OGH 8ObS2/24p

OGH8ObS2/24p26.6.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Tarmann‑Prentner als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Matzka und Dr. Stefula und die fachkundigen Laienrichter Mag. Elisabeth Schmied (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Karl Schmid‑Wilches (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J* F*, vertreten durch Dr. Christoph Orgler, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei IEF‑Service GmbH – Geschäftsstelle Graz, 8020 Graz, Europaplatz 12, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 4.880 EUR sA (Insolvenz-Entgelt), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 22. Februar 2024, GZ 6 Rs 1/24 h‑12.2, mit dem das Urteil des Landesgerichts Leoben als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 10. November 2023, GZ 25 Cgs 164/23d‑7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:008OBS00002.24P.0626.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Arbeitsrecht, Sozialrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 602,54 EUR (darin 100,42 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger war seit 5. 12. 2017 bei der zur S*‑Gruppe gehörenden S* GmbH beschäftigt, über deren Vermögen am 9. 12. 2021 ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Er trat am 27. 12. 2021 gemäß § 25 IO aus dem Arbeitsverhältnis aus. Er hatte davor bereits über mehrere Jahrzehnte für verschiedene Gesellschaften der Unternehmensgruppe gearbeitet. Vom 9. 11. 2017 bis 4. 12. 2017 und vom 22. 12. 2017 bis 7. 1. 2018 war er bei keiner Gesellschaft der Gruppe beschäftigt gewesen. Er hatte aber aufgrund der vorherigen Beschäftigung bei einer Gesellschaft der Gruppe für den Zeitraum 9. 11. 2017 bis 31. 5. 2018 (und damit auch für jene beiden Zeiträume, während derer er nicht bei der Unternehmensgruppe beschäftigt gewesen war) eine Kündigungsentschädigung erhalten.

[2] Nach Pkt XVIIIa des anzuwendenden Kollektivvertrags der eisen- und metallerzeugenden und ‑verarbeitenden Industrie gebühren „[n]ach einer ununterbrochenen Dauer des Arbeitsverhältnisses […] zum 35‑jährigen Dienstjubiläum 2 Monatslöhne […] als Jubiläumsgeld“. Der mit „Betriebszugehörigkeit“ überschriebene Punkt V des Kollektivvertrags normiert in seinem Abs 1, dass „[f]ür alle Ansprüche des Arbeitnehmers bzw der Arbeitnehmerin, die von der ununterbrochenen Dauer eines Arbeitsverhältnisses abhängen, [...] die Dienstzeiten in Betrieben des gleichen Unternehmens, die ab 1. Juli 1988 nicht länger als 90 Tage, vor diesem Zeitpunkt nicht länger als 60 Tage unterbrochen wurden, zusammenzurechnen [sind]“. Der mit „Fälligkeit“ überschriebene Punkt XV.4 des Kollektivvertrags bestimmt, dass die „Zahlung des Monatslohnes, des Vorarbeiter/innen-Zuschlages und aller pauschalierten Ansprüche (insbes. auch gem. Abschnitt VI/Pkt. 4) […] spätestens am Letzten des laufenden Monats zu erfolgen [hat]“ (Satz 1) und dass „Überstunden, Mehrarbeit, Zulagen und Zuschläge sowie Aufwandsentschädigungen, Wegzeiten, Prämien udgl. […] nach den tatsächlich erbrachten Leistungen bis zum Letzten des Folgemonats auszuzahlen [sind]“ (Satz 2).

[3] Es ist zwischen den Parteien unstrittig, dass die Zeiten der Beschäftigung des Klägers bei den verschiedenen Gesellschaften der S*-Gruppe zusammenzurechnen sind. Bei Nichtberücksichtigung der „beschäftigungslosen“ Zeiten des Klägers (9. 11. 2017 bis 4. 12. 2017 und 22. 12. 2017 bis 7. 1. 2018) errechnet sich rein rechnerisch – unstrittig – eine 35‑jährige Betriebszugehörigkeit des Klägers zur Unternehmensgruppe erst im Mai 2021, wohingegen er bei Berücksichtigung dieser Zeiten bereits im April 2021 sein 35‑jähriges Dienstjubiläum gehabt hätte.

[4] Der Kläger nimmt die Beklagte auf Insolvenz-Entgelt (in unstrittiger Höhe) in Anspruch. Sein 35‑jähriges Dienstjubiläum habe sich erst im Mai 2021 ereignet. Das Jubiläumsgeld sei eine Prämie, sodass sein Anspruch auf dasselbe nach dem Kollektivvertrag erst am Ende des Folgemonats, somit am 30. 6. 2021 fällig geworden sei. Damit falle sein Jubiläumsgeldanspruch in den vom IESG gesicherten sechsmonatigen Zeitraum vor Insolvenzeröffnung.

[5] Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Weil der Kläger eine Kündigungsentschädigung erhalten habe, seien bei Berechnung der 35‑jährigen Betriebszugehörigkeit auch die beschäftigungslosen Zeiten 9. 11. 2017 bis 4. 12. 2017 und 22. 12. 2017 bis 7. 1. 2018 zu berücksichtigen, sodass der Kläger bereits im April 2021 sein 35-jähriges Dienstjubiläum gehabt habe. Sein Jubiläumsgeldanspruch sei bereits einen Monat später fällig geworden, weil es sich beim Jubiläumsgeld um keine Prämie im Sinne von Punkt XV.4 Satz 2 des Kollektivvertrags handle. Damit sei das Jubiläumsgeld des Klägers nicht vom IESG geschützt. Selbst wenn man das 35‑jährige Dienstjubiläum des Klägers im Mai ansetzten wollte, wäre es mangels Anwendbarkeit von Pkt XV.4 Satz 2 des Kollektivvertrags bereits Ende Mai und damit wiederum mehr als sechs Monate vor Insolvenzeröffnung fällig geworden und damit außerhalb des geschützten sechsmonatigen Zeitraums vor Insolvenzeröffnung.

[6] Die Vorinstanzen traten dem Rechtsstandpunkt des Klägers bei und gaben der Klage statt. Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision mangels höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Auslegung der anzuwendenden kollektivvertraglichen Regelungen zu.

[7] Gegen das Berufungsurteil richtet sich die aus dem Revisionsgrund des § 503 Z 4 ZPO erhobene Revision der Beklagten, in welcher sie ihren Rechtsstandpunkt aufrecht erhält und mit der sie ihren Antrag auf Klageabweisung weiterverfolgt.

[8] Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung die Zurückweisung des Rechtsmittels, hilfsweise diesem den Erfolg zu versagen.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der Auslegung kollektivvertraglicher Vorschriften kommt regelmäßig und so auch hier schon wegen des größeren Personenkreises der davon betroffenen Dienstnehmer über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu, weshalb die Revision zulässig ist (RS0042819; RS0109942).

[10] Die Revision ist aber nicht berechtigt.

[11] I. Nach § 3a Abs 1 Satz 1 IESG gebührt Insolvenz-Entgelt für das dem Arbeitnehmer gebührende Entgelt einschließlich der gebührenden Sonderzahlungen, das in den letzten sechs Monaten vor dem Stichtag (§ 3 Abs 1 IESG) oder, wenn das Arbeitsverhältnis vor dem Stichtag geendet hat, in den letzten sechs Monaten vor dessen arbeitsrechtlichem Ende fällig geworden ist.

[12] Jubiläumsgelder sind nach der Rechtsprechung als Teil des laufenden Entgelts iSd § 3a IESG zu behandeln (RS0125804). Zumal die Insolvenzeröffnung hier am 9. 12. 2021 erfolgte (Stichtag nach § 3 Abs 1 IESG) und vor diesem das Arbeitsverhältnis nicht geendet hat, kommt es darauf an, wann der Anspruch auf das Jubiläumsgeld entstand (dazu Punkt II) und wann er fällig wurde (dazu Punkt III).

[13] II. Jubiläumsgeldern liegt der Gedanke einer Anerkennung und Belohnung für langjährige Betriebszugehörigkeit zugrunde (4 Ob 41/81 = ZAS 1982/31 [Tomandl]; 8 ObA 167/98m). Sie gelten mit anderen Worten die Betriebstreue nach mehrjähriger Betriebszugehörigkeit ab (zB Hörmann, Teilzeitdiskriminierung beim Jubiläumsgeld – Berechnung des Jubiläumsgeldes beim Wechsel von Vollzeit auf Teilzeit, in Köck/Niksova/Risak/Wolf, Liber Amicorum Wolfgang Mazal [2019] 31 [31]).

[14] Es kommt damit auf die rechtliche Betriebszugehörigkeit an. Dem entspricht auch der vorliegende Kollektivvertrag, indem er in seinem Punkt XVIIIa an die „Dauer des Arbeitsverhältnisses“ anknüpft und für dessen Berechnung in Punkt V auf die „Betriebszugehörigkeit“ abstellt.

[15] Hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf Kündigungsentschädigung, so wird er im Wege des Schadenersatzes zwar so behandelt, als wäre er ordnungsgemäß gekündigt und bis zum ordnungsgemäßen Ende seines Arbeitsverhältnisses beschäftigt gewesen (hA: RS0028724; RS0119684 [T3 und T4]; Kuras in Marhold/Burgstaller/Preyer, AngG [2007] § 29 Rz 1 f; Wachter in Reissner, AngG4 [2022] § 23 Rz 27; Spenling/Kietaibl in KBB7 [2023] § 1162 ABGB Rz 3). Dies ändert aber nichts daran, dass er im Zeitraum zwischen dem nicht ordnungsgemäßen (und damit den Anspruch auf Kündigungsentschädigung auslösenden) Ende seines Dienstverhältnisses und jenem Zeitpunkt, in welchem dieses ordnungsgemäß erst beendet worden wäre, gerade nicht betriebszugehörig war, mit anderen Worten sein Arbeitsverhältnis nicht mehr bestand. Folglich würde auch im (hier nicht vorliegenden) Fall, dass der Arbeitnehmer während der Zeit, für die er die Kündigungsentschädigung erhält, das Dienstjubiläum erreicht hätte, der Anspruch auf das Jubiläumsgeld nicht auf Grundlage des Kollektivvertrags entstehen, weil das Arbeitsverhältnis nicht lange genug bestanden hätte, sondern dem Arbeitnehmer würde der entgangene Anspruch bloß im Rahmen der Kündigungsentschädigung ersetzt werden (zutr Holzer/Reissner in Reissner, Arbeitsverhältnis und Insolvenz5 [2018] § 46 IO Rz 14; aA Schindler, Arbeitskräfteüberlassungs-KV [2022] 161).

[16] Auch im vorliegenden Fall, in dem das Dienstjubiläum erst nach der bloßen Kündigungsentschädigungszeit (konkret: 9. 11. 2017 bis 4. 12. 2017 und 22. 12. 2017 bis 7. 1. 2018) erreicht wurde, kann diese nicht berücksichtigt werden, bestand doch während derselben gerade kein Arbeitsverhältnis. Für diese Sichtweise spricht letztlich auch die herrschender Ansicht zur ähnlich formulierten Bestimmung des § 23 AngG, die den Abfertigungsanspruch daran anknüpft, dass das Dienstverhältnis (ununterbrochen) drei Jahre gedauert hat. Sowohl nach der Rechtsprechung als auch der Lehre kommt es dabei einzig auf den rechtlichen Bestand des Arbeitsverhältnisses an (9 ObA 268/88; 8 ObA 9/10x [Pkt 2.1.] = DRdA 2011/44 [K. Mayr]; Wachter in Reissner, AngG4 [2022] § 23 Rz 28, je mwN). Warum für die insofern gleich wie § 23 AngG konzipierten, hier anzuwendenden kollektivvertraglichen Bestimmungen zum Jubiläumsgeld anderes gelten soll, ist nicht ersichtlich.

[17] Die Zeiten, in der der Kläger in keinem Beschäftigungsverhältnis mit einem Unternehmen der S*‑Gruppe stand, sind demnach ungeachtet des Umstands, dass er für sie eine Kündigungsentschädigung erhielt, bei der Berechnung seiner 35‑jährigen Betriebszugehörigkeit als Voraussetzung des Jubiläumsgeldes nicht zu berücksichtigen. Dies führt – rechnerisch unstrittig – dazu, dass der Anspruch des Klägers auf das Jubiläumsgeld erst im Mai 2021 entstand.

[18] III. Der normative Teil eines Kollektivvertrags ist nach ständiger Rechtsprechung gemäß §§ 6 und 7 ABGB auszulegen (vgl RS0008807; RS0010088). In erster Linie ist bei seiner Auslegung deshalb der Wortsinn zu erforschen und die sich aus dem Text ergebende Absicht der Kollektivvertragsparteien zu berücksichtigen (RS0010089). Die Auslegung beginnt somit mit der Wortinterpretation, worunter die Erforschung des Wortsinnes, der Bedeutung eines Ausdruckes oder eines Gesetzes nach dem Sprachgebrauch zu verstehen ist (RS0008896).

[19] Es ist in Judikatur und Literatur anerkannt, dass es sich bei Jubiläumsgeldern um (besondere) Treueprämien handelt (8 ObS 1/10w; 8 ObS 6/10f; Winkler, Aliquotierungsgebot und Jubiläumsgelder, RdW 1996, 367 [369]; Rath, Glosse zu 8 ObS 1/21m in DRdA 2022/14 [251: „… das sogenannte Jubiläumsgeld, ein Unterfall der Treueprämie“]; Rabl/Vinzenz in Reissner, AngG4 [2022] § 16 Rz 17 ua). Weil die Kollektivvertragsparteien bei der Regelung der Fälligkeit die Jubiläumsgelder nicht explizit anführten, ist davon auszugehen, dass sie sie – dem referierten Sprachgebrauch folgend – als vom Begriff „Prämie“ in Pkt XV.4 Satz 2 des Kollektivvertrags miterfasst betrachteten. Entgegen der Ansicht der Revisionswerberin ist nicht nur bei „variablen Ansprüchen“ die von dieser Kollektivvertragsvorschrift vorgenommene Hinausschiebung der Fälligkeit auf den Letzten des Folgemonats sachgerecht, sondern auch beim Jubiläumsgeld, zumal die Beurteilung von dessen zeitlicher Voraussetzung im Einzelfall durchaus aufwendig sein kann und zudem bei Erreichung des Dienstjubiläums erst am Ende des Monats, insbesondere wenn dieses auf ein Wochenende fällt, die Auszahlung praktisch nicht durchführbar wäre, möchte man dem Arbeitgeber nicht die Pflicht auferlegen, den Auftrag zur Überweisung des Jubiläumsgeldes bereits vor der Erreichung des Jubiläums zu erteilen.

[20] IV. Es erweist sich damit der Rechtsstandpunkt des Klägers als zutreffend. Der Revision der Beklagten war der Erfolg zu versagen.

[21] V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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