European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0010OB00075.22V.0518.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Ende 2019 trat eine bis dahin unbekannte Viruserkrankung auf, die durch das Coronavirus SARS‑CoV‑2 verursacht wird und deshalb die Kurzbezeichnung COVID‑19 erhielt. Diese Krankheit nahm in den ersten Monaten 2020 das Ausmaß einer weltweiten Pandemie an. Angesichts ihrer raschen Ausbreitung und ihrer Gefährlichkeit, insbesondere für sogenannte „vulnerable Bevölkerungsgruppen“, unter denen die Anzahl der schweren Verläufe und Todesfälle erheblich war, sah sich ein Großteil der Regierungen und staatlichen Institutionen weltweit veranlasst, Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu treffen.
[2] In Österreich wurde das COVID‑19-Maßnahmengesetz, BGBl I 2020/12, beschlossen, das am 16. 3. 2020 in Kraft trat. Aufgrund § 1 dieses Gesetzes erließ der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (kurz: Gesundheitsminister) umgehend die Verordnung betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19, BGBl II 2020/96 (kurz: COVID‑19-Maßnahmenverordnung 96 oder Verordnung), die in § 1 das Betreten des Kundenbereichs von Betriebsstätten des Handels und von Dienstleistungsunternehmen sowie von Freizeit‑ und Sportbetrieben zum Zweck des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen oder der Benützung von Freizeit‑ und Sportbetrieben untersagte. In § 3 Abs 1 der Verordnung wurde das Betreten von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe untersagt; in den Abs 2 bis 5 finden sich dazu Ausnahmen. Diese Verordnung sollte mit Ablauf des 22. 3. 2020 außer Kraft treten. Mit Verordnung BGBl II 2020/112 wurde die Gültigkeitsdauer der COVID‑19-Maßnahmenverordnung 96 zunächst bis 13. 4. 2020 verlängert. Mit Verordnung BGBl II 2020/130 wurde dieses Ablaufdatum für die §§ 1 und 3 beibehalten und § 3 ein Absatz 6 angefügt, der die Abholung vorbestellter Speisen unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig erklärte. Mit Verordnung BGBl II 2020/151 wurde schließlich die Gültigkeitsdauer der COVID‑19-Maßnahmenverordnung 96 bis 30. 4. 2020 verlängert. Zu einer weiteren Verlängerung kam es nicht; vielmehr wurde die COVID‑19-Maßnahmenverordnung 96 durch § 13 Abs 2 Z 1 COVID‑19‑Lockerungsverordnung, BGBl II 2020/197, mit Ablauf des 30. 4. 2020 außer Kraft gesetzt.
[3] Mit Erkenntnis vom 1. 10. 2020, V 405/2020, sprach der Verfassungsgerichtshof auf Antrag eines Gastwirts aus, dass § 3 der Verordnung in der Fassung BGBl II 2020/130 gesetzwidrig war, weil es der Gesundheitsminister als Verordnungsgeber gänzlich unterlassen habe, „jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum er die mit dieser Regelung getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat“ (Punkt 2.2.7. des Erkenntnisses). Eine solche Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen im Verordnungsakt sei aber vor dem Hintergrund des Art 18 Abs 2 B‑VG angesichts der inhaltlich weitreichenden Ermächtigung des Verordnungsgebers in § 1 COVID‑19-Maßnahmengesetz geboten, um nachvollziehbar zu machen, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist, um damit eine Überprüfung der Gesetzmäßigkeit der Verordnung zu gewährleisten (Punkte 2.2.2., 2.2.3., 2.2.6. des Erkenntnisses).
[4] Mit Erkenntnis vom 9. 3. 2021, V 530/2020, sprach der Verfassungsgerichtshof aus, dass die Wortfolgen „sowie von Freizeit‑ und Sportbetrieben“ und „oder der Benützung von Freizeit‑ und Sportbetrieben“ in § 1 der Verordnung aus denselben Gründen gesetzwidrig waren.
[5] Mit Erkenntnis vom 29. 9. 2021, V 188/2021 ua, sprach der Verfassungsgerichtshof schließlich aus, dass § 3 der Verordnung auch in der ursprünglichen Fassung BGBl II 2020/96 aus denselben Gründen gesetzwidrig war. Für die letzte Fassung, BGBl II 2020/151, erfolgte ein derartiger Ausspruch bisher nicht.
[6] Die Klägerin begehrt unter Berufung auf das Gesetzwidrigkeitsverdikt des VfGH im Wege der Amtshaftung den (teilweisen) Ersatz des Verdienstentgangs, der ihr durch das Verbot des Betretens ihrer vier Gastgewerbebetriebe (§ 3 der Verordnung) und ihrer drei Betriebsstätten des Bekleidungs- und Sportartikelhandels (§ 1 der Verordnung) im Zeitraum 16. 3. bis 19. 4. 2020 entstanden sei. Das Unterlassen jeglicher Begründung im Verordnungsakt für die verordneten Maßnahmen sei „zweifelsfrei“ schuldhaft erfolgt; der verwirklichte Verstoß gegen das Legalitätsprinzip des Art 18 B‑VG stelle ein „ganz besonders grobes Verschulden“ dar. Einen Vorwurf inhaltlicher Gesetzwidrigkeit, also einer mangelden gesetzlichen Deckung der verordneten Beschränkungen, enthält ihr erstinstanzliches Vorbringen nicht.
[7] Die Vorinstanzen werteten das Vorgehen des Gesundheitsministers bei Erlassung der (rechtswidrigen) Bestimmungen der Verordnungen als vertretbar und wiesen das Klagebegehren deshalb ab.
Rechtliche Beurteilung
[8] Die außerordentliche Revision der Klägerin zeigt keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf.
[9] 1. Trotz des erhöhten Sorgfaltsmaßstabs, der für die Beurteilung des Verhaltens von Organen am Erlass rechtswidriger Verordnungen gilt (1 Ob 38/87 = SZ 60/217 = RIS‑Justiz RS0049821; RS0049935; Schragel, AHG3 Rz 69), hat das Berufungsgericht die einzelfallbezogene (RS0110837) Frage nach der Vertretbarkeit der Rechtsauffassung in einer Weise gelöst, die keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung darstellt.
[10] Nach dessen Beurteilung habe der Verstoß des Gesundheitsministers ausschließlich darin bestanden, dass seine (aus den im Amtshaftungsverfahren vorgelegten Urkunden hervorgehenden) Beweggründe nicht in den Verordnungsakten dokumentiert wurden, sodass der Verfassungsgerichtshof die Gesetzmäßigkeit der Verordnungen anhand dieser Akten nicht überprüfen habe können. Da insbesondere keine eindeutige gesetzliche Anordnung einer Dokumentationspflicht im Verordnungsakt bestanden habe, die dazu ergangene Judikatur des Verfassungsgerichtshofs zum Zeitpunkt der Erlassung der Verordnungen spärlich und nicht eindeutig gewesen sei und die Verordnungen in einer noch nie dagewesenen Krisensituation unter großem Zeitdruck erlassen werden hätten müssen, sodass eine eingehende Auseinandersetzung mit formalen Dokumentationspflichten nicht verlangt habe werden können, sei die Erlassung der Verordnungen, ohne die ohnehin vorhandenen Unterlagen in den Verordnungsakt aufzunehmen, als vertretbar anzusehen. Diese Beurteilung ist nicht zu beanstanden.
[11] 2. Das Argument, dass Verordnungen in der Regel nicht unter besonderem Zeitdruck erarbeitet werden müssen, galt gerade in der ersten Phase der Pandemie bei den hier zu beurteilenden, auf das COVID‑19-Maßnahmengesetz gestützten Verordnungen nicht (vgl Geroldinger in Resch, Corona‑HB1.06Kap 21 Rz 31, 36; ders, Amtshaftung wegen Fehlern bei Bekämpfung der COVID‑19-Epidemie?, JBl 2020, 523 [538]; vgl auch Hofstätter, Amtshaftung bei rechtswidriger COVID‑19-Verordnungserlassung, ZfV 2021/57, 445 [452]). Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann insbesondere dann, wenn das für den Rechtsträger zum Handeln verpflichtete Organ rasche Entschlüsse in einer nur schwer durchschaubaren Situation fassen muss oder hätte fassen müssen, nicht schon jedes – ex post als rechtswidrig erkannte – Verhalten auch als schuldhaft im Sinn des § 1 Abs 1 AHG beurteilt werden. Es kommt stets darauf an, ob die vom Organ getroffene Entscheidung bei pflichtgemäßer Überlegung als vertretbar anzusehen ist (vgl RS0049971; 1 Ob 282/00b = RS0049798 [T9]; Schragel aaO Rz 159). Der Verfassungsgerichtshof hielt wiederholt fest (V 411/2020 [Rz 78], V 405/2020 [Rz 34]), dass die inhaltlich weitreichende Ermächtigung in § 1 COVID‑19-Maßnahmengesetz vor dem Hintergrund des Art 18 Abs 2 B‑VG den Verordnungsgeber zwar verpflichte, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungs-erlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürften aber naturgemäß nicht überspannt werden; sie bestimmten sich maßgeblich danach, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist. Auch in diesem Zusammenhang komme dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu.
[12] 3. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, aus der Vorjudikatur des Verfassungsgerichtshofs sei nicht zwingend abzuleiten gewesen, dass in jedem Fall aus vorhandenen Urkunden hervorgehende Beweggründe des Verordnungsgebers als Dokumentation auch in den Verordnungsakt aufgenommen werden müssten, um eine Überprüfung der Gesetzmäßigkeit der Verordnung durch den Verfassungsgerichtshof zu gewährleisten, weil dieser Dokumente außerhalb des Verordnungsakts bei seiner Prüfung nicht in Betracht ziehe und dass eine diesbezügliche Klarstellung erst die im vorliegenden Fall ergangenen Erkenntnisse gebracht hätten, ist nicht korrekturbedürftig (so auch Hofstätter aaO 449: “Eine derart rigide Handhabung des Kriteriums der hinreichenden Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen ist der bisherigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs – mit Ausnahme des Bereichs der Raumordnung [FN 46] – wohl nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen.“). Die Beurteilung, dass es angesichts der bisherigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs über die Anforderungen an die Dokumentationspflicht nicht erforderlich gewesen sei, dass sich der Gesundheitsminister mit der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zur Darstellung der für die Verordnungserlassung maßgebenden Umstände im Verordnungsakt auseinander setzt, erscheint nicht bedenklich. Die Frage der allfällig unterlassenen Einbeziehung des Verfassungsdienstes in die Verordnungserlassung spielt für die Beurteilung der Vertretbarkeit des Verhaltens des Gesundheitsministers keine entscheidende Rolle.
[13] Die von der Klägerin zitierten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs belegen keine Unvertretbarkeit der unzureichenden Dokumentation im Verordnungsakt: Aus dem Erkenntnis V 51/77 (= VfSlg 8.280), das den Flächenwidmungsplan einer Marktgemeinde betraf, ergibt sich nicht, dass eine Dokumentation im Verordnungsakt zu erfolgen hat, vielmehr hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass der Festlegung der Widmungsart nicht die vom Gesetz geforderte ausreichende Untersuchung der gegebenen natürlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen vorangegangen sei. Im Erkenntnis V 46/82 (= VfSlg 10.313) legte der Verfassungsgerichtshof dar, welcher Sachverhalt den Akten eines Bundesministeriums zu entnehmen sei, und beanstandete, dass die bekämpfte Verordnung ohne Auseinandersetzung mit bestimmten gesetzlichen Kriterien zustandegekommen sei. Den Erkenntnissen V 29/88, V 102/88 (= VfSlg 11.756), V 36–43/88, V 96/88 (= VfSlg 11.757), V 44–54/88 ua, V 101/88 (= VfSlg 11.758), V 73–83/88 ua, V 93–95/88, V 103–113/88 ua, V 198–200/88 (= VfSlg 11.918), V 182/88 (= VfSlg 11.972) ist nicht eindeutig zu entnehmen, dass zur Gewährleistung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung die relevanten Umstände gerade im Verordnungsakt aktenkundig zu machen wären.
[14] Im Erkenntnis V 159/90 (= VfSlg 12.949) erachtete der Verfassungsgerichtshof eine Verordnung als gesetzwidrig, weil die gesetzlich vorgegebene Bedachtnahme auf die Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit mangels „gehöriger Unterlagen“ nicht erfolgen habe können und daher auch nicht erfolgt sei. Im Erkenntnis G 200/03, V 93/03 ua(= VfSlg 17.161) berücksichtigte der Verfassungsgerichtshof eine im Verordnungsakt nicht enthaltene, im verfassungsgerichtlichen Verfahren vorgelegte Kostenkalkulation, monierte aber, dass aus keinen Unterlagen im Verordnungsakt erkennbar gewesen wäre, dass der Verordnungsgeber die Art und Weise der Berechnung dieses Preises durch einen bestimmten Berufsverband einer Würdigung unterzogen hätte. Aus den zwei letztgenannten Erkenntnissen konnte durchaus abgeleitet werden, dass sich die Überlegungen und Ermittlungen nicht unbedingt im Verordnungsakt befinden müssen, sondern auch in anderen Akten enthalten sein können, hätte sich doch sonst eine inhaltliche Befassung mit Unterlagen, die erst im Verfahren vorgelegt wurden, erübrigt. Im Erkenntnis E 552/2016 ua (= VfSlg 20.095) zitierte der Verfassungsgerichtshof einen Amtsbericht der städtischen Abteilung für Recht und öffentliche Sicherheit an die verordnungserlassende Stadtvertretung.
[15] Auch aus der von der Revisionswerberin zitierten Literaturstelle ergibt sich nicht, dass die Ermittlung der Umstände, unter denen die Erlassung der Verordnung erfolgt, umfassend und objektiv nachvollziehbar allein im Verordnungsakt erfolgen muss. Dass die Entscheidungsgrundlagen zur Beurteilung, welche Umstände im Hinblick auf welche möglichen Entwicklungen von COVID‑19 den Verordnungsgeber bei seiner Entscheidung geleitet haben, aus dem Verordnungsakt ersichtlich und dort dokumentiert sein müssen, sprach der Verfassungsgerichtshof erstmals im Erkenntnis vom 14. 7. 2020, V 411/2020 (Punkt 7.), aus. Die beanstandeten Bestimmungen der COVID‑19-Maßnahmenverordnung 96 waren aber zeitlich davor erlassen worden und bereits mit Ablauf des 30. 4. 2020 außer Kraft getreten, sodass der Gesundheitsminister die nunmehrige Klarstellung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nicht berücksichtigen konnte.
[16] 4. Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 510 Abs 3 ZPO).
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