OGH 10ObS85/23g

OGH10ObS85/23g16.1.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Deimbacher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Anton Starecek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch Neumayer & Walter Rechtsanwälte KG in Wien, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, 1080 Wien, Josefstädter Straße 80, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen Versehrtenrente, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 30. Mai 2023, GZ 7 Rs 100/22 k‑23, mit dem das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 18. Oktober 2022, GZ 27 Cgs 131/22h‑17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00085.23G.0116.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Klägerin ist Mitarbeiterin eines Landes und war im Frühjahr 2020 im Sanitätsstab tätig, der sich mit der COVID‑19-Pandemie beschäftigte. Ihre Tätigkeit verrichtete sie im März und April 2020 in einem Großraumbüro, in welchem regelmäßig zehn und mehr Mitarbeiter nebeneinander ohne Plexiglasscheiben oder FFP 2‑Masken beschäftigt waren. Die Klägerin war von 2. 4. bis 4. 4. sowie vom 6. 4. bis 8. 4. 2020 an ihrem Arbeitsplatz tätig, aufgrund des großen Arbeitsaufwandes übernachtete sie teilweise am Dienstort. Die Fahrt dorthin erfolgte mittels eines vom Dienstgeber gestellten Chauffeurs.

[2] Am 1. 4. 2020 erhielt die Klägerin eine viereinhalbstündige Infusion in einer Ordination, in der sie sich alleine in einem Raum befand und keine Maske trug. Aufgrund von Symptomen wurde sie am 11. 4. 2020 positiv auf SARS‑CoV‑2 getestet. Aufgrund dieses positiven Tests wurden weitere Mitarbeiter getestet, von denen zwei positiv getestet wurden.

[3] Die Klägerin lebt mit ihrem zweieinhalbjährigen Sohn und ihrem Ehemann zusammen. Der Ehemann befand sich im Frühjahr 2020 im Home Office, der Sohn besuchte den Kindergarten bereits seit dem 15. 3. nicht mehr. Die Klägerin besuchte im April 2020 weder Freunde noch sonstige Familienmitglieder. Sie war im April 2020 ein einziges Mal einkaufen, dies mit OP‑Maske. Die Klägerin befand sich aufgrund der SARS‑CoV‑2-Infektion auch in stationärer Behandlung im Krankenhaus. Sie leidet immer noch an Symptomen und befindet sich in ärztlicher Betreuung.

[4] Mit Bescheid vom 23. 5. 2022 sprach die beklagte Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau aus, dass die Ansteckung der Klägerin mit dem „Covid‑19 Virus“ nicht als Dienstunfall anerkannt und Leistungen nicht gewährt werden.

[5] Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Zuerkennung von Leistungen im Sinn der §§ 88 ff B‑KUVG aufgrund des durch die Ansteckung mit dem „Covid‑19 Virus“ erlittenen Dienstunfalls. Die Ansteckung sei durch die dienstliche Tätigkeit erfolgt.

[6] Die Beklagtewandte ein, dass die Erkrankung der Klägerin kein Dienstunfall sei.

[7] Das Erstgericht wies die Klage ab. Krankheiten seien in der Unfallversicherung nur versichert, wenn es sich um eine der in Anlage 1 zum ASVG bezeichneten Krankheiten handle und die dort genannten Voraussetzungen erfüllt seien. Verstünde man Infektionskrankheiten im Sinn eines Dienstunfalls, wären die einschränkenden Regelungen der Berufskrankheiten Nr 37, 38 oder 39 obsolet und sinnwidrig.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Unter anderem führte es aus, dass zwar auch in der Unfallversicherung Erkrankungen Folge sowohl eines Unfalls als auch einer Berufskrankheit sein könnten. Jedenfalls aber dort, wo der Gesetzgeber eine Berufskrankheit an bestimmte Voraussetzungen – zB die Tätigkeit in bestimmten Unternehmen – binde, komme eine Beurteilung als Arbeitsunfall nicht in Betracht. Die völlig unbemerkte Ansteckung mit einer Infektionskrankheit könne im Gegensatz zu deren „unfallähnlicher“ Verursachung – etwa durch Zeckenbiss, Insektenstich oder eine infizierte Nadel – nicht unter den Begriff des Unfalls subsumiert werden.

[9] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu.

[10] Gegen diese Entscheidung richtet sich die von der Beklagten beantwortete Revision der Klägerin, mit der sie die Stattgebung ihrer Klage anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision ist zulässig, weil sich der Oberste Gerichtshof noch nicht ausdrücklich mit der Qualifikation der Ansteckung mit einer Infektionskrankheit als Arbeits- oder Dienstunfall befasst hat. Sie ist aber nicht berechtigt.

[12] Die Revisionswerberin macht unter anderem geltend, dass eine Infektion mit einer übertragbaren Krankheit regelmäßig auch die Voraussetzungen des Unfallbegriffs erfülle, weil das auslösende Ereignis die einmalige Ansteckung sei. Daran ändere der Umstand, dass Infektionskrankheiten als Berufskrankheiten normiert seien, nichts.

Dazu ist zu auszuführen:

[13] 1. Nach § 90 Abs 1 B‑KUVG sind Dienstunfälle Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit dem die Versicherung begründenden Dienstverhältnis oder mit der die Versicherung begründenden Funktion ereignen.

[14] Die Voraussetzungen, unter denen ein Unfall als Dienstunfall anzusehen ist, entsprechen (im Wesentlichen) jenen für Beurteilung eines Unfalls als Arbeitsunfall nach dem ASVG. Zur Auslegung der entsprechenden Bestimmungen des B‑KUVG kann daher auf Rechtsprechung und Lehre zu Arbeitsunfällen zurückgegriffen werden (RS0110598 [T2]; 10 ObS 150/20m [Rz 13]).

[15] 2. Der Unfallbegriff ist weder im B‑KUVG noch im ASVG definiert. Rechtsprechung und Lehre umschreiben den Unfall dahin, dass es sich dabei um ein zeitlich begrenztes Ereignis – etwa eine Einwirkung von außen, ein abweichendes Verhalten, eine außergewöhnliche Belastung – handelt, das zu einer Körperschädigung (oder zum Tod) geführt hat (RS0084348; 10 ObS 80/20t [Rz 24]; Tomandl in Tomandl/Felten, System des österreichischen Sozialversicherungsrechts 2.3.2.2. [271]; Pöltner/Pacic, ASVG § 175 Anm 1b ua). Von einem „Unfall“ kann daher im Allgemeinen nur gesprochen werden, wenn die Gesundheitsbeeinträchtigung durch ein plötzliches Ereignis bewirkt wurde, wobei „plötzlich“ nicht Einmaligkeit bedeuten muss. Auch kurz aufeinander folgende Einwirkungen, die nur in ihrer Gesamtheit einen Körperschaden bewirken, sind noch als „plötzlich“ anzusehen, wenn sie sich innerhalb einer Arbeitsschicht ereignet haben (RS0084348 [T4]; 10 ObS 48/21p [Rz 25]; Tarmann‑Prentner in Sonntag ASVG14 § 175 Rz 2 ua; vgl RS0110322). Nicht als Unfall gelten demnach Folgen von Dauereinwirkungen, die nur geschützt werden, wenn sie als Berufskrankheiten anerkannt sind (10 ObS 45/12h; vgl RS0110323; Müller in Mosler/Müller/Pfeil, SV‑Komm Vor §§ 174–177 ASVG Rz 10). Der entscheidende Unterschied zwischen einem Unfall und einer Berufskrankheit ist daher der Zeitraum, in dem sie sich ereignen: Während der Unfall ein im dargestellten Sinn plötzliches Ereignis ist, entwickelt sich die Berufskrankheit typischerweise während eines länger andauernden Zeitraums (RS0110320; 10 ObS 48/21p [Rz 23];Müller in SV‑Komm Vor §§ 174–177 ASVG Rz 8; Tarmann‑Prentner ASVG14 § 175 Rz 3a).

[16] 2.2. Für die Frage, ob ein Unfall vorliegt, kommt es nicht darauf an, ob die gesundheitsschädigenden Folgen sogleich oder erst später eintreten (10 ObS 224/98h; Tomandl, System 2.3.2.2 [271]; Tarmann‑Prentner ASVG14 § 175 Rz 4; so auch Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit9, 785). In der Rechtsprechung ist auch anerkannt, dass das schadenstiftende Ereignis nicht unbedingt ein mechanischer Vorgang sein muss, sondern – wie bei Krankheiten – auch ein chemo‑physikalischer Vorgang sein kann. Demnach kann auch ein während der Arbeit zugezogener Insektenstich oder ein Biss durch einen tollwütigen Hund ein Arbeitsunfall sein, wenn durch die Einwirkung eine Gesundheitsschädigung hervorgerufen wird (10 ObS 71/04w = DRdA 2005, 412 [Müller]; 10 ObS 93/13v = DRdA 2014, 567 [Auer‑Mayer]; Panhölzl/Bischofreiter, Angesteckt am Arbeitsplatz - Unfallversicherungsschutz bei Covid‑19, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2022, 117 [121]; vgl auch Müller, DRdA 1998, 333 [Anm zu 10 ObS 325/97k] ua).

[17] 3. Wendet man diese Grundsätze auf Infektionskrankheiten (wie COVID‑19) an, erscheint es nicht ausgeschlossen, sie nicht nur als Berufskrankheit (Nr 38 der Anlage 1), sondern auch als Arbeitsunfall zu qualifizieren, weil die Ansteckung in der Regel durch ein „plötzliches Eindringen“ der Erreger in den Körper erfolgt.

[18] 3.1. In der Literatur werden dazu unterschiedliche Ansichten vertreten.

[19] Müller (DRdA 2005, 412 [Anm zu 10 ObS 71/04w]) weist darauf hin, dass durch die Anerkennung einer durch Blutplasmaspende verursachten Infektion als „Unfall“ im Ergebnis der Unterschied zum Krankheitsbegriff eingeebnet würde, auf dem wiederum der Begriff der Berufskrankheit aufbaue. Obwohl er (Müller, Zum Begriff des [Arbeits‑]Unfalls in der gesetzlichen Sozialversicherung, DRdA 2022, 56 [60] [Anm zu 10 ObS 48/21p]) konstatiert, dass es Abgrenzungsprobleme zwischen Berufskrankheit und Arbeitsunfall gibt und er der Arbeitsschicht als Äquivalent des Elements der Plötzlichkeit nicht entgegentritt, betont er die Notwendigkeit, das Unfallgeschehen von einem Erkrankungsgeschehen abzugrenzen. Denn dieses führe nur dann zur unfallversicherungsrechtlichen Relevanz, wenn daraus eine Berufskrankheit entstehe (vgl auch Flatscher/Strasser, 58. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht; DRdA‑infas 2023, 208 [211]). Im Ergebnis geht Müller (SV‑Komm, Vor §§ 174–177 Rz 10, § 175 Rz 41, § 176 Rz 138 und § 177 Rz 7) lediglich dann von einer Konkurrenz der beiden Anspruchsgrundlagen aus, wenn die Erkrankung auf ein unfallartiges Geschehen wie etwa einen (Insekten‑)Stich oder Biss zurückgeht. Ansteckende Erkrankungen könnten dagegen keine Folge eines Arbeitsunfalls sein, weil die Übertragung in der Regel unbemerkt und zeitlich nicht eingrenzbar verlaufe.

[20] Tomandl (System 2.3.2.2. [275]) kommt letzten Endes zum selben Ergebnis, indem er darauf verweist, dass der Gesetzgeber jede Infektionskrankheit von Personen, die nicht in einem der geschützten Unternehmen laut Anlage 1 tätig sind, von der Leistungspflicht der Unfallversicherung ausschließe, weil diese aufgrund der prinzipiell unsicheren Ansteckungsvorgänge ansonsten für praktisch jede Infektionskrankheit einstehen müsse.

[21] Brodil (DRdA 2002, 383 [Anm zu 10 ObS 90/01k]) ist demgegenüber der Auffassung, dass dem Gesetzgeber die Überschneidung von Arbeitsunfall und Berufskrankheit durchaus bekannt sei. Es spreche daher nichts gegen eine Harmonisierung in der Form, dass Infektionen bzw Ansteckungen als plötzliche, zeitlich begrenzte Einwirkungen und damit als Unfall angesehen werden, sofern der Kausalzusammenhang in der für Arbeitsunfälle vorgesehenen Qualität nachgewiesen werde. Die befürchtete uferlose Ausdehnung der Leistungspflicht der Unfallversicherung würde durch das (strengere) Beweismaß verhindert.

[22] Födermayr (Strukturfragen der österreichischen gesetzlichen Unfallversicherung – Zustand nach Covid‑19, DRdA 2023, 190 [195 f]), Panhölzl/Bischofreiter (Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2022, 117 [121 f]), Bischofreiter, Unfallversicherungsschutz bei Covid‑19; DRdA‑infas 2022, 416 [417]) und Obrecht (Long COVID in der Sozialversicherung, ARD 6794/5/2022) gehen im Kontext der COVID‑19‑Pandemie ebenfalls davon aus, dass Infektionskrankheiten nicht nur als Berufskrankheit sondern auch als Arbeits- bzw Dienstunfall zu qualifizieren seien, weil die Ansteckung in der Regel durch eine plötzliche und ungewollte Aufnahme der Viren erfolge und daher der Unfallbegriff erfüllt sei. Überwiegend wird dabei die Ansicht vertreten, dass der Umstand, dass Infektionskrankheiten in die Anlage 1 aufgenommen wurden, noch nicht (zwingend) bedeute, dass im Einzelfall nicht auch ein Arbeitsunfall vorliegen könne. Ein Unterschied zur Berufskrankheit bestehe (nur) darin, dass bei letzterer der Beweis der Erkrankung einfacher zu führen sei.

[23] 3.2. In Deutschland entspricht es der langjährigen Rechtsprechung und Lehre, dass auch Infektionskrankheiten im Sinn der dortigen BK 3101 (iVm § 9 SGB VII) eine Körperschädigung darstellen können, die die Merkmale eines Arbeitsunfalls erfüllt (BSG 2 RU 106/59; 2 RU 191/59; jüngst BSG B 2 U 34/17 R [Bakterieninfektion]; Schwerdtfeger in Lauterbach, Unfallversicherung4 § 8 SGB VII Rz 26d, 27, 97 [COVID 19]; Ricke in Kasseler Kommentar SGB VII § 8 Rz 118; Krasney in Krasney/Becker/Heinz/Bieresborn, Gesetzliche Unfallversicherung [SGB VII] § 8 SGB VII Rn 635; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit9, 785).

[24] 3.3. Der Oberste Gerichtshof hat sich mit der Frage, ob die „bloße“ Ansteckung mit Infektionskrankheiten (für sich) ein Arbeits- oder Dienstunfall sein kann, noch nicht befasst. Zu 10 ObS 90/01k wurde zwar die Erkrankung an Hepatitis C im Zuge einer freiwilligen Blutplasmaspende als Arbeitsunfall angesehen. Nähere Umstände der Infektion sind der Entscheidung aber nicht zu entnehmen; zudem wurde in der dortigen Revision ohnehin nur das vermeintlich fehlende rechtliche Interesse an einer Feststellung gemäß § 82 Abs 5 ASGG thematisiert. In der schon erwähnten Entscheidung 10 ObS 71/04w war die Qualifikation als Arbeitsunfall nicht strittig (Einführen der verunreinigten Kanüle zur Plasmaspende).

[25] 4. Im Anlassfall ist dagegen eine behauptete „schlichte“ Ansteckung durch infizierte Kollegen zu beurteilen. Bei einer solchen scheidet nach Ansicht des Senats das Vorliegen eines Arbeitsunfalls de lege lata aus.

[26] 4.1. Charakteristikum der vom Gesetzgeber in die Anlage 1 zum ASVG aufgenommenen Berufskrankheiten ist überwiegend, dass sie erst durch längerfristige schädigende Einwirkungen (zB Schadstoffe, Druck, Lärm, Vibrationen) zur Erkrankung führen. Im Gegensatz dazu erfolgt bei Infektionskrankheiten der Infektionsvorgang als schadenstiftende Einwirkung grundsätzlich abrupt und erfüllt damit im Grunde eher die Voraussetzungen eines Unfalls. Wenn Infektionskrankheiten trotzdem den Berufskrankheiten zugeordnet werden, kann das nur dahin verstanden werden, dass der Gesetzgeber sie bewusst nur als solche behandeln, respektive sie nur unter den Voraussetzungen der Anlage 1 unter Versicherungsschutz stellen will. Der Oberste Gerichtshof hat zur Berufskrankheit Nr 38 auch mehrfach betont, dass eine Gesundheitsstörung verschiedene Ursachen haben kann und vor allem bei Infektionskrankheiten unterschiedlichste Ansteckungsquellen und Übertragungswege in Betracht kommen, die sich im Nachhinein weder sicher eruieren noch auf eine berufliche Tätigkeit zurückführen lassen (vgl 10 ObS 74/16d; 10 ObS 159/88 ua). Sinn und Zweck der Nr 38 der Anlage 1 besteht daher darin, nur jenen Personen (Unfallversicherungs‑)Schutz bei einer Erkrankung an einer Infektionskrankheit zu gewähren, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit in genau definierten Unternehmen einer besonderen Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind (vgl 10 ObS 149/22t [Rz 24]; 10 ObS 39/23t [Rz 17]; RS0085380). Dass der Unfallversicherung mit der Nr 38 der Anlage 1 nur eine beschränkte Leistungspflicht auferlegt werden sollte, zeigt auch der Umstand, dass kein lückenloses System des Versicherungsschutzes geschaffen wurde (10 ObS 1/23d; RS0120384), obwohl der Sache nach eigentlich jede auf betriebliche Einwirkungen zurückgehende Krankheit als Berufskrankheit anerkannt werden müsste (Tomandl, System 2.3.2.2. [273]). Wie schon das Berufungsgericht zu Recht betont hat, lag die offenbare Absicht des Gesetzgebers somit darin, Infektionskrankheiten ausschließlich als Berufskrankheit unter den Schutz der Unfallversicherung zu stellen. Auch wenn Infektionen die Voraussetzungen des Unfallbegriffs erfüllen können, sind sie daher (e contrario) nicht vom Schutzbereich der Unfallversicherung erfasst.

[27] 4.2. Dass die Erkrankung anderer Personen als der in Nr 38 der Anlage 1 genannten Beschäftigten von der Leistungspflicht der Unfallversicherung ausgeschlossen sein soll, zeigt auch § 176 Abs 2 ASVG: Mit Ausnahme der in § 176 Abs 1 ASVG genannten „Dauertätigkeiten“ (etwa nach Z 7a oder Z 8), kommen dort mangels länger dauernder Expositionen praktisch nur punktuelle Einwirkungen wie vor allem die Infektion mit einem Krankheitserreger in Betracht (vgl Müller, SV‑Komm § 176 Rz 140 der auf Hepatitis‑Fälle verweist; Brodil, DRdA 2002, 383). Da der Gesetzgeber implizit selbst von der Dauer einer Arbeitsschicht als zeitliche Grenze für die Annahme eines Arbeitsunfalls ausgeht (vgl ErläutRV 181 BlgNR 14. GP  71), wäre eine Gleichstellung der (zwangsläufig kurzen) Einwirkungen mit Berufskrankheiten nicht notwendig, wenn sie ohnehin schon als Unfallereignis zu qualifizieren wären. In diesem Fall wäre der Versicherungsschutz nämlich bereits durch die in § 176 Abs 1 ASVG angeordnete Gleichstellung mit Arbeitsunfällen gegeben. Der Annahme, die Nr 38 der Anlage 1 solle bloß zu Beweiserleichterungen führen, indem bestimmte Bereiche (Unternehmen) definiert werden, in denen eine Infektion (hoch‑)wahrscheinlich ist, steht entgegen, dass durch § 176 Abs 2 ASVG der Versicherungsschutz (für Tätigkeiten nach § 176 Abs 1 ASVG) erst geschaffen (ErläutRV 404 BlgNR 13. GP  96) und nicht bloß für einen schon bestehenden Schutz eine einfachere Beweisführung ermöglicht werden sollte.

[28] 4.3. Auch die Nr 46 der Anlage 1 („Durch Zeckenbiss übertragbare Krankheiten“) spricht gegen die Qualifikation von Infektionskrankheiten als Arbeitsunfall. Die Aufnahme der Nr 46 erfolgte durch die 50. ASVG‑Novelle (BGBl 1996/411), zu der die Materialien ausführen:

„Sowohl die Frühsommermeningoenzephalitis (FSME) als auch die Borreliose (lyme‑disease) werden durch Zeckenbisse übertragen [...] Diese Erkrankungen könnten zwar grundsätzlich auch als Folge eines Arbeitsunfalls (Unfall = Zeckenbiss) gewertet werden. Da es sich dabei letztlich um Infektionskrankheiten handelt, ist die Aufnahme in die Liste der Berufskrankheiten [...] wünschenswert [...] Es sollte dies zweckmäßigerweise durch Schaffung einer neuen Position in der Berufskrankheitenliste geschehen, da eine an sich mögliche Subsumierung unter die Berufskrankheiten Nr 38 oder 39 schon wegen des bei diesen Berufskrankheiten eingeschränkten Unternehmensbegriffes kaum zielführend wäre“ (ErläutRV 284 BlgNR 18. GP  38 f).

[29] Somit sieht offenbar selbst der Gesetzgeber das mögliche Unfallereignis nicht im „plötzlichen Eindringen“ des Virus (FSME) oder der Bakterien (Borreliose) in den Körper, sondern im (unfallartigen) Zeckenbiss.

[30] 5. Insgesamt ergibt sich aus diesen Erwägungen letztlich klar, dass durch Aufnahme der Infektionskrankheiten in den Katalog der Anlage 1 der Unfallversicherungsschutz eingeschränkt und nicht eine weitere Anspruchsgrundlage mit erleichterter Beweisführung geschaffen werden sollte. Der Senat kommt daher zum Ergebnis, dass ein Versicherungsschutz dafür nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 177 ASVG iVm der Anlage 1 besteht. Davon ausgenommen sind lediglich Fälle, in denen die Ansteckung auf ein unfallartiges Ereignis (Insektenstich, Biss, Injektion mit einer infizierten Nadel etc) zurückgeht. Ausschließlich insoweit überschneiden sich Dienst- bzw Arbeitsunfall und Berufskrankheit.

[31] Der Revision ist daher nicht Folge zu geben.

[32] Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Zwar entspricht es der Billigkeit, dem unterlegenen Versicherten die Hälfte der Kosten seiner Rechtsvertretung zuzuerkennen, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO abhängt (RS0085871). Ein Kostenzuspruch kommt hier aber nicht in Betracht, weil aus der Aktenlage keine Angaben zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Klägerin ersichtlich sind, die einen Kostenzuspruch rechtfertigen könnten.

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