OGH 11Os6/24b

OGH11Os6/24b12.3.2024

Der Oberste Gerichtshof hat am 12. März 2024 durch dieVizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Mag. Fürnkranz und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und Mag. Riffel in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Drach als Schriftführerin in der Strafsache gegen W* W* wegen des Verbrechens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, Abs 3a Z 1, Abs 4 zweiter Fall StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Schöffengericht vom 13. November 2023, GZ 38 Hv 60/23y-29.3, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0110OS00006.24B.0312.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das sonst unberührt bleibt, im Schuldspruch, soweit er vor dem 5. April 2023 begangene Taten umfasst, ferner in der rechtlichen Unterstellung nach § 107b Abs 4 zweiter Fall StGB sowie in der zum Schuldspruch gebildeten Subsumtionseinheit, demzufolge im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung) aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Krems an der Donau verwiesen.

Die Nichtigkeitsbeschwerde im Übrigen wird zurückgewiesen.

Mit ihren Berufungen werden der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf die kassatorische Entscheidung verwiesen.

Dem Angeklagten fallen die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde W* W* des Verbrechens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, Abs 3a Z 1, Abs 4 zweiter Fall StGB schuldig erkannt.

[2] Danach hat er in der Zeit von Sommer 2018 bis 25. Juli 2023, somit länger als ein Jahr, gegen seine wegen ihrer Erkrankung an Multipler Sklerose wehrlose Ehefrau H* W* durch fortlaufende körperliche Misshandlungen, Körperverletzungen und gefährliche Drohungen eine längere Zeit hindurch fortgesetzt Gewalt ausgeübt, indem er sie regelmäßig auf den Kopf schlug, ihr zumindest dreimal im Jahr heftige Schläge gegen den Oberkörper versetzte, wodurch sie Blutergüsse am Hals und an den Armen erlitt, ferner indem er (konkretisiert) ihr am 5. April 2023 mit der Faust auf das durch ihre Multiple-Sklerose-Erkrankung bereits beeinträchtigte rechte Bein schlug (Zerrung des rechten Knies), am 28. Mai 2023 eine wuchtige Ohrfeige versetzte (Hämatom am linken Auge), am 17. Juli 2023 gegen den Oberkörper schlug (Hämatom an der rechten Schulter), am 23. Juli 2023 zweimal kräftig auf den linken Unterschenkel schlug sowie ihr am 25. Juli 2023 einen Faustschlag gegen den Oberkörper versetzte (Hämatom am linken Oberarm) und sie im Anschluss zweimal – einmal unmittelbar, einmal per Telefon – durch die Ankündigung, sie zu erschlagen bzw sie umzubringen, gefährlich mit dem Tod bedrohte, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 5, 5a, 8, 9 lit b und 10 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.

Zum berechtigten Teil:

[4] Den für die Subsumtion maßgeblichen (RIS‑Justiz RS0115552 [T2]) Feststellungen in den Entscheidungsgründen zum Zeitraum von Sommer 2018 bis Anfang April 2023 (vor dem 5. April 2023) lassen sich mit Bestimmtheit (vgl RIS-Justiz RS0099575 [T6]; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 570) zumindest drei körperliche Misshandlungen pro Jahr im Abstand von jeweils höchstens sechs Monaten zueinander entnehmen, die jeweils zu einer leichten Verletzung im Sinn des § 83 Abs 1 StGB (Blutergüsse an Hals oder Armen) führten (US 4).

[5] Zutreffend zeigt die Subsumtionsrüge (Z 10) auf, dass diese Feststellungsbasis zu Frequenz und Schwere der Misshandlungen im bezeichneten Zeitraum bei der gebotenen einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung das Kriterium „fortgesetzter“ Gewaltausübung im Sinn des § 107b Abs 1 StGB nicht erfüllt (vgl RIS-Justiz RS0127377, RS0129716 [T1, T2]; Schwaighofer in WK² StGB § 107b Rz 23; Winkler, SbgK § 107b Rz 109 ff). Da der nach den weiteren (hingegen rechtsrichtig § 107b Abs 1, Abs 3a Z 1 StGB subsumierten) Tatsachenfeststellungen verbleibende Tatzeitraum (5. April 2023 bis 25. Juli 2023) – für sich genommen – ein Jahr nicht übersteigt, trägt der Urteilssachverhalt die Qualifikation nach § 107b Abs 4 zweiter Fall StGB somit insgesamt nicht.

[6] Dieser Rechtsfehler mangels Feststellungen führte bereits bei der nichtöffentlichen Beratung zur Aufhebung des Urteils wie aus dem Spruch ersichtlich und zur Verweisung an das Erstgericht zu neuer Verhandlung und Entscheidung in diesem Umfang (§ 285e StPO).

[7] Abhängig von der im zweiten Rechtsgang geschaffenen Feststellungsbasis zu Frequenz, Schwere und den weiteren (auch subjektiven) „Fortsetzungsmerkmalen“ (vgl Ratz in WK² StGB Vor §§ 28–31 Rz 82) betreffend die vom Anklagevorwurf umfassten „Gewaltausübungen“ (vgl § 107b Abs 2 StGB) im Zeitraum von Sommer 2018 bis vor dem 5. April 2023 könnten (unter anderem) in Betracht kommen (instruktiv 11 Os 76/21t [Rz 9] SSt 2021/38)

 die Einbeziehung dieser Verhaltensweisen als (mit den vom bestandskräftigen Schuldspruch umfassten im „Fortsetzungszusammenhang“ stehende) selbständige Einzeltaten in die neu zu bildende Subsumtionseinheit (vgl RIS-Justiz RS0116734 [insb T1]), die (nur) dann, wenn die solcherart fortgesetzte Gewaltausübung gegen eine im Sinn des Abs 3a Z 1 wehrlose Person insgesamt die Dauer eines Jahres überstiegen hat, die Qualifikation nach § 107b Abs 4 zweiter Fall StGB zu umfassen hätte, oder

– die Subsumtion dieser Verhaltensweisen als mit dem bestandskräftigen Schuldspruch nach § 107b Abs 1, Abs 3a Z 1 StGB real konkurrierende strafbare Handlungen (etwa Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 oder 2 StGB).

[8] Der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft waren mit ihren Berufungen auf die Aufhebung des Strafausspruchs zu verweisen.

Zum nicht berechtigten Teil:

[9] Soweit sich das Rechtsmittel auch unter anderen Aspekten auf die kassierte Qualifikation (inhaltlich auf den Zeitraum von Sommer 2018 bis zum Zeitpunkt vor der ersten konkretisierten Tathandlung am 5. April 2023) bezieht, erübrigt es sich, darauf einzugehen.

[10] Der anhand einer isoliert herausgegriffenen Urteilspassage (US 5) Undeutlichkeit der Feststellungen zur Wehrlosigkeit reklamierenden Mängelrüge (Z 5 erster Fall) zuwider wurde in der Gesamtheit der Entscheidungsgründe deutlich und bestimmt konstatiert (RIS-Justiz RS0117995; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 419), dass sich das Opfer aufgrund seines (näher beschriebenen) Gesundheitszustands den Gewalttaten des Beschwerdeführers nicht entziehen und diese auch nicht abwehren konnte (US 3).

[11] Dem dazu erhobenen Einwand aus Z 5 dritter Fall ist zu erwidern, dass die im Urteil enthaltenen Formulierungen „nicht in der Lage sich zu wehren“ (US 4), „nicht möglich, sich … entsprechend zu verteidigen“ (US 3) und „nur unzureichend gegen ihn wehren kann“ (US 5) keineswegs im logischen Widerspruch zueinander stehen (RIS-Justiz RS0099651), sondern im Verwendungskontext dieselbe Bedeutung – die Bejahung krankheitsbedingter Wehrlosigkeit des Opfers durch die Tatrichter – zum Ausdruck bringen.

[12] Entgegen der weiteren Mängelrüge (Z 5 vierter Fall) ist die Begründung der Feststellungen zur Wehrlosigkeit mit den Aussagen des Opfers und weiterer Zeugen zu dessen Gesundheitszustand und den daraus resultierenden Einschränkungen der körperlichen Fähigkeiten (US 3, 7) nicht offenbar unzureichend (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 445).

[13] Ferner leiteten die Tatrichter die Feststellungen zum Vorsatz auf fortgesetzte Gewaltausübung zulässig (RIS‑Justiz RS0116882, RS0098671) aus dem objektiven Tatgeschehen ab (US 8 f), ohne dabei gegen Regeln der Logik oder grundlegende Erfahrungssätze zu verstoßen (RIS-Justiz RS0116732, RS0099413). Die bloße Verwendung des Wortes „naturgemäß“ (US 8) stellt im Hinblick darauf keine Scheinbegründung dar (vgl RIS-Justiz RS0099494 [T3, T5, T6]).

[14] Soweit sich der Rechtsmittelwerber gegen Urteilsaussagen zu Einschränkungen der Lebensführung des Opfers (US 6 f) wendet (Z 5 vierter Fall, Z 5a, Z 8), fehlt ihm – mangels Subsumtion unter einen darauf abstellenden Tatbestand – die Beschwer (vgl RIS-Justiz RS0118585).

[15] Die Rechtsrüge (Z 9 lit b) macht nicht klar, warum die den Verdacht einer anderen Tat in einem anderen Zeitraum gegen eine andere Person (ON 13.2, 3) umfassende Verfahrenseinstellung nach § 190 Z 2 StPO (ON 1.19) Sperrwirkung hinsichtlich der gleichzeitig angeklagten Tat zum Nachteil der H* W* begründen sollte (zur Reichweite der Sperrwirkung einer Verfahrenseinstellung vgl Nordmeyer, WK-StPO § 190 Rz 17 f, 25).

[16] Die weitere (nicht bereits eingangs erledigte) Subsumtionsrüge (Z 10) wendet sich gegen die Bejahung des Qualifikationsmerkmals der Wehrlosigkeit wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit nach § 107b Abs 3a Z 1 StGB. Sie führt dazu primär oberstgerichtliche Entscheidungen zum seinerzeitigen Begriff der Widerstandsunfähigkeit (zB in § 205 StGB idF vor StRÄG 2004, BGBl I 2004/15) ins Treffen und interpretiert diese dahin, dass Wehrlosigkeit nahezu einem Ausschluss der geistigen und körperlichen Handlungsfähigkeit gleichkommen und einer extremen Lage der Hilflosigkeit entsprechen müsse.

[17] Allerdings wird nicht erklärt (RIS-Justiz RS0118416), warum Wehrlosigkeit nur bei Hilflosigkeit, nicht aber auch bei schlichter Unmöglichkeit, Aussichtslosigkeit oder Unzumutbarkeit einer Verteidigung vorliegen sollte (vgl RIS-Justiz RS0095322; zur Unterscheidung der Begriffe Wehr- und Hilflosigkeit vgl Jerabek/Ropper in WK² StGB § 92 Rz 7).

[18] Solcherart wird nicht prozessförmig dargelegt (RIS-Justiz RS0116565), warum die getroffenen Feststellungen (vgl US 3, wonach es dem Opfer aufgrund des durch Multiple Sklerose beeinträchtigten körperlichen Zustands unmöglich war, sich ohne Hilfe zu erheben, zu entfernen oder gegen die Gewalthandlungen zu verteidigen, weshalb es diesen ausgeliefert war und sich diesen nicht entziehen konnte) die Bejahung der krankheits- oder gebrechlichkeitsbedingten Wehrlosigkeit nicht tragen sollten (Schwaighofer in WK² StGB § 107b Rz 38/4).

[19] Indem die Rüge nicht unter Zugrundelegung aller getroffenen Konstatierungen verdeutlicht, warum es für die Bejahung oder Verneinung von Wehrlosigkeit im bezeichneten Sinn zusätzlich der expliziten Feststellung des Alters oder bestimmter Tätigkeiten des Opfers im Haushalt oder in der Arbeit bedurft hätte, werden auch Feststellungsmängel nicht prozessordnungskonform geltend gemacht (vgl RIS-Justiz RS0118580, RS0099730; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 600 ff).

[20] Soweit aus Z 10 der Wegfall der Qualifikation nach Abs 3 des § 107b StGB angestrebt wird, bleibt zu bemerken, dass eine solche Subsumtion nicht erfolgte.

[21] In diesem Umfang war die Nichtigkeitsbeschwerde – insoweit in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d StPO).

[22] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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