen Sicherheitssektors sind solche Informationen und Freigaben nicht immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG 13.02.2020). Zwei Quellen berichteten EASO, dass, wenn ein Rückkehrer durch informelle Netzwerke oder Beziehungen (arab. "wasta") herausfindet, dass er oder sie nicht von den syrischen Behörden gesucht wird, es dennoch keine Garantie dafür gibt, dass er oder sie bei der Rückkehr nicht verhaftet wird (EASO 6.2021).
Rückkehrverweigerungen
Die Regierung verweigert oft manchen Bürgern die Rückkehr, während andere Syrer, die in die Nachbarländer flohen, die Vergeltung des Regimes im Fall ihrer Rückkehr fürchten (USDOS 12.04.2022). Der Prozentsatz der Antragsteller, die nicht zur Rückkehr zugelassen werden, ist nach wie vor schwer zu ermitteln (ICG 13.02.2020). Ihr Anteil wird von verschiedenen Quellen auf 5 % (SD 16.01.2019), 10 % (Reuters 25.09.2018), 20 % (Qantara 02.02.2022) oder bis zu 30 % (ABC 06.10.2018) geschätzt. Das Regime fördert nicht die sichere, freiwillige Rückkehr in Würde, eine Umsiedlung oder die lokale Integrations von IDPs. In einigen Fällen ist es Binnenvertriebenen nicht gestattet, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren (USDOS 12.04.2022). Einige Beobachter und humanitäre Helfer geben an, dass die Bewilligungsquote für Antragsteller aus Gebieten, die als regierungsfeindliche Hochburgen identifiziert wurden, fast bei null liegt (ICG 13.02.2020). Gründe für die Ablehnung können (vermeintliche) politische Aktivitäten gegen die Regierung, Verbindungen zur Opposition oder die Nichterfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.09.2018; vgl. ABC 06.10.2018, SD 16.01.2019).
Syrische Flüchtlinge müssen bereit sein, der Regierung gegenüber vollständig Rechenschaft über ihre Beziehungen zur Opposition abzulegen, um nach Hause zurückkehren zu können. In vielen Fällen hält sich die Regierung nicht an die in den "Versöhnungsabkommen" vereinbarten Garantien, und die Rückkehrer sind Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden sowie Inhaftierung und Folter ausgesetzt, um Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 02.06.2019).
Weitere im Fall einer Rückkehr benötigte behördliche Genehmigungen
Syrerinnen und Syrer benötigen in verschiedenen Lebensbereichen eine behördliche Sicherheitsfreigabe, z.B. auch für die Eröffnung eines Geschäfts, eine Heirat und die Organisation einer Hochzeitsfeier, um den Wohnort zu wechseln, für Wiederaufbaumaßnahmen oder auch für den Erwerb von Eigentum (FIS 14.12.2018; vgl. EIP 6.2019). Die Sicherheitsüberprüfung könnte Fragen wie den Aufenthaltsort der Person während ihrer Abwesenheit aus einem Gebiet umfassen. Für eine Person, die die Zeit in Damaskus verbracht hat, könnte die Sicherheitsüberprüfung einfacher sein, aber Orte wie Deir ez-Zour könnten zusätzliche Kontrollen oder Befragungen nach sich ziehen. Während des Sicherheitsüberprüfungsverfahrens wird eine Person befragt, ob es in ihrer Großfamilie Personen gibt, die von der Regierung gesucht werden (FIS 14.12.2018).
Erschwerend kommt hinzu, dass eine von einer regierungsnahen Stelle innerhalb Syriens ausgestellte Sicherheitsgenehmigung in Gebieten, die von anderen regierungsnahen Stellen kontrolliert werden, als ungültig angesehen werden kann. Dies ist auf die Fragmentierung des Sicherheitsapparats der Regierung zurückzuführen, die die Mobilität auf Gebiete beschränkt, die von bestimmten regierungsnahen Sicherheitsbehörden kontrolliert werden (EASO 6.2021).
Umsetzung und Rechtssicherheit
Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass die Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung für Betroffene wie Dritte extrem komplex bis unmöglich ist. Rückkehrende sehen sich mit weitreichender systematischer Willkür bis hin zu vollständiger Rechtlosigkeit konfrontiert. Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen. Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass eine positive Sicherheitsüberprüfung keine Garantie für eine sichere Rückkehr ist. Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (system-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits auch dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiären Verbindungen zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z.B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, absolut betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert. Unverändert besteht somit in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher interner Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter (AA 29.11.2021)
Exilpolitische Aktivitäten, bzw. nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung über im Ausland lebende Syrer und Syrerinnen
Es muss davon ausgegangen werden, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, politische Aktivitäten im Exil auszuspionieren und darüber zu berichten (ÖB 29.09.2020; vgl. TWP 02.06.2019, EASO 6.2021). Es gab Berichte, dass syrische Sicherheitsdienste Drohungen gegen in Syrien lebende Familienmitglieder einsetzten, um Druck auf Verwandte auszuüben, die z.B. in Deutschland leben (AA 13.11.2018). Die syrische Regierung ist an den politischen Aktivitäten von Syrern im Ausland interessiert. Die Gefährdung eines Rückkehrers im Falle politischer Aktivitäten im Exil hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und vielen anderen Faktoren ab, wie dem Hintergrund der Familie und den der Regierung zur Verfügung stehenden Ressourcen (STDOK 8.2017). Einem Syrien-Experten des Europäischen Friedensinstituts zufolge werden Syrer in der Diaspora auf zwei Arten überwacht: informell und formell. Bei der informellen Überwachung melden Einzelpersonen andere Personen an die syrischen Behörden. Diese Informanten sind nicht offiziell bei den Sicherheitsbehörden angestellt, melden aber andere Personen, um der Regierung gegenüber loyal zu erscheinen. Auf diese Weise versuchen sie, mögliche negative Aufmerksamkeit von sich abzuwenden. Die formelle Art der Überwachung besteht darin, dass staatliche Einrichtungen wie Botschaften und Sicherheitsdienste Informationen über im Ausland lebende Dissidenten sammeln (EASO 6.2021).
Der Sicherheitssektor nutzt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um seinen historischen Einsatz lokaler Informanten zur Sammlung von Informationen und zur Kontrolle der Bevölkerung wieder zu verstärken und zu institutionalisieren. Die Regierung baut weiterhin eine umfangreiche Datenbank mit Informationen über alle Personen auf, die ins Land zurückkehren oder im Land bleiben. In der Vergangenheit wurde diese Art von Informationen genutzt, um Personen zu erpressen oder zu verhaften, die aus irgendeinem Grund als Bedrohung oder Problem wahrgenommen wurden (EIP 6.2019). Das Verfassen eines "Taqrir" (eines "Berichts", d. h. die Meldung von Personen an die Sicherheitsbehörden) war im baathistischen Syrien jahrzehntelang gang und gäbe und wird laut ICG auch unter Flüchtlingen im Libanon praktiziert. Die Motive können persönlicher Gewinn oder die Beilegung von Streitigkeiten sein, oder die Menschen schreiben "Berichte", um nicht selbst zur Zielscheibe zu werden. Selbst Regimevertreter geben zu, dass es aufgrund unbegründeter Denunziationen zu Verhaftungen kommt (ICG 13.02.2020).
Das im April 2022 erlassene "Cyber-Kriminalitätsgesetz" (Nr. 20/2022) hat die Definition von "Internetverbrechen" ausgeweitet (TIMEP 05.10.2022) und sieht harte Strafen für das Verfassen, Kommentieren, Teilen oder Erwähnen von Online-Beiträgen vor, die vorgeblich das Prestige des syrischen Staates beschädigen, die nationale Einheit gefährden oder eine negative öffentliche Meinung schüren (TAW 17.05.2022).
[…]
Syrische Rückkehrende aus Europa
Die verfügbaren Informationen über Syrer, die aus Europa nach Syrien zurückkehren, sind begrenzt (Rechtsexperte 14.09.2022, DIS 5.2022). Im Jahr 2020 kehrten 137 syrische Flüchtlinge freiwillig und mit Unterstützung der dänischen Behörden aus Dänemark nach Syrien zurück. Im selben Jahr suchten zehn Syrer bei den niederländischen Behörden um Hilfe für eine Rückkehr nach Syrien an. In Dänemark leben rund 35.000 Syrer und Syrerinnen, in den Niederlanden ca. 77.000 (EASO 6.2021). Nach Angaben des deutschen Innenministeriums kehrten von 2017 bis Juni 2020 über 1.000 Syrer mit finanzieller Unterstützung Deutschlands aus Deutschland nach Syrien zurück (Daily Sabah 15.06.2020). Die meisten syrischen Flüchtlinge in der EU erwägen nicht, in (naher) Zukunft nach Syrien zurückzukehren, wie Umfragen aus verschiedenen europäischen Staaten illustrieren. Diejenigen, die nicht nach Syrien zurückkehren wollten, wiesen auf verschiedene Hindernisse für eine Rückkehr hin, darunter das Fehlen grundlegender Dienstleistungen (wie Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit) und die derzeitige syrische Regierung, die an der Macht geblieben ist (Rechtsexperte 14.09.2022).
3. Beweiswürdigung:
Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Inhalt der dem BVwG vom BFA vorgelegten Unterlagen im gegenständlichen Beschwerdeverfahren.
Die Länderfeststellungen beruhen auf den ins Beschwerdeverfahren vom BVwG eingebrachten Länderberichten, hinsichtlich derer auch im Vorfeld der beim BVwG abgehaltenen mündlichen Verhandlung das Parteiengehör durchgeführt wurde. Das Länderinformationsblatt und die Anfragebeantwortungen durch die Staatendokumentation basieren auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger unbedenklicher Quellen von staatlichen Stellen, als auch von renommierten Nichtregierungsorganisationen und gewährleisten einen in den Kernaussagen schlüssigen Überblick über die aktuelle Lage in Syrien. Für das BVwG bestand kein Grund, an der Richtigkeit der Länderberichte bzw. den ins Beschwerdeverfahren eingebachten Anfragebeantwortungen zu zweifeln.
3.1. Zu den Feststellungen zur Person und Familie des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zu Staatsangehörigkeit und Volksgruppenzugehörigkeit, zum Religionsbekenntnis, zu den Sprachkenntnissen, zu Eltern und Geschwistern, zur Ausbildung sowie zur Herkunft des Beschwerdeführers und seinen Lebensumständen in Syrien ergeben sich aus seinen gleichbleibenden und glaubhaften Angaben in seiner Erstbefragung, seiner Einvernahme durch das BFA und in der mündlichen Verhandlung.
Dass XXXX der Geburtsort und der erste Wohnort des BF in Syrien war, hat der Onkel des BF, XXXX in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG angegeben. XXXX hat diesen Ort dem erkennenden Gericht auch auf einer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung im Internet aufgerufenen geographischen Karte gezeigt. Dass XXXX derzeit unter der Kontrolle des syrischen Assad-Regimes ist, ergibt sich aus der Einsicht in die tagesaktuelle Karte https://syria.liveuamap.com/ .
XXXX ist der Heimatort des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer war, als er diesen Ort in Syrien verließ, erst drei oder vier Jahre alt. Er hat offenkundig und damit nachvollziehbar keine oder nur kaum Erinnerungen an diesen Ort. Es ist auch nachvollziehbar und glaubhaft, dass er infolge des Bürgerkrieges in Syrien an verschiedenen Orten gelebt hat, schließlich vor ca. 3 Jahren Syrien verließ und zuletzt ca. zwei Jahre im Libanon in einem Flüchtlingslager lebte. Diese Orte bzw. das Flüchtlingslager im Libanon können nicht als Herkunftsort des BF angesehen werden.
Die Feststellungen zur Ausreise des Beschwerdeführers aus dem Libanon, zum zweiwöchigem Aufenthalt in Syrien im Jahr 2021, und zu seiner Weiterreise bis nach Österreich, ergeben sich wiederum aus seinen – altersbedingt äußert knappen und vagen, aber in den wesentlichen Punkten gleichbleibenden – Angaben in der Erstbefragung und in der Einvernahme durch das BFA.
In diesem Zusammenhang wird vom erkennenden Gericht auch darauf hingewiesen, dass der BF selbst kein unbegleiteter Minderjähriger ist oder war, zumal er sich nach seiner Verabschiedung von seiner Familie sich immer in Begleitung seines erwachsenen Onkels XXXX befand, dem auch mit Beschluss des BG Oberpullendorf die Obsorge für den BF übertragen wurde. Der BF war damit weder in der Vergangenheit im Libanon, in Syrien oder an einem anderen Ort auf seiner Reise, die ihn bis nach Österreich führte, unbeschützt der Gefahr ausgesetzt, als unbegleiteter Minderjähriger in die Fänge Krimineller zu geraten. Er war nie allein und unbeschützt und ist angesichts des Oborgebeschlusses des BG Oberpullendorf bis zur Erreichung seiner Volljährigkeit auch nicht gefährdet, allein und unbeschützt zu sein.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Angaben bei der Einvernahme durch das BFA sowie aus seinen Ausführungen in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.
3.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen und zur Gefährdung bei einer Rückkehr nach Syrien:
Das Alter des Beschwerdeführers steht aufgrund seiner eigenen Angaben, und ausgehend von den beim BFA in Kopie vorgelegten Unterlagen, zwar fest. Das erkennende Gericht gewann im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung im Rahmen der Einvernahme des BF den Eindruck, dass der BF sowohl in seinem körperlichen Erscheinungsbild, als auch in der Art und Weise, wie der BF die an ihn gerichteten Fragen beantwortete, den Eindruck, dass der BF sowohl in körperlicher Hinsicht als auch hinsichtlich seines noch sehr kindlichen Auftretens eines Kindes hinterließ, das auch erst acht, oder neun Jahre alt sein könnte. Körperlich hinterließ der BF keinesfalls den Eindruck eines Kindes, das bereits zwölf Jahre alt ist.
Aus dem Länderinformationsblatt (in der Folge: LIB) ergibt sich, dass für männliche syrische Staatsbürger im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend ist (LIB S. 99). Der Beschwerdeführer ist also noch mehrere Jahre lang nicht wehrpflichtig. Daran zu zweifeln, dass der Beschwerdeführer den Wehrdienst noch nicht abgeleistet hat, besteht im Hinblick darauf, dass er Syrien 2021, also mit 10 Jahren (und somit nicht einmal annähernd im wehrpflichtigen Alter), verlassen hat, kein Grund. Da der Beschwerdeführer noch nicht wehrpflichtig ist, kann er auch kein Wehrdienstverweigerer sein, und es droht ihm deswegen keine Bestrafung durch die syrische Regierung.
Laut LIB kriminalisiert das Gesetz N. 11/2013 alle Formen von Rekrutierung und Einsatz von Kindern unter 18 Jahren durch die Syrischen Streitkräfte und bewaffnete Oppositionsgruppen (LIB S. 119). Dass es faktisch dennoch zu Zwangsrekrutierungen von Kindersoldaten durch die Regierung und regimenahe Milizen kommt, wie dem LIB zu entnehmen ist (LIB S. 120), bedeutet nicht eo ipso, dass dies auch dem Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht. Es ist ihm nicht gelungen, darzulegen, weshalb gerade er konkret und maßgeblich wahrscheinlich gefährdet wäre (aus seinem Wohnort im von den kurdischen Kräften kontrollierten XXXX heraus), von der syrischen Regierung zwangsweise zu militärischen Diensten welcher Art auch immer eingezogen zu werden. Dass der Beschwerdeführer Angst vor Raketen oder Bomben hat, ist angesichts einer diesbezüglich erlittenen Verletzung auch nachvollziehbar, kann jedoch nicht als asylrelevante Verfolgung betrachtet werden.
Angesichts der Antwort des BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG, dass er nicht wisse, was Soldaten sind, ist für das erkennende Gericht auch nicht nachvollziehbar, dass der BF selbst befürchtet, zwangsrekrutiert zu werden. Er selbst hat diesbezügliche Befürchtung auch niemals selbst geäußert. Die diesbezüglichen Ausführungen seiner Vertretung in der Beschwerde sowie in der Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht waren somit nicht geeignet, glaubhaft zu machen, weshalb konkret der Beschwerdeführer von einer Zwangsrekrutierung mit maßgeblicher Wahrscheinlich betroffen sein sollte. Wenn in der Beschwerde vorgebracht wird, dass es notorisch sei, „dass in Syrien auch Minderjährige sowohl durch die Armee als auch durch bewaffnete Verbände rekrutiert werden“, und dass sich eindeutig ergebe, dass die Gefahr, selbst als Kind wie der BF durch Akteure im Krieg in Syrien rekrutiert zu werden, offenkundig sei, so ist dazu anzumerken, dass eine individuelle, konkrete, wahrscheinliche Gefährdung des Beschwerdeführers damit gerade nicht vorgebracht wird; es handelt sich lediglich um allgemeine Ausführungen und Behauptungen, die eine individuelle und konkret vorliegende Verfolgungsgefahr bei einer allfälligen Rückkehr des BF nach Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht glaubhaft zu machen vermögen.
Zusammengefasst ist demnach festzuhalten, dass eine entsprechende Gefährdung des Beschwerdeführers – auch unter Berücksichtigung seines Alters und des im Zusammenhang mit diesem an Glaubwürdigung und Intensität der Verfolgung des Beschwerdeführers anzulegenden Maßstabes – nicht glaubhaft gemacht wurde. Daher war festzustellen, dass der Beschwerdeführer in seiner Herkunftsregion nicht in Gefahr ist, zur Ableistung des Wehrdienstes zwangsrekrutiert zu werden.
Die Berichtslage über Verfolgungen durch das syrische Assad-Regime von Familienangehörigen von Wehrdienstverweigerern oder von Wehrdienstpflichtigen, die deswegen Syrien verlassen haben, ist nicht derart, dass davon ausgegangen werden kann, dass gerade der BF als gerade einmal zwölfjähriges Kind bei einer allfälligen Rückkehr nach Syrien deswegen vom syrischen Assad-Regime in Syrien verfolgt werden würde, weil sein Vater oder sonstige weiterschichtig verwandte Familienmitglieder deswegen Syrien verlassen haben. Die Behauptung der Vertretung des BF, dass er in Syrien infolge seiner Zugehörigkeit zu seiner Familie deswegen, weil sein Vater oder Onkel oder Cousins Ihren Wehrdienst beim syrischen Assad-Regime nicht ableisten wollen und deswegen Syrien verlassen haben, ist zu allgemein, dass das erkennende Gericht glauben könnte, dass gerade der Beschwerdeführer deswegen in Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit vom syrischen Assad-Regime erfolgt werden würde.
Auch eine systematische Verwehrung des Schulbesuchs ergibt sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht. Die Beschwerde führt – wiederum nur allgemein – aus, dass laut UNHCR in Gebieten, in denen Schulen systematisch Ziel von Luftangriffen oder Bombardierungen durch Konfliktparteien seien, Kindern regelmäßig das Recht auf Bildung entzogen werde, da Schulen geschlossen, beschädigt oder zerstört würden oder weil Eltern um die Sicherheit ihrer Kinder fürchten würden. Dass im Heimatgebiet des Beschwerdeführers Schulen systematisch Ziel von Angriffen wären und dass die Unmöglichkeit des Schulbesuchs darauf beruhen würde, ergibt sich aus den Länderfeststellungen aber nicht; auch der Beschwerdeführer legte keine Berichte vor, welche nahelegen würden, dass ein Schulbesuch nicht nur aufgrund der allgemeinen Gegebenheiten bzw. Unbillen des Bürgerkrieges zwischenzeitlich erschwert sein sollte.
Nichts anderes ergibt sich auch aus dem (englischsprachigen) Jahresbericht zu Menschenrechtsverletzungen im Jahr 2022 in Syrien des Syrian Human Rights Committee (SHCR) vom Jänner 2023: Diesem ist zu entnehmen, dass das SHCR gezielte Angriffe auf neun Schulen und Bildungseinrichtungen im Jahr 2022 dokumentiert hat – im Vergleich zu elf Angriffen im Jahr 2011 (Jahresbericht S. 30). Von diesen neun angegriffenen Schulen befand sich eine einzige im Gouvernement Aleppo, aus dem der Beschwerdeführer stammt (Jahresbericht S. 31 f). Ein systematischer Angriff auf Bildungseinrichtungen im Heimatgebiet des Beschwerdeführers ist daher nicht anzunehmen. Dass dem Beschwerdeführer der Schulbesuch systematisch verwehrt würde, konnte demzufolge nicht festgestellt werden.
Auch der Vertretung des Beschwerdeführers wurde in der Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG umfassend Möglichkeit gegeben, Fragen an den Beschwerdeführer und seinen Onkel, der als Zeuge einvernommen wurde, zu stellen. Insoweit konnte auch die Vertretung alle nach ihrer Auffassung unterlassenen Fragen an den Beschwerdeführer und des anwesenden Onkels stellen, um derart auf alle in Frage kommenden allfälligen Verfolgungsgründe, denen der BF bei einer Rückkehr nach Syrien ausgesetzt wäre, aufmerksam zu machen. Aber auch im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde auf keine wie auch immer gearteten möglichen asylrelevanten Verfolgungen, denen der BF in Syrien ausgesetzt wäre, hingewiesen, geschweige denn solche glaubhaft gemacht.
Unzweifelhaft ist, dass die Erinnerungen des Beschwerdeführers an sein Leben in Syrien vorwiegend negativ sind und dass er Erfahrungen gemacht hat, die für die kindliche Psyche schwer bzw. nicht zu verarbeiten sind. Gleichwohl war festzustellen, dass der Beschwerdeführer in Syrien nie einer individuell gegen ihn gerichteten, konkreten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt war. Die vom Beschwerdeführer geschilderten Ereignisse lassen vielmehr darauf schließen, dass er und seine Familie – ebenso wie viele andere Familien – den allgemeinen Härten des syrischen Bürgerkriegs ausgesetzt gewesen sind. Eine konkrete, maßgeblich wahrscheinliche asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers ist aus seinen Schilderungen nicht ersichtlich.
Dabei wurde auch insbesondere das Alter des BF, als auch das zu berücksichtigende Kindeswohl im Rahmen der Beweiswürdigung hinreichend berücksichtigt.
Inwieweit die gegenständliche Beschwerde vom Beschwerdeführer deswegen erhoben wurde, um die bereits bei der Erstbefragung vom Beschwerdeführer vorgetragene Familienzusammenführung in Österreich mit seinen in einem Flüchtlingslager im Libanon lebenden Eltern und seinen weiteren vier minderjährigen Geschwistern zu beschleunigen, kann nur vermutet werden, hat jedoch bei der Beurteilung der Frage, ob der Beschwerdeführer aus Furcht einer ihm mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden asylrelevanten Verfolgungsgefahr Syrien verlassen hat und damit auch zu Recht nicht mehr dorthin zurückkehren kann, außer Betracht zu bleiben.
Auch dass dem Beschwerdeführer allein aus dem Grund seiner Ausreise aus Syrien und/oder seiner Asylantragstellung in Österreich Verfolgung drohen würde, ist nicht ersichtlich. Aus den Länderberichten ergibt sich nicht, dass jedem Rückkehrer, der unrechtmäßig ausgereist ist und im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, eine oppositionelle Gesinnung unterstellt würde (vgl. auch VwGH 11.11.2020, Ra 2020/18/0147). Überdies kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Stellung des Antrages auf internationalen Schutz durch den Beschwerdeführer der syrischen Regierung bekanntgeworden ist, zumal es den österreichischen Behörden verboten ist, Daten über Asylwerber an Behörden aus deren Herkunftsstaat zu übermitteln.
Andere asylrelevante Verfolgungsgründe sind im Verfahren nicht hervorgekommen und ergeben sich auch nicht aus den maßgeblichen Länderberichten.
4. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
4.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:
4.1.1. § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
…“
4.1.2. Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
4.1.3. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates oder wegen Schutzes in einem EWR-Staat oder in der Schweiz zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).
4.1.4. Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) – deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben – ist ein Flüchtling, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."
4.1.5. Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist somit die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.).
4.1.6. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
4.1.7. Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht gemäß § 3 AsylG 2005 setzt positiv getroffene Feststellungen der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.06.1997, 95/01/0627). Nach ständiger Rechtsprechung stellt im Asylverfahren das Vorbringen des Asylwerbers die zentrale Entscheidungsgrundlage dar. Dabei genügen aber nicht bloße Behauptungen, sondern bedarf es, um eine Anerkennung als Flüchtling zu erwirken, hierfür einer entsprechenden Glaubhaftmachung durch den Asylwerber (vgl. VwGH 04.11.1992, 92/01/0560). Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Das Asylverfahren bietet, wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 27.05.2019, Ra 2019/14/0143-8, wieder betonte, nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.
Unter diesen Maßgaben ist das Vorbringen eines Asylwerbers also auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen. Dabei ist vor allem auf folgende Kriterien abzustellen: Das Vorbringen des Asylwerbers muss – unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten –genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein, muss also mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen; diese Voraussetzung ist u. a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen. Schließlich muss das Fluchtvorbringen in sich schlüssig sein; der Asylwerber darf sich demgemäß nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.
4.1.8. Im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erscheint es nicht unschlüssig, wenn den ersten Angaben, die ein Asylwerber nach seiner Ankunft in Österreich macht, gegenüber späteren Steigerungen erhöhte Bedeutung beigemessen wird (vgl. VwGH 08.07.1993, 92/01/1000; VwGH 30.11.1992, 92/01/0832; VwGH 20.05.1992, 92/01/0407; VwGH 19.09.1990, 90/01/0133). Der Umstand, dass ein Asylwerber bei der Erstbefragung gravierende Angriffe gegen seine Person unerwähnt gelassen hat, spricht gegen seine Glaubwürdigkeit (VwGH 16.09.1992, 92/01/0181). Auch unbestrittenen Divergenzen zwischen den Angaben eines Asylwerbers bei seiner niederschriftlichen Vernehmung und dem Inhalt seines schriftlichen Asylantrages sind bei schlüssigen Argumenten der Behörde, gegen die in der Beschwerde nichts Entscheidendes vorgebracht wird, geeignet, dem Vorbringen des Asylwerbers die Glaubwürdigkeit zu versagen (Vgl. VwGH 21.06.1994, 94/20/0140). Eine Falschangabe zu einem für die Entscheidung nicht unmittelbar relevanten Thema (vgl. VwGH 30.09.2004, 2001/20/0006, zum Abstreiten eines früheren Einreiseversuchs) bzw. Widersprüche in nicht maßgeblichen Detailaspekten (vgl. VwGH 23.01.1997, 95/20/0303 zu Widersprüchen bei einer mehr als vier Jahre nach der Flucht erfolgten Einvernahme hinsichtlich der Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers in seinem Heimatdorf nach seiner Haftentlassung) können für sich allein nicht ausreichen, um daraus nach Art einer Beweisregel über die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers die Tatsachenwidrigkeit aller Angaben über die aktuellen Fluchtgründe abzuleiten (vgl. dazu auch VwGH 26.11.2003, 2001/20/0457).
4.1.9. Einzelfallrelevant kann aber immer nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233). Die Verfolgungsgefahr muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
4.1.10. Die Verfolgungsgefahr muss ferner dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (VwGH 27.01.2000, 99/20/0519). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; VwGH 23.07.1999, 99/20/0208; VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; VwGH 17.09.2003, 2001/20/0177; VwGH 28.10.2009, 2006/01/0793) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).
4.1.11. Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt zusammenfassend dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
4.1.12. Wie sich aus den obigen Feststellungen und der zugehörigen Beweiswürdigung ergibt, ist es dem Beschwerdeführer weder im vorangegangenen Asylverfahren vor dem BFA noch im gegenständlichen Beschwerdeverfahren vor dem BVwG gelungen, eine aktuelle, konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete Verfolgungsgefahr maßgeblicher Intensität und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund eines Konventionsgrundes im Sinne der GFK ausgehend von staatlicher Seite (Assad-Regime) beziehungsweise von anderen Personen oder Personengruppen für den Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in die Herkunftsregion des Beschwerdeführers in Syrien darzutun bzw. glaubhaft zu machen.
4.2.1. Zur Gefahr einer drohenden Zwangsrekrutierung:
Soweit der Beschwerdeführer die Gefahr einer drohenden Zwangsrekrutierung durch eine Kriegspartei vorbringt, ist Folgendes auszuführen: Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass es nach den maßgeblichen Länderberichten in Syrien zu Fällen von Zwangsrekrutierung auch Minderjähriger kommt. Dass unter Berücksichtigung der aktuellen (militärischen) Situation in Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit jeder männliche Minderjährige bzw. konkret der Beschwerdeführer als gegenwärtig 12-Jähriger zwangsweise rekrutiert würde – dies auch in willkürlicher Übertretung der dort vorgesehenen Altersgrenzen für die Wehrpflicht –, kann im gegenständlichen Verfahren nicht angenommen werden; der Beschwerdeführer hat in diesem Zusammenhang keine ausreichend konkreten Hinweise vorgebracht. Sämtliche diesbezüglichen Ausführungen sind ausschließlich allgemein und verweisen generell auf das Bestehen der Möglichkeit einer Zwangsrekrutierung auch für unter 18-Jährige. Solcherart allgemeine Annahmen und Ausführungen zeigen jedoch nicht das Vorliegen einer ausreichend konkreten, individuellen Bedrohung des Beschwerdeführers mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, sondern ausschließlich das Bestehen einer allgemeinen Gefährdung von Minderjährigen aufgrund der Gesamtsituation in Syrien auf, der bereits mit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten zutreffend Rechnung getragen wurde.
4.2.2. Zur sozialen Gruppe der (alleinstehenden) Kinder:
Hinsichtlich des Vorbringens, dass dem Beschwerdeführer kinderspezifische Verfolgung bzw. Verfolgung aus Gründen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der (alleinstehenden) Kinder droht, ist auszuführen, dass unstrittig ist, dass (alleinstehende) Kinder in Syrien besonders vulnerabel sind und ihre Gefährdung besonders hoch ist. Allerdings handelt es sich bei (alleinstehenden) Kindern in Syrien nicht um eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne der höchstgerichtlichen Judikatur und es fehlt daher am erforderlichen Zusammenhang zwischen der Bedrohung und einem Konventionsgrund: Weder nehmen (alleinstehende) Kinder in Syrien sich selbst als Gruppe mit einer deutlich abgegrenzten Identität wahr, noch werden sie von der sie umgebenden Gesellschaft als solche betrachtet. Das syrische Regime verfolgt in Syrien nicht Kinder, weil sie Kinder sind, sondern vor allem Kinder, die Kinder von politisch Oppositionellen sind, wie alle nahe Verwandten von Oppositionellen, egal welchen Alters und welchen Geschlechts. Auch aus den UNHCR-Erwägungen zu Syrien ergibt sich, dass Kinder nur bei Hinzutreten bestimmter – hier nicht hervorgekommener – Umstände, wie erlebter oder drohender Zwangsrekrutierung oder sexueller Gewalt oder der systematischen Verwehrung von Bildung aus anderen Konventionsgründen Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe sein können (dazu sogleich). Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof eine Revision in einem ähnlich gelagerten Fall bereits zurückgewiesen (VwGH 08.07.2021, Ra 2021/20/0202).
Wie beweiswürdigend ausgeführt, ist der Beschwerdeführer keinesfalls als alleinstehendes Kind zu qualifizieren. Dass sein Vater als politisch oppositionell wahrgenommen und dem Beschwerdeführer daher eine entsprechende Reflexverfolgung drohen würde, wurde nicht glaubhaft gemacht.
Soweit in der Beschwerde auf die UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, verwiesen wird, ist dem zu entgegnen, dass der UNHCR bei zwei klar definierten Gruppen von Kindern der Ansicht ist, dass diese – je nach den Umständen des Einzelfalls – wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen. Dazu zählen Kinder, die sexuelle Gewalt, Zwangs- und/oder Kinderehen, häusliche Gewalt oder „Ehrendelikte“ überlebt haben oder einem entsprechenden Risiko ausgesetzt sind und Kinder, die Rekrutierung von Minderjährigen, Menschenhandel und andere extreme Formen von Kinderarbeit überlebt haben oder einem entsprechenden Risiko ausgesetzt sind (UNHCR-Erwägungen S. 190).
Der Beschwerdeführer fällt in keine dieser Kategorien. Für den ersten Fall ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte eines Risikos. Dass der Beschwerdeführer auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Rekrutierung ausgesetzt ist, wurde in der Beweiswürdigung bereits ausgeführt.
Der UNCHR ist ferner der Auffassung, dass Kinder – je nach den Umständen des Einzelfalls – möglicherweise internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, wenn sie zu folgenden Gruppen gehören: Kinder, die zu Arbeit verpflichtet werden, die je nach der Erfahrung und dem Alter des betreffenden Kindes und den sonstigen Umständen wahrscheinlich ihre Gesundheit, Sicherheit oder Sittlichkeit beeinträchtigt („gefährliche Arbeit“); Kinder im schulpflichtigen Alter, denen der Zugang zu Bildung systematisch verwehrt wird, einschließlich in Folge zielgerichteter Angriffe auf Schulen; fehlender Ausweispapiere, Behinderungen oder diskriminierender Praktiken, die Mädchen den Zugang zu Bildung aufgrund ihres Geschlechts verwehren; und Kinder, denen der Zugang zu Geburtsurkunden und sonstigen Ausweisdokumenten verweigert wird oder bei denen eine entsprechende Gefahr besteht und die entweder keinen Zugang zu Rechtsbehelfsmöglichkeiten haben oder für die ein Rechtsbehelf ohne Wirkung bleibt (UNHCR-Erwägungen S. 190).
Der Beschwerdeführer fällt auch in keine dieser Kategorien. Dass er „gefährliche Arbeit“ würde verrichten müssen, wurde nicht substantiiert vorgebracht und ist auch nicht ersichtlich. Ebenso wenig ist, wie bereits in der Beweiswürdigung gezeigt, eine systematische Verwehrung des Schulbesuchs erkennbar.
4.2.3. Ergebnis:
Das BFA begründete die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten damit, dass nicht festgestellt werden konnte, dass der Beschwerdeführer in Syrien asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt wäre. Mit dieser Beurteilung ist die Behörde im Ergebnis im Recht.
Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des Beschwerdeführers, in seinem Herkunftsstaat Syrien aus den in der GFK genannten Gründen unmittelbar und konkret verfolgt zu werden, nicht begründet ist:
Im Umstand, dass im Heimatland des Beschwerdeführers Bürgerkrieg herrscht, liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für sich allein keine Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK (vgl. VwGH 26.11.1998, 98/20/0309, 0310; 19.10.2000, 98/20/0233). Um asylrelevante Verfolgung vor dem Hintergrund einer Bürgerkriegssituation erfolgreich geltend zu machen, bedarf es daher einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Heimatstaates treffenden Unbilligkeiten eines Bürgerkrieges hinausgeht.
Der Beschwerdeführer hat eine über die nicht asylrelevanten Kriegswirren hinaus drohende Verfolgung weder glaubhaft gemacht, noch ist eine solche von Amts wegen hervorgekommen. Es ist dem Beschwerdeführer folglich insgesamt nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der GFK genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen.
Somit liegen die in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK geforderten Voraussetzungen nicht vor und die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheide war abzuweisen.
5. Zu Spruchpunkt B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen zu verorten ist.
Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu Spruchpunkt A) wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
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