OGH 8ObA6/24a

OGH8ObA6/24a22.3.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Tarmann‑Prentner als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Matzka und Dr. Stefula und die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Bernhard Gruber (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Arnaud Berthou (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Ing. M*, BEd, *, vertreten durch Dr. Peter Resch, Rechtsanwalt in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Land *, vertreten durch Mag. Thomas Reisch, Rechtsanwalt in Wien, wegen Feststellung des aufrechten Dienstverhältnisses, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 19. Dezember 2023, GZ 7 Ra 64/23t‑34, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:008OBA00006.24A.0322.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1.1. Der – insgesamt auch für Dienstverhältnisse nach dem VBG wie hier geltende (RS0028543) – Grundsatz der Unverzüglichkeit der Entlassung besagt, dass der Arbeitgeber – bei sonstigem Verlust des Entlassungsrechts – die Entlassung ohne Verzug, das heißt sofort nachdem ihm der Entlassungsgrund bekannt geworden ist, aussprechen muss (RS0029131 [T8, T9]; RS0028965). Die Unterlassung der sofortigen Geltendmachung eines Entlassungsgrundes führt zur Verwirkung des Entlassungsrechts, wenn das Zögern nicht in der Sachlage begründet war (vgl RS0031571). Diesem Grundsatz liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Arbeitgeber, der eine ihm bekannt gewordene Verfehlung des Arbeitnehmers nicht unverzüglich mit der Entlassung beantwortet, die Weiterbeschäftigung dieses Arbeitnehmers offenbar nicht als unzumutbar ansieht und auf die Ausübung des Entlassungsrechts im konkreten Fall verzichtet (RS0031799 [T12]; RS0029249 [T2]; 8 ObA 40/23z [Rz 3]).

[2] 1.2. Der Unverzüglichkeitsgrundsatz darf jedoch nicht überspannt werden (vgl RS0029273 [T16]; RS0031587 [T1]). Entscheidend ist vor allem der Verständnishorizont des betroffenen Dienstnehmers (vgl RS0029267): Für diesen muss das Verhalten des Dienstgebers gerechtfertigten Grund zur Annahme geben, dieser verzichte auf die Geltendmachung der Entlassungsgründe; dies trifft regelmäßig dann nicht zu, wenn das Zögern sachlich begründet ist und der Dienstgeber durch sein Verhalten nicht den Eindruck erweckt, er werde den Entlassungsgrund nicht wahrnehmen (RS0031799 [T25, T27]). In der Regel liegt kein (konkludenter) Verzicht auf die Geltendmachung von Kündigungs‑ oder Entlassungsgründen vor, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer in unmissverständlicher Weise, zum Beispiel durch eine Suspendierung bis zur Klärung der tatsächlichen oder rechtlichen Lage, zeigt, dass er aus dem Verhalten des Arbeitnehmers Konsequenzen ziehen werde und eine Weiterbeschäftigung als unzumutbar ansehe; solche vorläufigen Maßnahmen können daher die Annahme eines Verzichts verhindern (vgl RS0028987; RS0031587 [T13]).

[3] 1.3. Ein Beendigungsgrund gilt als bekannt geworden, sobald der Auflösungsberechtigte über alle Einzelheiten Bescheid weiß, die er für eine fundierte Entscheidung benötigt. Bei einem zweifelhaften Sachverhalt muss der Arbeitgeber die zu seiner Klärung erforderlichen und zumutbaren Erhebungen ohne Verzögerung durchführen, will er nicht sein Entlassungsrecht verlieren. Diese Obliegenheit zur Nachforschung besteht dann, wenn dem Arbeitgeber konkrete Umstände zur Kenntnis gelangt sind, die die Annahme rechtfertigen, dass das Verhalten des Dienstnehmers eine Entlassung rechtfertigt (vgl RS0029345).

[4] Der Kenntniserlangung durch den Arbeitgeber ist zwar grundsätzlich die Kenntnisnahme durch seinen Stellvertreter oder durch einen ganz oder teilweise mit Personalagenden befassten leitenden Angestellten gleichzuhalten, wenn dieser dem Arbeitgeber oder seinem Stellvertreter von dem Entlassungsgrund nicht unverzüglich berichtet hat (RS0029321 [T4]). Bei juristischen Personen öffentlichen Rechts kommt es hingegen auf die Kenntnisnahme durch das Organ an, das die Entlassung zu beschließen hat; (selbst) die Kenntnis einzelner Mitglieder dieses Organs genügt nicht (RS0021588; RS0114477; RS0029273). Zudem ist bei der Beurteilung der Rechtzeitigkeit einer Entlassung oder Kündigung durch juristische Personen allgemein darauf Bedacht zu nehmen, dass die Willensbildung in der Regel umständlicher ist als bei physischen Personen. Insbesondere sind bei Gebietskörperschaften und sonstigen juristischen Personen der Aktenlauf, die Kompetenzverteilung und andere Umstände dieser Art entsprechend zu berücksichtigen (RS0082158). Dadurch bedingte Verzögerungen ebenso wie eine Verzögerung, die sich aus der Notwendigkeit der vorherigen Befassung der Personalvertretung ergibt, sind daher anzuerkennen (RS0028543 [T6], RS0029328 [insb T9, T10]; vgl auch RS0031789).

[5] 1.4. Die Frage, ob dem Erfordernis der Unverzüglichkeit des Ausspruchs der Entlassung entsprochen wurde, hängt immer von den Umständen des Einzelfalls ab und begründet regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO (vgl RS0031571 [insb T12]).

[6] 2. Hier hat die Schuldirektorin das später als Entlassungsgrund angezogene, an einem Freitagmorgen gesetzte Verhalten des Klägers am nachfolgenden Montag der örtlich zuständigen Bildungsdirektion weitergemeldet;Letzterer obliegt als durch Gesetz bestimmte nachgeordnete Personalstelle (§ 3 Abs 4 BD‑EG [= Art 7 Bildungsreformgesetz 2017, BGBl I 2017/138]) im Sinne des § 2e VBG die Wahrnehmung der Dienstgeberzuständigkeit über den Kläger als Berufsschullehrer.

[7] Die Bildungsdirektion ließ nach den Feststellungen jedoch „ca eine Woche oder zehn Tage“ verstreichen, bevor sie die Direktorin aufforderte, schriftliche Stellungnahmen von den beim Vorfall anwesenden Personen einzuholen. Zehn Tage nach dem Vorfall verfasste die Bildungsdirektion ein Schreiben, mit dem sie den „sofortigen Verzicht auf die Dienstleistung“ des Klägers aussprach und darauf hinwies, dass er „über die weiteren Verfahrensschritte zeitnah in Kenntnis gesetzt“ werde. Dieses Schreiben wurde dem Kläger, der sich seit dem Tag des als Entlassungsgrund herangezogenen Vorfalls in behördlicher Absonderung wegen einer COVID‑19‑Infektion befand, 14 Tage nach dem Vorfall an seinem ersten Arbeitstag nach der Absonderung durch persönliche Übergabe zugestellt.

[8] Mit weiterem Schreiben – zwölf Tage nach dem Vorfall datiert und dem Kläger 17 Tage nach dem Vorfall zugestellt – informierte das beklagte Land den Kläger über die Einleitung des Entlassungsverfahrens. Nach (ebenfalls zwölf Tage nach dem Vorfall erfolgter) Befassung der Personalvertretung und deren Zustimmung zur beabsichtigten vorzeitigen Auflösung des Dienstverhältnisses durch Entlassung wurde mit Schreiben der Bildungsdirektion – datiert 18 Tage nach dem Vorfall und dem Kläger drei Wochen nach dem Vorfall zugestellt – die Entlassung ausgesprochen.

[9] 3.1. Die Vorinstanzen beurteilten diesen Sachverhalt übereinstimmend dahin, dass das beklagte Land die Entlassung verspätet ausgesprochen habe, zumal kein besonders aufwändiges Erhebungsverfahren oder sonstige Abklärungen erforderlich gewesen seien.

[10] 3.2. Diese Rechtsansicht hält sich im vorliegenden Einzelfall – insbesondere im Hinblick auf den Umstand, dass konkrete zielgerichtete Aktivitäten der Bildungsdirektion nach ihrer ersten Verständigung vom Vorfall durch die Schuldirektorin für bis zu zehn Tage dem Sachverhalt nicht zu entnehmen sind – im Rahmen der dargelegten Rechtsprechung und des den Gerichten im Einzelfall notwendigerweise zukommenden Beurteilungsspielraums.

[11] 4. Die Revision zeigt dagegen keine erhebliche Rechtsfrage auf.

[12] 4.1. Soweit darin auf das Suspendierungsschreiben sowie weitere Aktivitäten im Anschluss daran Bezug genommen wird, übergeht sie die Feststellungen, aus denen in einem Zeitraum von einer Woche bis zehn Tage davor gesetzte, dem Unverzüglichkeitsgrundsatz Rechnung tragende Maßnahmen der zuständigen Bildungsdirektion zur Klärung des Sachverhalts nicht ableitbar sind.

[13] 4.2. Dass die Schuldirektorin keine Befugnis zur Setzung dienstrechtlicher Maßnahmen gehabt haben mag, ist im Hinblick darauf nicht relevant, dass unmittelbar getroffene Sofortmaßnahmen durch die zuständige Bildungsdirektion den Feststellungen nicht zu entnehmen sind.

[14] 4.3. Auf die Frage, ob dem Kläger eine die Entlassung rechtfertigende Dienstpflichtverletzung anzulasten oder ob eine Konversion nach § 30 Abs 3 VBG in einen Kündigungsgrund im Sinne des § 32 Abs 2 VBG möglich wäre, muss zufolge Verspätung der Entlassung nicht mehr eingegangen werden.

[15] 5. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 510 Abs 3 ZPO; § 2 Abs 1 ASGG).

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