VfGH V405/2020

VfGHV405/20201.10.2020

Gesetzwidrigkeit einer Bestimmung der COVID-19-Maßnahmenverordnung betreffend Betretungsverbote für Gastgewerbebetriebe und die Abholung vorbestellter Speisen mangels ausreichender Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen

Normen

B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 Z3
COVID-19-MaßnahmenG §1, §2
COVID-19-MaßnahmenV BGBl II 96/2020 idF BGBl II 130/2020 §1, §3
VfGG §7 Abs1, §57 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2020:V405.2020

 

Spruch:

I. 1. §3 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, BGBl II Nr 96/2020, idF BGBl II Nr 130/2020 war gesetzwidrig.

2. Die als gesetzwidrig festgestellte Bestimmung ist nicht mehr anzuwenden.

3. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.

4. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.

II. Der Bund (Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) ist schuldig, der antragstellenden Partei zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 1.112,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Gestützt auf Art139 Abs1 Z3 B‑VG begehrt der Antragsteller mit Antrag vom 24. April 2020, die "Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz gemäß §1 des COVID-19-Maßnahmengesetzes betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Covid-19, BGBl II Nr 96/2020 [idF BGBl II 162/2020], zur Gänze, in eventu die §§1, §2 Abs2, 3, 5 und 6, §3 sowie §4 der genannten Verordnung […]" als gesetzwidrig aufzuheben.

II. Rechtslage

Die Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (im Folgenden: COVID-19-Maßnahmenverordnung-96), BGBl II 96/2020 idF BGBl II 130/2020 (§§3 und 4) und BGBl II 162/2020 (§§2 und 5), lautete (die mit dem Eventualantrag angefochtenen Bestimmungen sind hervorgehoben):

"§1. Das Betreten des Kundenbereichs von Betriebsstätten des Handels und von Dienstleistungsunternehmen sowie von Freizeit- und Sportbetrieben zum Zweck des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen oder der Benützung von Freizeit- und Sportbetrieben ist untersagt.

 

§2. (1) §1 gilt nicht für folgende Bereiche:

1. öffentliche Apotheken

2. Lebensmittelhandel (einschließlich Verkaufsstellen von Lebensmittelproduzenten) und bäuerlichen Direktvermarktern

3.. Drogerien und Drogeriemärkte

4. Verkauf von Medizinprodukten und Sanitärartikeln, Heilbehelfen und Hilfsmitteln

5. Gesundheits- und Pflegedienstleistungen

6. Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen die von den Ländern im Rahmen der Behindertenhilfe–, Sozialhilfe–, Teilhabe– bzw Chancengleichheitsgesetze erbracht werden

7. veterinärmedizinische Dienstleistungen

8. Verkauf von Tierfutter

9. Verkauf und Wartung von Sicherheits- und Notfallprodukten

10. Notfall-Dienstleistungen

11. Agrarhandel einschließlich Schlachttierversteigerungen sowie der Gartenbaubetrieb und der Landesproduktenhandel mit Saatgut, Futter und Düngemittel

12. Tankstellen und angeschlossene Waschstraßen

13. Banken

14. Postdiensteanbieter einschließlich deren Postpartner, soweit diese Postpartner unter die Ausnahmen des §2 fallen sowie Postgeschäftsstellen iSd §3 Z7 PMG, welche von einer Gemeinde betrieben werden oder in Gemeinden liegen, in denen die Versorgung durch keine andere unter §2 fallende Postgeschäftsstelle erfolgen kann, jedoch ausschließlich für die Erbringung von Postdienstleistungen und die unter §2 erlaubten Tätigkeiten, und Telekommunikation.

15. Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Rechtspflege

16. Lieferdienste

17. Öffentlicher Verkehr

18. Tabakfachgeschäfte und Zeitungskioske

19. Hygiene und Reinigungsdienstleistungen

20. Abfallentsorgungsbetriebe

21. KFZ- und Fahrradwerkstätten

22. Baustoff-, Eisen- und Holzhandel, Bau- und Gartenmärkte

23. Pfandleihanstalten und Handel mit Edelmetallen

24. Sportbetriebe zum Zweck der Nutzung nicht öffentlicher Sportstätten im Sinn des §5 Abs2 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz gemäß §2 Z1 des COVID-19-Maßnahmengesetzes, BGBl II Nr 98/2020, in der jeweils geltenden Fassung.

 

(2) Die Ausnahmen nach Abs1 Z3, 4, 8, 9, 11, 22 und 23 sowie Abs4 gelten an Werktagen von 07.40 Uhr bis längstens 19.00 Uhr. Restriktivere Öffnungszeitenregeln aufgrund anderer Rechtsvorschriften bleiben unberührt.

 

(3) Die Ausnahmen nach Abs1 Z2 gilt an Werktagen von 07.40 Uhr bis längstens 19.00 Uhr, sofern es sich nicht um eine Verkaufsstelle von Lebensmittelproduzenten handelt. Restriktivere Öffnungszeitenregeln aufgrund anderer Rechtsvorschriften bleiben unberührt.

 

(4) §1 gilt unbeschadet Abs1 nicht für den Kundenbereich von sonstigen Betriebsstätten des Handels, wenn der Kundenbereich im Inneren maximal 400 m² beträgt. Als sonstige Betriebsstätten des Handels sind Betrieb[s]stätten zu verstehen, die dem Verkauf, der Herstellung, der Reparatur oder der Bearbeitung von Waren dienen. Sind sonstige Betriebsstätten baulich verbunden (z. B. Einkaufszentren), ist der Kundenbereich der Betriebsstätten zusammenzuzählen, wenn der Kundenbereich über das Verbindungsbauwerk betreten wird. Veränderungen der Größe des Kundenbereichs, die nach dem 7. April 2020 vorgenommen wurden, haben bei der Ermittlung der Größe des Kundenbereichs außer Betracht zu bleiben.

 

(5) Abs1 gilt nur, wenn folgende Voraussetzungen eingehalten werden:

1. Mitarbeiter mit Kundenkontakt sowie Kunden eine den Mund- und Nasenbereich gut abdeckende mechanische Schutzvorrichtung als Barriere gegen Tröpfcheninfektion tragen; dies gilt nicht für Kinder bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr.

2. ein Abstand von mindestens einem Meter gegenüber anderen Personen eingehalten wird.

 

(6) Abs4 gilt nur, wenn zusätzlich zu den Voraussetzungen nach Abs5 der Betreiber durch geeignete Maßnahmen sicherstellt, dass sich maximal so viele Kunden gleichzeitig im Kundenbereich aufhalten, dass pro Kunde 20 m² der Gesamtverkaufsfläche zur Verfügung stehen; ist der Kundenbereich kleiner als 20 m², so darf jeweils nur ein Kunde die Betriebsstätte betreten.

 

(7) In den Bereichen nach Abs1 Z5 und 6 gelten

1. abweichend von Abs5 Z1 die einschlägigen berufs- und einrichtungsspezifischen Vorgaben und Empfehlungen, und

2. Abs5 Z2 und 3 nicht.

 

§3. (1) Das Betreten von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe ist untersagt.

 

(2) Abs1 gilt nicht für Gastgewerbetriebe [Gastgewerbebetriebe], welche innerhalb folgender Einrichtungen betrieben werden:

1. Kranken-und Kuranstalten;

2. Pflegeanstalten und Seniorenheime;

3. Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung von Kindern und Jugendlichen einschließlich Schulen und Kindergärten;

4. Betrieben, wenn diese ausschließlich durch Betriebsangehörige genützt werden dürfen.

 

(3) Abs1 gilt nicht für Beherbergungsbetriebe, wenn in der Betriebsstätte Speisen und Getränke ausschließlich an Beherbergungsgäste verabreicht und ausgeschenkt werden.

 

(4) Abs1 gilt nicht für Campingplätze und öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn dort Speisen und Getränke ausschließlich an Gäste des Campingplatzes bzw öffentlicher Verkehrsmitteln verabreicht und ausgeschenkt werden.

 

(5) Abs1 gilt nicht für Lieferservice.

 

(6) Die Abholung vorbestellter Speisen ist zulässig, sofern diese nicht vor Ort konsumiert werden und sichergestellt ist, dass gegenüber anderen Personen dabei ein Abstand von mindestens einem Meter eingehalten wird.

 

§4. (1) Das Betreten von Beherbergungsbetrieben zum Zweck der Erholung und Freizeitgestaltung ist untersagt.

 

(2) Beherbergungsbetriebe sind Unterkunftsstätten, die unter der Leitung oder Aufsicht des Unterkunftgebers oder eines von diesem Beauftragten stehen und zur entgeltlichen oder unentgeltlichen Unterbringung von Gästen zu vorübergehendem Aufenthalt bestimmt sind. Beaufsichtigte Camping- oder Wohnwagenplätze sowie Schutzhütten gelten als Beherbergungsbetriebe.

 

(3) Abs1 gilt nicht für Beherbergungen

1. von Personen, die sich zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung bereits in Beherbergung befinden, für die im Vorfeld mit dem Beherbergungsbetrieb vereinbarte Dauer der Beherbergung,

2. zum Zweck der Betreuung und Hilfeleistung von unterstützungsbedürftigen Personen,

3. aus beruflichen Gründen oder

4. zur Stillung eines dringenden Wohnbedürfnisses.

 

§5. (1) Diese Verordnung tritt mit Ablauf des 30. April 2020 außer Kraft.

 

(2) Die Änderungen dieser Verordnung durch die Verordnung BGBl II Nr 112/2020 treten mit dem der Kundmachung folgenden Tag in Kraft.

 

(3) §4 dieser Verordnung in der Fassung der Verordnung BGBl II Nr 130/2020 tritt mit Ablauf des 3. April 2020 in Kraft. Im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung bestehende Verordnungen eines Landeshauptmannes oder einer Bezirksverwaltungsbehörde über Betretungsverbote von Beherbergungsbetrieben bleiben unberührt.

 

(4) Die §§1 bis 3 treten mit Ablauf des 30. April 2020 außer Kraft.

 

(5) §4 tritt mit Ablauf des 30. April 2020 außer Kraft.

 

(6) Die Änderungen dieser Verordnung durch die Verordnung BGBl II Nr 151/2020 treten mit Ablauf des 13. April 2020 in Kraft.

 

(7) §2 Z24 in der Fassung BGBl II Nr 162/2020 tritt mit 20. April 2020 in Kraft."

 

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Der Antragsteller ist Gastwirt.

1.1. Zu seiner Antragslegitimation bringt er Folgendes vor (ohne Hervorhebungen im Original):

"Die bekämpfte generelle Norm wirkt sich unmittelbar auf die Rechtsposition des Antragstellers aus, weil für den Antragsteller und alle anderen Personen das Betreten des Kundenbereichs von Betriebsstätten des Handels und der Dienstleistungsunternehmen, sowie von Freizeit- und Sportbetrieben zum Zweck des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen oder der Benützung von Freizeit- und Sportbetrieben, sowie das Betreten von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe, sowie das Betreten von Beherbergungsbetrieben zum Zweck der Erholung und Freizeitgestaltung verboten ist und die Öffnungszeiten für die vom Verbot gemäß §1 ausgenommen Bereiche beschränkt werden (§2 Abs2 u. 3 der Verordnung), dies unter Androhung hoher Verwaltungsstrafen. Vom Betretungsverbot ausgenommene Bereiche nach §2 Abs1 Z1 – Z24 leg cit und Kundenbereiche von sonstigen Betriebsstätten des Handels, wenn der Kundenbereich im Inneren maximal 400 m2 beträgt (§2 Abs4 leg cit), dürfen nur unter Einhaltung der Voraussetzungen, dass Mitarbeiter mit Kundenkontakt sowie Kunden eine den Mund und Nasenbereich gut abdeckende mechanische Schutzvorrichtung als Barriere gegen Tröpfcheninfektion tragen, wobei ein Abstand von mindestens 1 Meter gegenüber anderen Personen eingehalten werden muss, betreten werden; im Fall eines Verstoßes wird eine Verwaltungsübertretung begangen, die mit hohen Verwaltungsstrafen geahndet wird.

 

Das Betretungsverbot wirkt sich für bzw zwischen allen Personen und Unternehmen und Einrichtungen nachteilig aus, somit auch direkt für den Antragsteller. Gemäß §3 Abs1 COVID-19-Massnahmengesetz begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu € 3.600,00 zu bestrafen, wer eine Betriebsstätte betritt, deren Betreten gemäß §1 untersagt ist. Gemäß §3 Abs2 leg cit begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu € 30.000,00 (!) zu bestrafen, wer als Inhaber einer Betriebsstätte nicht dafür Sorge trägt, dass die Betriebsstätte, deren Betreten gemäß §1 leg cit untersagt ist, nicht betreten wird. Wer als Inhaber einer Betriebsstätte nicht dafür Sorge trägt, dass die Betriebsstätte höchstens von der in der Verordnung genannten Zahl an Personen betreten wird, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu € 3.600,00 zu bestrafen.

 

Der Antragsteller ist Gastwirt und betreibt am Standort […], ein Gastgewerbe in der Betriebsart eines Restaurants nach §189 Abs1 GewO. er bezieht als Gastwirt seine Einkünfte zur Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse und jener seiner Familie. Zum Beweis hiefür werden nachstehende Urkunden vorgelegt: […]

 

Da der Antragsteller als Inhaber seines Gastgewerbebetriebes in der Betriebsart eines Restaurants in verwaltungsstrafrechtlicher Hinsicht dafür Sorge zu tragen hat, dass seine Betriebsstätte, deren Betreten gemäß §§3 und 4 der Verordnung untersagt ist, nicht betreten wird, andernfalls er eine Verwaltungsübertretung begeht und mit einer Geldstrafe von bis zu € 30.000,00 zu bestrafen ist, ist eine unmittelbare Betroffenheit des Antragstellers gegeben, die den Individualantrag auf Verordnungsprüfung legitimiert.

Die drastischen Maßnahmen 'zur Bekämpfung des Coronavirus' bewirken nahezu einen Stillstand des öffentlichen Lebens. Sämtliche Handels- und Dienstleistungsunternehmen (bis auf wenige, taxativ aufgezählte Ausnahmen), sämtliche Gastronomie- und Beherbergungsbetriebe wurden geschlossen, ebenso Universitäten, Fachhochschulen, Schulen, Kindesbetreuungsstätten, Freizeit-, Sport- und Kultureinrichtungen usw Öffentliche Orte dürfen nur unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen betreten werden. Ein Zuwiderhandeln wird als Verwaltungsübertretung mit hohen Verwaltungsstrafen bis zu € 3.600,00 bzw € 30.000,00 von den Vollzugsbehörden verfolgt.

 

Bei der Beurteilung der Frage, ob die angefochtene Verordnung sich auf die Rechtssphäre des Antragstellers nachteilig auswirkt, ist ein objektiver Maßstab anzulegen, der dazu führt, dass Rechtsnachteile evident sind. Bei verständiger Würdigung der konkreten Umstände nach allgemeiner Auffassung sind die durch die Verordnung bewirkten Änderungen der Rechtsposition des Antragstellers als eine für sie nachteilige anzusehen (zB VfSlg 11.765/1988; 14.075/1995 ua).

 

Ein zumutbarer Weg zur Geltendmachung der behaupteten Verfassungswidrigkeit ist nicht gegeben, weil dem Antragsteller ein gerichtliches oder verwaltungsbehördliches Verfahren, das Gelegenheit zur Anregung eines Antrages auf Normprüfung bzw zur Anrufung des Verfassungsgerichtshofs bietet, nicht initiiert werden kann. Es liegen besondere und außergewöhnliche Umstände vor. Es liegt eine unmittelbare, rechtliche und aktuelle Betroffenheit durch die Verordnung vor. Ein anderer Weg zur Normenkontrolle ist nicht gegeben und unzumutbar. Ein verwaltungsstrafbehördliches Strafverfahren zu provozieren, ist jedenfalls unzumutbar (VfSlg 16.137/2001, 16.281/2001 ua).

 

Der Antragsteller ist durch die angefochtene generelle Rechtsnorm in seinen Rechten verletzt. Nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH (VfSlg 8009/1977, 16.031/2000 ua) kann mit einem Individualantrag ausnahmslos jede Rechtswidrigkeit der bekämpften Norm geltend gemacht werden.

 

Zur unmittelbaren Betroffenheit verweist der Antragsteller auf seinen Individualantrag insgesamt, die unter Punkt IV. ausgeführten Beschwerdegründe, aus deren Darstellung sich ebenso die unmittelbare Betroffenheit seiner Person in der Verletzung seiner Rechte durch die bekämpfte Verordnung ergibt."

 

Im Rahmen der Darlegung seiner Bedenken führt der Antragsteller – soweit hier relevant – des Weiteren unter anderem aus, durch die einschneidenden Betre-tungsverbote würden auch sein Vermögen sowie seine Vermögensrechte an seinem Unternehmen verletzt und nachhaltig geschädigt. Ein entsprechendes Vorbringen erstattet der Antragsteller zum Grundrecht auf Erwerbsfreiheit. Dem Antragsteller werde das Recht genommen, sein Privat- und Familienleben zu verwirklichen, "Produkte des Handels zu kaufen, Dienstleistungen […] in Anspruch zu nehmen, Speisen und Getränke in Gaststätten zu konsumieren und Beherbergungsbetriebe zum Zweck der Erholung und Freizeitgestaltung aufzusuchen." Auch die Sperre des Betriebs des Antragstellers und die damit verbundenen wirtschaftlichen Nachteile würden letztlich sein Privat- und Familienleben beeinträchtigen oder gar zerstören.

1.2. In der Sache führt der Antragsteller unter anderem wie folgt aus: Die angefochtene Verordnung widerspreche §1 COVID-19-Maßnahmengesetz in Verbindung mit dem Legalitätsprinzip. Im Hinblick auf die weitreichenden Grundrechtseingriffe seien vor der Verordnungserlassung verschiedene (näher dargelegte) Fragen zum Gefahrenpotential zu klären und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu prüfen. Bei wissenschaftlich fundierter und rechtlich gesicherter Beurteilung der Fakten "nach allumfassender Prüfung" hätte die bekämpfte Verordnung nicht erlassen werden dürfen. §1 COVID-19-Maßnahmengesetz ermächtige auch nicht zum Verbot des Betretens von Beherbergungsbetrieben, die Vermietungsunternehmen und keine Waren- oder Dienstleistungsbetriebe seien und auch (etwa in der Privatzimmervermietung) keine Arbeitnehmer beschäftigen müssten. Die angefochtene Verordnung weise zahlreiche (näher ausgeführte) verfassungswidrige Unbestimmtheiten auf, so etwa hinsichtlich des Begriffs der "Gäste" in §3 Abs4 der angefochtenen Verordnung. Die Schließung des Gastgewerbebetriebs des Antragstellers sei angesichts der Ausnahmen vom generellen Betretungsverbot sämtlicher Betriebsarten des Gastgewerbes sachlich nicht begründbar. Angesichts des Umstandes, dass in einer Gaststätte mit einem Kundenbereich von beispielsweise 100 m2 eine überschau- und berechenbare Zahl an Gästen Platz finde, die sich in der Regel zwischen ein und zwei Stunden in der Gaststätte aufhielten, sei es nahezu "grotesk", wenn solche Betriebe – im Gegensatz zu Bau- und Gartenmärkten mit einer Kundenbereichsfläche von bis zu 20.000 m2 (§2 Abs1 Z22 der Verordnung) – nicht betreten werden dürften.

2. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz hat eine Äußerung erstattet, in der er die Zurückweisung des Antrags, in eventu dessen Abweisung begehrt.

2.1. Zur Zulässigkeit wird vorgebracht, die angefochtenen Bestimmungen seien bereits außer Kraft getreten, eine rechtliche Nachwirkung sei nicht behauptet worden und auch nicht ersichtlich. Die Anträge seien sohin mangels aktueller Betroffenheit zur Gänze zurückzuweisen. Zudem erfülle der Antrag die strengen Voraussetzungen des §57 VfGG nicht, weil die Bedenken nicht im Einzelnen den jeweils bekämpften bzw einschlägigen Normen zugeordnet seien.

2.2. In der Sache hält der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz dem Antragsteller (auszugsweise) Folgendes entgegen (ohne Hervorhebungen im Original):

"[…] Zum behaupteten Verstoß gegen §1 COVID-19-Maßnahmengesetz

 

[…] Der Antragsteller behauptet eine Verletzung des §2 des COVID-19-Maßnahmengesetzes, inhaltlich beziehen sich die Bedenken auf §1 leg cit […]. Er begründet die behauptete Gesetzwidrigkeit der Verordnung BGBl II Nr 96/2020 im Wesentlichen damit, dass ihre Erlassung nicht im Sinne des §1 COVID-19-Maßnahmengesetz erforderlich gewesen sei.

 

[…] Dem ist Folgendes zu entgegnen: Für die notwendiger Weise ex ante zu beurteilende Erforderlichkeit kommt es auf eine Gefährdungsprognose an (vgl auch Kopetzki, Der Rechtsstaat funktioniert sehr gut, CuRe 2020/21). Die EU-Mitgliedstaaten werden bei ihrer Risikoeinschätzung und der damit einhergehenden Maßnahmenplanung vom European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) unterstützt. In die Risikobewertung des ECDC fließen verschiedene zum jeweiligen Zeitpunkt verfügbare internationale Quellen mit ein; diese geben einen Überblick zum jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft hinsichtlich der Erforschung der Erkrankung als auch hinsichtlich der Optionen zur Maßnahmensetzung. Es ist zu betonen, dass die Situation eine dynamische ist und diese auf nationaler und internationaler Ebene ständig neu bewertet werden muss. Als Grundlage für die Maßnahmensetzung fließen neben Empfehlungen der WHO, der ECDC die Einschätzungen und Erkenntnisse der nationalen Expertinnen und Experten sowie die jeweils aktuelle Datenlage und Prognosen mit ein.

 

[…] Bei COVID-19 handelt es sich um eine Erkrankung, die leicht und vor allem unbemerkt vor Beginn der Symptome von Mensch zu Mensch übertragen werden kann und für die es noch keine ausreichende Immunität in der Bevölkerung gibt. Zu den häufigsten Symptomen zählen Fieber, trockener Husten, Halsschmerzen und Abgeschlagenheit. Die Krankheitsverläufe variieren sehr stark, von symptomlosen Verläufen bis hin zu schweren Lungenentzündungen mit Lungenversagen und Todesfolge.

 

Soweit der Antragsteller COVID-19 mit der Grippe und sonstigen Todesursachen vergleicht (Nikotin- und Alkoholkonsum, Hepatitis B und C), verkennt er die Besonderheiten von COVID-19: Anders als Nikotin- und Alkoholkonsum handelt es sich um eine übertragbare Krankheit, anders als bei der Grippe und den sonst genannten Krankheiten gibt es dagegen weder präventive (Impfung) noch kurative Arzneimittel, und die Verbreitung erfolgt ungleich leichter. Hinzu kommt, dass es sich um eine neu auftretende Krankheit handelt. Im Übrigen richten sich die Bedenken des Antragstellers inhaltlich dem Grunde nach gegen das der Verordnung zugrundeliegende COVID-19-Maßnahmengesetz (bzw bereits davor) gegen die Aufnahme von COVID-19 in die Liste der anzeigepflichtigen Krankheiten gemäß §1 Abs2 Epidemiegesetz 1950 durch BGBl II Nr 15/2020. Dass COVID-19 zu jenen Krankheiten gehört, die eine Eröffnung des seuchenrechtlichen Maßnahmenkatalogs rechtfertigen, ist vor dem Hintergrund des oben Gesagten aber nicht zu bezweifeln.

 

[…] Nach dem erstmaligen Auftreten von COVID-19 in Österreich am 25. Februar 2020 kam es zu einem rasanten Anstieg der Krankheitsfälle: Während in der 10. Kalenderwoche (2. bis 8. März 2020) die Zahl der nachgewiesenen Neuerkrankungen mit durchschnittlich 17 pro Tag (in Summe 119 in dieser Woche) anstieg, waren es in der 11. Kalenderwoche (9. bis 15. März) durchschnittlich 140 pro Tag (in Summe 982), wobei alle Bundesländer betroffen waren und COVID-19 nicht mehr lokal eingrenzbar war. Somit nahm die Gesamtzahl der Erkrankten in dieser Woche täglich im Durchschnitt um 25 % zu. Eine derartige Zunahme bedeutet ein exponentielles Wachstum, bei dem sich die Fallzahlen in etwas mehr als drei Tagen verdoppeln. Auch weltweit gesehen waren die Wachstumsraten zu diesem Zeitpunkt in der EU am höchsten. Am 11. März 2020 wurde der Ausbruch von COVID-19 durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Pandemie eingestuft.

 

In der Risikobewertung des ECDC vom 12. März 2020 flossen insbesondere Daten und Erfahrungen aus anderen betroffenen Ländern ein. In China wurden damals in 80 % der Fälle milde bis moderate Verläufe registriert. In fast 14 % der Fälle kam es zu schweren Verläufen und 6 % aller Fälle mündeten in einem kritischen Zustand. Die Fallsterblichkeit lag für China bei 2,3 % und für Italien bei 2,8 %. Die höchste Fallsterblichkeit trat bei älteren Personen insbesondere in der Altersgruppe von über 80 Jahren auf. Besonders bei Personen mit Vorerkrankungen (Bluthochduck, Diabetes, Krebs etc.) wurden schwere Verläufe beobachtet. Kinder waren genauso gefährdet wie Erwachsene, sich anzustecken. Bei diesen wurden überwiegend milde Verläufe beobachtet. Das Risiko einer schweren Erkrankung im Zusammenhang mit einer COVID-19-Infektion für Menschen in der EU/im EWR und im Vereinigten Königreich wurde von dem ECDC für die allgemeine Bevölkerung als moderat und für ältere Erwachsene und Personen mit chronischen Grunderkrankungen als hoch angesehen. Darüber hinaus wurde das Risiko einer Überlastung der nationalen Gesundheitssysteme und das, mit der Übertragung von COVID-19 verbundene Risiko in Gesundheits- und Sozialeinrichtungen mit großen gefährdeten Bevölkerungsgruppen als hoch eingestuft.

 

Das Robert Koch-Institut (Berlin) nimmt – ausgehend von mehreren verschiedenen Studien – bei einer ungehinderten Verbreitung von SARS-CoV-2 eine Basisreproduktionszahl von zwischen 2,4 und 3,3 an. Das bedeutet, dass von einem Fall durchschnittlich 2,4 bis 3,3 Zweitinfektionen ausgehen. Das bedeutet aber auch, dass bei einer Basisreproduktionszahl von ca. 3 ungefähr zwei Drittel aller Übertragungen verhindert werden müssen, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen.

 

Angesichts dieser Datenlage und der Risikoabschätzung der damaligen epidemiologischen Situation und Risikobewertung sowie der erwarteten Entwicklungen wurden durch das ECDC sowie die Experten im Beraterstab der Taskforce Corona beim Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz insbesondere Maßnahmen im Bereich des 'social distancing' (Minimierung körperlicher Kontakte, zeitlich später auch als 'physical distacing' bezeichnet; zB durch Absagen von Veranstaltungen, Schließen von Schulen, Einstellen von nicht notwendigen zwischenmenschlichen Kontakten und von Reisetätigkeiten) als erforderlich angesehen, um das exponentielle Fortschreiten der Pandemie einzubremsen und die reale Gefahr einer Überlastung des österreichischen Gesundheitssystems aufgrund der großen Anzahl der Erkrankten einerseits und der Infizierung des medizinischen und die krankenpflegerischen Personals zu verhindern.

 

Um der schnellen Ausbreitung der Erkrankung effektiv entgegenzuwirken, war daher die Verbreitung des Virus durch eine deutliche Reduzierung der Anzahl der zwischenmenschlichen Kontakte und die Einhaltung eines Abstandes von mindestens einem Meter bei nicht vermeidbaren Kontakten einzubremsen, wobei dies aufgrund der bestehenden Ausbreitung von SARS-CoV-2 rasch, gleichzeitig und in ganz Österreich geschehen musste. Die Wirksamkeit von 'social distancing' ist nämlich am größten, wenn gleich zu Beginn der Pandemie eine deutliche Verminderung der Kontakte erfolgt.

 

[…] Aufgrund dieser Gefährdungsprognose war es geboten, entsprechende flächendeckende Maßnahmen zu treffen. Eine dramatische Reduktion der Sozialkontakte war das einzig taugliche Mittel zur Verhinderung der Ausbreitung von COVID-19 im Sinne des §1 COVID-19-Maßnahmengesetz. Die vom Antragsteller genannten gelinderen Mittel (wie Schutz der gefährdeten Personen, alter, kranker und immunschwacher Menschen) wären zur Erreichung des Ziels nicht geeignet gewesen: Die lange Inkubationszeit, der oft unbemerkte Verlauf bei unverminderter Überträgereigenschaft, die große Risikogruppe, schwere Verläufe auch bei vermeintlich Nicht-Risikogruppen, die exponentielle Verbreitung und die leichte Übertragbarkeit schlossen zum Zeitpunkt der Verordnungserlassung partielle Maßnahmen aus. Da COVID-19 nicht mehr auf einzelne Regionen beschränkt war, waren österreichweite Maßnahmen erforderlich. Nur eine drastische Reduktion der sozialen Kontakte in Form der erlassenen Betretungsverbote konnten im Zeitpunkt der Verordnungserlassung eine unkontrollierte Ausbreitung mit einer damit einhergehenden Überlastung des Gesundheitssystems verhindern […].

 

[…] Vor diesem Hintergrund normierte die Verordnung BGBl II Nr 96/2020 weitreichende Betretungsverbote für Betriebsstätten von Waren- und Dienstleistungsunternehmen auf der Grundlage des §1 COVID-19-Maßnahmengesetz. Gemäß §2 Abs1 der Verordnung BGBl II Nr 96/2020 waren vom allgemeinen Betretungsverbot Bereiche ausgenommen, die der Aufrechterhaltung der Grundversorgung dienen. §3 der Verordnung BGBl II Nr 96/2020 untersagte das Betreten von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe, wobei §3 Abs2 bis Abs5 (mit BGBl II Nr 130/2020 auch Abs6) Ausnahmen vorsah.

 

[…] Die gewählte Regelungstechnik eines zeitlich befristeten, umfassenden Verbots mit Ausnahmen gewährleistete dabei unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit (vgl §1 COVID-19-Maßnahmengesetz: 'soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist') eine kontinuierliche Überprüfung der Erforderlichkeit der Maßnahmen unter Berücksichtigung der epidemiologischen Entwicklungen und etwaiger neuer Erkenntnisse über die Krankheit: So wurde die Verordnung BGBl II Nr 96/2020 zunächst mit einer Woche befristet (§4 Abs3), mit der Verordnung BGBl II Nr 110/2020 wurde die Geltungsdauer unter Berücksichtigung des weiteren Infektionsanstiegs bis 13. April 2020 verlängert. Mit BGBl II Nr 151/2020 wurde die Befristung bis 30. April 2020 verlängert, wobei erste Lockerungen der Betretungsverbote (im Sinne weiterer Ausnahmen) mit 14. April 2020 erfolgten. Die jeweiligen Maßnahmen erfolgten unter ständiger Beobachtung der epidemiologischen Situation und ermöglichten eine stets angemessene, schrittweise Reaktion auf die tatsächlichen Verhältnisse. So konnte eine stete Abwägung der Gefahren für Leben und Gesundheit mit den entgegenstehenden Grundrechtspositionen vorgenommen werden, entsprechende Einschränkungen konnten auf das unbedingt erforderliche Maß reduziert werden.

 

[…] Nach Ansicht des BMSGPK steht die Erforderlichkeit der Erlassung der Verordnung außer Frage. Die behauptete Verletzung des §1 COVID-19-Maßnahmengesetz liegt nicht vor.

 

[…] Soweit der Antragsteller die Erforderlichkeit des Mund-Nasen-Schutzes bestreitet, ist zunächst festzuhalten, dass der Antragsteller seine Bedenken pauschal äußert und keiner konkreten Norm zuordnet […]. Soweit sich der Antragsteller damit auf §2 Abs5 und 6 der Verordnung BGBl II Nr 96/2020 idF BGBl II Nr 151/2020 bezieht, ist ihm folgendes entgegen zu halten:

 

Zum Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung BGBl II Nr 151/2020 lag eine klare wissenschaftliche Evidenz im Hinblick auf die Effektivität dieser Maßnahme (insbesondere im Sinne eines Fremdschutzes) als einer von mehreren Bausteinen des Infektionsschutzes vor (siehe dazu nur die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts in Beilage 1). Entsprechende Studien untermauern die Gefahr eines zweiten unkontrollierten Infektionsanstiegs bei schrittweiser Rücknahme der Betretungsverbote ohne diese Maßnahme (s dazu die entsprechenden Studien in Beilage 2).

 

Im Zuge der erforderlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung ist die Maßnahme des verpflichtenden Mund-Nasenschutzes auch in direkter Relation zur schrittweisen Rücknahme der Beschränkungen zu sehen: In dem Maß, in dem soziale Kontakte erhöht werden können, muss durch andere Maßnahmen sichergestellt sein, dass das Ziel der Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 nicht unterlaufen wird. Die Maßnahme stellt sich als geeignetes Mittel zur Zielerreichung dar (insbesondere wird die Verbreitung von COVID-19 auf Seiten potenzieller 'Ausscheider' vermindert) und ist verhältnismäßig: Das Gewicht des damit verfolgten Gesundheitsschutzes ist ungleich höher als der damit bewirkte Eingriff insbesondere in Art8 EMRK. Im Vergleich mit den sonstigen Alternativen der Kontaktreduktion stellt sich eine Verpflichtung zum Tragen von Mund-Nasenschutz als gelindestes Mittel dar. Auch diesbezüglich steht nach Ansicht des BMSGPK die Erforderlichkeit der Maßnahme und damit die gesetzliche Deckung der Verordnung BGBl II Nr 96/2020 außer Frage."

 

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

Der Antrag ist – teilweise – zulässig:

1.1. Gemäß Art139 Abs1 Z3 B‑VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Gesetzwidrigkeit von Verordnungen auf Antrag einer Person, die unmittelbar durch diese Gesetzwidrigkeit in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, wenn die Verordnung ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für diese Person wirksam geworden ist.

Wie der Verfassungsgerichtshof in seiner mit VfSlg 8058/1977 beginnenden ständigen Rechtsprechung ausgeführt hat, ist daher grundlegende Voraussetzung für die Antragslegitimation, dass die Verordnung in die Rechtssphäre der betroffenen Person unmittelbar eingreift und sie – im Fall ihrer Gesetzwidrigkeit – verletzt. Hiebei hat der Verfassungsgerichtshof vom Antragsvorbringen auszugehen und lediglich zu prüfen, ob die vom Antragsteller ins Treffen geführten Wirkungen solche sind, wie sie Art139 Abs1 Z3 B‑VG als Voraussetzung für die Antragslegitimation fordert (vgl zB VfSlg 8594/1979, 15.527/1999, 16.425/2002 und 16.426/2002).

1.2. Der Antragsteller hat es zwar unterlassen, die angefochtene Fassung der Bestimmungen, deren Aufhebung begehrt wird, hinreichend genau zu bezeichnen (zu dieser Anforderung bei Individualanträgen auf Prüfung einer Verordnung vgl VfGH 20.11.2014, V61/2013; 7.10.2015, G24/2013, V12/2013), er hat diese jedoch im Antrag wörtlich wiedergegeben, sodass – aus dem Zusammenhang – unzweifelhaft erkennbar ist, in welcher Fassung diese Bestimmungen angefochten werden sollen (vgl VfSlg 16.773/2002, 17.237/2004, 20.313/2019; VfGH 7.10.2015, G24/2013, V12/2013 uva.).

1.3. Nach §57 Abs1 VfGG muss der Antrag, eine Verordnung als gesetzwidrig aufzuheben, begehren, dass entweder die Verordnung ihrem ganzen Inhalte nach oder dass bestimmte Stellen der Verordnung als gesetzwidrig aufgehoben werden. Ein Antrag, der sich gegen den ganzen Inhalt einer Verordnung richtet, muss die Bedenken gegen die Gesetzmäßigkeit aller Bestimmungen der Verordnung "im Einzelnen" darlegen und insbesondere auch dartun, inwieweit alle angefochtenen Verordnungsregelungen unmittelbar und aktuell in die Rechtssphäre des Antragstellers eingreifen. Bei der Prüfung der aktuellen Betroffenheit hat der Verfassungsgerichtshof vom Antragsvorbringen auszugehen und lediglich zu untersuchen, ob die vom Antragsteller ins Treffen geführten Wirkungen solche sind, wie sie Art139 Abs1 Z3 B‑VG als Voraussetzung für die Antragslegitimation fordert (vgl zB VfSlg 10.353/1985, 14.277/1995, 15.306/1998, 16.890/2003, 18.357/2008, 19.919/2014, 19.971/2015). Anträge, die dem Erfordernis des §57 Abs1 VfGG nicht entsprechen, sind nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs (vgl VfSlg 14.320/1995, 14.526/1996, 15.977/2000, 18.235/2007) nicht im Sinne von §18 VfGG verbesserungsfähig, sondern als unzulässig zurückzuweisen (vgl etwa VfSlg 12.797/1991, 13.717/1994, 17.111/2004, 18.187/2007, 19.505/2011, 19.721/2012).

1.4. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass es nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes ist, aus den Ausführungen des Antragstellers zur behaupteten Rechtswidrigkeit der angefochtenen Verordnung weitere, für ihn günstige Gesichtspunkte zu suchen und zusammenzutragen, die seine aktuelle Betroffenheit stützen könnten, jedoch in seinen Ausführungen zu seiner aktuellen und unmittelbaren Betroffenheit in seiner Rechtssphäre nicht enthalten sind.

1.5. Der (Haupt-)Antrag auf Aufhebung der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, BGBl II 96/2020 idF BGBl II 162/2020, zur Gänze ist unzulässig:

Die angefochtene Verordnung enthält mehrere unterschiedliche, voneinander trennbare Verbotstatbestände. Der Antragsteller hat in seinem Antrag nicht dargetan, inwiefern er von sämtlichen Tatbeständen der angefochtenen Verordnung unmittelbar und aktuell betroffen ist, so etwa auch, inwiefern er im Antragszeitpunkt konkret beabsichtigt hat, einen Beherbergungsbetrieb zum Zweck der Erholung und Freizeitgestaltung (vgl §4 der angefochtenen Verordnung) zu betreten oder selbst zu betreiben (vgl etwa VfSlg 13.239/1992, 15.144/1998, 15.224/1998; VfGH 5.3.2014, V8/2014). Das Erfordernis solcher Darlegungen durch den Antragsteller besteht auch dann, wenn bestimmte Annahmen im Hinblick auf die sonst geschilderte Situation naheliegen mögen (vgl VfSlg 14.309/1995, 14.817/1997, 19.613/2011).

Da es sich bei diesem Mangel um kein behebbares Formgebrechen, sondern ein Prozesshindernis handelt (vgl §18 VfGG und die oben zitierte Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes), ist der (Haupt-)Antrag auf Aufhebung der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, BGBl II 96/2020 idF BGBl II 162/2020, zur Gänze schon aus diesem Grund als unzulässig zurückzuweisen.

1.6. Hingegen ist der Eventualantrag, soweit er sich auf §3 der angefochtenen Verordnung bezieht, zumal auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind (vgl zur Aktualität des Rechtseingriffs, obwohl die angefochtene Verordnung im Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes bereits außer Kraft getreten ist, ua VfGH 14.7.2020, V411/2020), zulässig. Im Übrigen ist der Eventualantrag mangels hinreichender Darlegung der aktuellen Betroffenheit des Antragstellers unzulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B‑VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

2.2. Der Antrag auf Aufhebung von §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 idF BGBl II 130/2020 ist begründet:

2.1.1. Der Antragsteller bringt auf das Wesentliche zusammengefasst unter anderem vor, im Hinblick auf die weitreichenden Grundrechtseingriffe seien vor der Verordnungserlassung verschiedene (näher dargelegte) Fragen zum Gefahrenpotential der COVID-19-Krankheit zu klären und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu prüfen. Bei wissenschaftlich fundierter und rechtlich gesicherter Beurteilung der Fakten "nach allumfassender Prüfung" hätte die bekämpfte Verordnung nicht erlassen werden dürfen.

2.1.2. Damit macht der Antragsteller geltend, dass die Voraussetzungen der Verordnungserlassung nach §1 COVID-19-Maßnahmengesetz nicht vorlägen bzw dass deren Vorliegen von der verordnungserlassenden Behörde nicht gehörig geprüft worden sei.

2.2. §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 idF BGBl II 130/2020 hat sich auf §1 COVID-19-Maßnahmengesetz gestützt. §1 COVID-19-Maßnahmengesetz ermächtigt den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz beim Auftreten von COVID-19 insbesondere dazu, durch Verordnung "das Betreten von Betriebsstätten oder nur bestimmten Betriebsstätten" zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen zu untersagen, "soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist. In der Verordnung kann geregelt werden, in welcher Zahl und zu welcher Zeit jene Betriebsstätten betreten werden dürfen, die vom Betretungsverbot ausgenommen sind. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen Betriebsstätten oder Arbeitsorte betreten werden dürfen."

Diese Verordnungsermächtigung determiniert den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz als verordnungserlassende Behörde in mehrfacher Hinsicht (VfGH 14.7.2020, V411/2020):

2.2.1. Das COVID-19-Maßnahmengesetz ist eine Reaktion des Gesetzgebers auf eine krisenhafte Situation durch das Auftreten des Coronavirus SARS-CoV-2 und die dadurch ausgelöste Coronavirus-Krankheit COVID-19. Betretungsverbote für Betriebsstätten nach §1 COVID-19-Maßnahmengesetz haben – gemeinsam mit einer Reihe weiterer staatlicher Maßnahmen in unterschiedlichen Rechtsformen und auf unterschiedlichen Ebenen – den Gesundheitsschutz durch Schutz der Funktionsfähigkeit der Gesundheitsinfrastruktur zum Ziel.

Krisenhafte Situationen wie die vorliegende sind dadurch gekennzeichnet, dass staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Ursache, Auswirkungen und Verbreitung der Krankheit unter erheblichem Zeitdruck und insofern unter Unsicherheitsbedingungen getroffen werden müssen, als Wissen darüber zu einem großen Teil erst nach und nach gewonnen werden kann und Auswirkungen wie Verbreitung von COVID-19 notwendig einer Prognose unterliegen.

Auch in solchen Situationen leitet, wie sonst, die Bundesverfassung Gesetzgebung und Verwaltung bei Maßnahmen zu ihrer Bewältigung insbesondere durch das Legalitätsprinzip des Art18 B‑VG sowie die durch ein System verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte gebildete Grundrechtsordnung. Das Legalitätsprinzip stellt Anforderungen an die gesetzliche Bindung der Verwaltung bei ihren Maßnahmen zur Krisenbekämpfung. Die Grundrechtsordnung gewährleistet, dass in den notwendigen Abwägungsprozessen mit öffentlichen Interessen die in einer liberalen Verfassungsordnung wesentlichen Interessen des Einzelnen berücksichtigt und die beteiligten Interessen angemessen ausgeglichen werden, auch wenn, wie in der vorliegenden Situation, die öffentlichen Interessen auf grundrechtlich geschützten Interessen basieren, die den Staat auch zum Handeln verpflichten.

2.2.2. Nach Art18 Abs2 B‑VG kann der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber Abwägungs- und Prognosespielräume einräumen und, solange die wesentlichen Zielsetzungen, die das Verwaltungshandeln leiten sollen, der Verordnungsermächtigung in ihrem Gesamtzusammenhang mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sind, die situationsbezogene Konkretisierung des Gesetzes dem Verordnungsgeber überlassen (vgl VfSlg 15.765/2000). Es kommt auf die zu regelnde Sache und den Regelungszusammenhang an, welche Determinierungsanforderungen die Verfassung an den Gesetzgeber stellt (VfSlg 19.899/2014 mwN). In diesem Zusammenhang hat der Verfassungsgerichtshof auch mehrfach ausgesprochen, dass der Grundsatz der Vorherbestimmung verwaltungsbehördlichen Handelns nicht in Fällen überspannt werden darf, in denen ein rascher Zugriff und die Berücksichtigung vielfältiger örtlicher und zeitlicher Verschiedenheiten für eine sinnvolle und wirksame Regelung wesensnotwendig sind, womit auch eine zweckbezogene Determinierung des Verordnungsgebers durch unbestimmte Gesetzesbegriffe und generalklauselartige Regelungen zulässig ist (vgl VfSlg 17.348/2004 mwN). Dabei hat der Verfassungsgerichtshof auch darauf hingewiesen, dass in einschlägigen Konstellationen der Normzweck auch gebieten kann, dass eine zum Zeitpunkt ihrer Erlassung dringend erforderliche – unter Umständen unter erleichterten Voraussetzungen zustande gekommene – Maßnahme dann rechtswidrig wird und aufzuheben ist, wenn der Grund für die Erlassung fortfällt (siehe VfSlg 15.765/2000).

Überlässt der Gesetzgeber im Hinblick auf bestimmte tatsächliche Entwicklungen dem Verordnungsgeber die Entscheidung, welche aus einer Reihe möglicher, unterschiedlich weit gehender, aber jeweils Grundrechte auch intensiv einschränkender Maßnahmen er seiner Prognose zufolge und in Abwägung der betroffenen Interessen für erforderlich hält, hat der Verordnungsgeber seine Entscheidung auf dem in der konkreten Situation zeitlich und sachlich möglichen (vgl VfSlg 15.765/2000) und zumutbaren Informationsstand über die relevanten Umstände, auf die das Gesetz maßgeblich abstellt, und nach Durchführung der gebotenen Interessenabwägung zu treffen. Dabei muss er diese Umstände ermitteln und dies im Verordnungserlassungsverfahren entsprechend festhalten, um eine Überprüfung der Gesetzmäßigkeit der Verordnung zu gewährleisten (darauf hat der Verfassungsgerichtshof bereits in mehrfachem Zusammenhang abgestellt, vgl VfSlg 11.972/1989, 17.161/2004, 20.095/2016). Determiniert das Gesetz die Verordnung inhaltlich nicht so, dass der Verordnungsinhalt im Wesentlichen aus dem Gesetz folgt, sondern öffnet er die Spielräume für die Verwaltung so weit, dass ganz unterschiedliche Verordnungsinhalte aus dem Gesetz folgen können, muss der Verordnungsgeber die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände entsprechend ermitteln und dies im Verordnungserlassungsverfahren auch nachvollziehbar festhalten, sodass nachgeprüft werden kann, ob die konkrete Verordnungsregelung dem Gesetz in der konkreten Situation entspricht (das ist der Kern der Judikatur, derzufolge das Gesetz in einem Ausmaß bestimmt sein muss, "daß jeglicher Vollziehungsakt am Gesetz auf seine Rechtmäßigkeit hin gemessen werden kann", siehe zB VfSlg 12.133/1989). Insofern unterscheiden sich demokratische Gesetzgebung und generell abstrakte Rechtssetzung durch die Verwaltung im Wege von Verordnungen nach Art18 Abs2 B‑VG. Die Determinierungswirkungen und damit die rechtsstaatliche und demokratische Bestimmung des Verordnungsgebers durch Art18 Abs2 B‑VG zielen auf eine entsprechende Bindung bei der konkreten Verordnungserlassung ab.

2.2.3. Vor diesem Hintergrund hegt der Verfassungsgerichtshof angesichts des Anlasses und Kontextes, in dem der Gesetzgeber diese Regelung getroffen hat, keine Bedenken gegen §1 COVID-19-Maßnahmengesetz (vgl näher VfGH 14.7.2020, V411/2020).

Aus dem Regelungszusammenhang insbesondere mit §2 COVID-19-Maßnahmengesetz geht die grundsätzliche Zielsetzung des Gesetzgebers hervor, durch Betretungsverbote für Betriebsstätten die persönlichen Kontakte von Menschen einzudämmen, die damit verbunden sind, wenn Menschen die Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen aufsuchen. Damit gibt das Gesetz den Zweck der Betretungsverbote konkret vor. Weiters ordnet das Gesetz an, dass der Verordnungsgeber diese Betretungsverbote im Hinblick auf den Zweck der Maßnahme nach Art und Ausmaß differenziert auszugestalten hat, je nachdem, inwieweit er es in einer Gesamtabwägung zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 für erforderlich hält, das Betreten von Betriebsstätten oder nur von bestimmten Betriebsstätten zu untersagen oder deren Betreten unter bestimmte Voraussetzungen oder Auflagen zu stellen. Damit überträgt der Gesetzgeber dem Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz einen Einschätzungs- und Prognosespielraum, ob und wieweit er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 auch erhebliche Grundrechtsbeschränkungen für erforderlich hält, womit der Verordnungsgeber seine Entscheidung als Ergebnis einer Abwägung mit den einschlägigen grundrechtlich geschützten Interessen der betroffenen Unternehmen zu treffen hat. Der Verordnungsgeber muss also in Ansehung des Standes und der Ausbreitung von COVID-19 notwendig prognosehaft beurteilen, inwieweit in Aussicht genommene Betretungsverbote oder Betretungsbeschränkungen von Betriebsstätten zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 geeignete (der Zielerreichung dienliche) erforderliche (gegenläufige Interessen weniger beschränkend und zugleich weniger effektiv nicht mögliche) und insgesamt angemessene (nicht hinnehmbare Grundrechtseinschränkungen ausschließende) Maßnahmen darstellen.

Der Einschätzungs- und Prognosespielraum des Verordnungsgebers umfasst insoweit auch die zeitliche Dimension dahingehend, dass ein schrittweises, nicht vollständig abschätzbare Auswirkungen beobachtendes und entsprechend wiederum durch neue Maßnahmen reagierendes Vorgehen von der gesetzlichen Ermächtigung des §1 COVID-19-Maßnahmengesetz vorgesehen und auch gefordert ist.

Angesichts der damit inhaltlich weitreichenden Ermächtigung des Verordnungsgebers verpflichtet §1 COVID-19-Maßnahmengesetz vor dem Hintergrund des Art18 Abs2 B‑VG den Verordnungsgeber im einschlägigen Zusammenhang auch, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen naturgemäß nicht überspannt werden, sie bestimmen sich maßgeblich danach, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist. Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu.

All dies hat der Verfassungsgerichtshof bei seiner Prüfung, ob der Bundesminister den gesetzlichen Vorgaben bei Erlassung der angefochtenen Bestimmung des §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 entsprochen hat, zu berücksichtigen. Damit ist für die Beurteilung des Verfassungsgerichtshofes insoweit der Zeitpunkt der Erlassung der entsprechenden Verordnungsbestimmungen und die diesen zugrunde liegende aktenmäßige Dokumentation maßgeblich.

Dass es damit dafür, ob die angefochtenen Verordnungsbestimmungen mit den Zielsetzungen des §1 COVID-19-Maßnahmengesetz im Einklang stehen, auch auf die Einhaltung bestimmter Anforderungen der aktenmäßigen Dokumentation im Verfahren der Verordnungserlassung ankommt, ist kein Selbstzweck. Auch in Situationen, die deswegen krisenhaft sind, weil für ihre Bewältigung entsprechende Routinen fehlen, und in denen der Verwaltung zur Abwehr der Gefahr gesetzlich erhebliche Spielräume eingeräumt sind, kommt solchen Anforderungen eine wichtige, die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns sichernde Funktion zu.

2.2.4. Die Abs1 bis 5 des §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 waren bereits in der Stammfassung dieser Verordnung enthalten und galten unverändert bis zum Außerkrafttreten der Verordnung mit 1. Mai 2020. Die Novelle BGBl II 130/2020 fügte §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 mit Wirkung vom 3. April 2020 einen weiteren Absatz 6 über die Abholung vorbestellter Speisen an; auch diese Bestimmung galt anschließend unverändert bis zum Außerkrafttreten der Verordnung mit 1. Mai 2020.

2.2.5. Als Grundlagen finden sich in den – vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz in den zu den Zahlen V350‑354/2020 (G181/2020) geführten Verordnungsprüfungsverfahren vorgelegten und ausdrücklich auch für das vorliegende Verfahren für maßgeblich erklärten – Verordnungsakten nachstehende Unterlagen und Angaben:

In dem vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz vorgelegten Verwaltungsakt, der der Erlassung der (Stammfassung der) COVID-19-Maßnahmenverordnung-96, BGBl II 96/2020 vom 15. März 2020, zugrunde liegt, wird unter der Rubrik "Sachverhalt" ausgeführt: "Die BReg hat auf Grund der aktuellen Situ[at]ion beschlossen, das Betreten von Geschäften ab MO 16.3. (mit Ausnahmen) zu verbieten, und den Betrieb von GastroUnternehmen mit 17.3.2020". Darüber hinaus finden sich in diesem Verwaltungsakt keine weiteren, im Hinblick auf die gesetzliche Grundlage des §1 COVID-19-Maßnahmengesetz relevanten Ausführungen oder Unterlagen.

In dem vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz vorgelegten Verwaltungsakt, der der Änderung der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 mit der Verordnung BGBl II 130/2020 (vom 2. April 2020) zugrunde liegt, finden sich zunächst Mail-Korrespondenzen von Bediensteten des Ministeriums, die – soweit sie sich auf §3 Abs6 der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 beziehen – auf das Wesentliche zusammengefasst folgenden Inhalt haben: Es komme immer öfter zu Anfragen, ob die "Lieferung" von Speisen auf einen Parkplatz in der Nähe des Gastgewerbebetriebes oder eine Übergabe in das vor dem Gastgewerbebetrieb wartende Auto eine unzulässige Abholung oder als zulässiges "Lieferservice" im Sinne von §3 Abs5 der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 zu bewerten seien. Dies sei fraglich. Es solle – "falls dies politisch überhaupt gewollt ist" – ein Lösungsvorschlag erarbeitet werden, um die Abholung von Speisen zu ermöglichen. Durch die Einschränkung auf vorbestellte Speisen werde sichergestellt, dass eine Bestellung vor Ort ausgeschlossen ist und "die Konsumation nicht vor Ort erfolgt (kein Hotspot an Würstelständen, Eisdielen etc.)."

In der Folge enthält der Verordnungsakt unter der Rubrik "Sachverhalt" und dem Betreff "Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, mit der die Verordnung betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 geändert wird (Hotels)" folgenden Eintrag:

"Zu lesen die VO des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, mit der die Verordnung betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 geändert wird.

 

Die Novellierung umfasst:

1. Ermöglichung der Abholung von Speisen

2. Untersagung des Betretens von Beherbergungsbetrieben zum Zweck der Erholung und Freizeitgestaltung (touristische Zwecke)

 

Vorliegender Entwurf wurde auch mit dem BMLRT […] abgestimmt.

 

Die VO wäre nunmehr vom HBM zu genehmigen und anschließend der Kundmachung zuzuleiten."

 

Daran schließt sich ein undatierter Entwurf für die Verordnung zur Änderung der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96, der vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz unterfertigte Verordnungstext sowie der kundgemachte Verordnungstext an.

Auf den Stand oder mögliche Entwicklungsszenarien von COVID-19 bezugnehmende und die (in Aussicht genommenen) Maßnahmen dazu und zu den sonstigen zu berücksichtigenden Interessen in Beziehung setzende Unterlagen oder Angaben finden sich nicht.

2.2.6. Damit genügt die angefochtene Bestimmung des §3 COVID‑19‑Maßnahmenverordnung-96 idF BGBl II 130/2020 den Vorgaben des §1 COVID‑19‑Maßnahmengesetz schon aus diesem Grund nicht:

Die Entscheidungsgrundlagen, die im Verordnungsakt zur COVID‑19‑Maßnahmenverordnung-96 in der Stammfassung BGBl II 96/2020 bzw insbesondere zur Novelle BGBl II 130/2020 dokumentiert sind, reichen nicht aus, um den aus §1 COVID‑19-Maßnahmengesetz folgenden Anforderungen an die Dokumentation einer auf diese Gesetzesbestimmung gestützten Verordnung im Hinblick auf §3 COVID‑19-Maßnahmenverordnung‑96 idF BGBl II 130/2020 Rechnung zu tragen (vgl dazu VfGH 14.7.2020, V411/2020): Es ist aus den Verordnungsakten nicht ersichtlich, welche Umstände im Hinblick auf welche möglichen Entwicklungen von COVID-19 den Verordnungsgeber bei seiner Entscheidung zur Beibehaltung des Verbotes des Betretens von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe durch die Verordnungsnovelle BGBl II 130/2020 geleitet haben.

2.2.7. §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 in der Fassung BGBl II 130/2020 verstößt somit gegen §1 COVID-19-Maßnahmengesetz, weil es der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen hat, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit dieser Regelung getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat.

2.2.8. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich eine weitere Prüfung, ob die angefochtene Bestimmung auch aus anderen Gründen gesetz- oder verfassungswidrig war.

2.2.9. Da §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 durch §13 Abs2 Z1 COVID-19-Lockerungsverordnung, BGBl II 197/2020, mit Ablauf des 30. April 2020 aufgehoben wurde, ist daher festzustellen, dass §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 in der Fassung BGBl II 130/2020 gesetzwidrig war. Damit wird nicht darüber abgesprochen, ob §3 COVID‑19-Maßnahmenverordnung‑96 idF vor BGBl II 130/2020, das heißt vor dem 3. April 2020, gesetzwidrig war.

V. Ergebnis

1. §3 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 ist durch §13 Abs2 Z1 COVID-19-Lockerungsverordnung, BGBl II 197/2020, mit Ablauf des 30. April 2020 außer Kraft getreten. Der Verfassungsgerichtshof hat sich daher gemäß Art139 Abs4 B‑VG auf die Feststellung zu beschränken, dass §3 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 idF BGBl II 130/2020 gesetzwidrig war.

Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.

2. Der Ausspruch, dass §3 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 idF BGBl II 130/2020 nicht mehr anzuwenden ist, stützt sich auf Art139 Abs6 zweiter Satz B‑VG.

3. Die Verpflichtung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zur unverzüglichen Kundmachung der Aussprüche erfließt aus Art139 Abs5 zweiter Satz B‑VG iVm §4 Abs1 Z4 BGBlG.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §61a VfGG. Da der Antragsteller nur mit einem von drei Begehren obsiegt hat, war ihm bloß ein Drittel des Pauschalsatzes zuzusprechen (VfSlg 16.772/2002). In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 145,33 sowie der Ersatz der Eingabengebühr in Höhe von € 240,– enthalten.

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