OGH 10ObS32/23p

OGH10ObS32/23p16.1.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Deimbacher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Anton Starecek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei I*, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1100 Wien, Wienerbergstraße 11, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. Februar 2023, GZ 10 Rs 7/23 g‑14, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00032.23P.0116.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die beklagte Partei stellte die Bemessungsgrundlage für die dem Kläger aufgrund des Arbeitsunfalls vom 3. 10. 2017 ab 4. 10. 2017 gebührende Dauerrente gemäß § 182 ASVG nach billigem Ermessen mit 5.929,80 EUR (für das Jahr 2017 geltende „Geringfügigkeitsgrenze“ von 425,70 EUR x 14) fest.

[2] Die Vorinstanzen wiesen die auf Gewährung einer Versehrtenrente als Dauerrente aufgrund einer höheren Bemessungsgrundlage gerichtete Klage ab.

[3] Sie gingen übereinstimmend davon aus, dass die Festsetzung der Bemessungsgrundlage gemäß § 179 Abs 4 ASVG eine Unbilligkeit bedeutet hätte, weil der Kläger vor dem am 2. 10. 2017 begonnenen Dienstverhältnis in den Kalenderjahren 2016 und 2017 lediglich – in näher festgestellten Zeiträumen – geringfügig beschäftigt gewesen sei und – auch in den Zeiträumen seiner geringfügigen Beschäftigung – Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe bezogen habe. Unter Berücksichtigung des weiteren Umstands, dass sich der Arbeitsunfall am zweiten Tag eines im Umfang einer Vollzeitbeschäftigung abgeschlossenen Dienstverhältnisses ereignete, das in der Folge innerhalb des Probemonats aufgelöst wurde, lehnten sie die Ermittlung der Bemessungsgrundlage nach § 179 Abs 4 ASVG ab, um ein grobes Missverhältnis zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Klägers vor dem Arbeitsunfall zu vermeiden.

Rechtliche Beurteilung

[4] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision ist nicht zulässig.

[5] 1.1. Für die Geldleistungen der Unfallversicherung nach dem ASVG ist der Bemessungszeitraum immer ein volles Jahr. Es ist die Absicht des Gesetzgebers, nicht punktuell auf die Einkommensverhältnisse im Unfallzeitpunkt abzustellen, sondern immer einen Bemessungszeitraum eines vollen Jahres vor dem Eintritt des Versicherungsfalls zugrundezulegen (RS0084400). Daher gehen die Absätze 1 bis 4 des § 179 ASVG grundsätzlich von einer auf ein Kalenderjahr bezogenen Bemessungsgrundlage aus, sodass beispielsweise auch schwankendes Einkommen „ausgeglichen“ wird (10 ObS 4/07x SSV‑NF 21/3).

[6] Hat die Versicherung vor dem Eintritt des Versicherungsfalls insgesamt kürzer als sechs Wochen gedauert, ist grundsätzlich nach § 179 Abs 4 ASVG (bis zur 60. ASVG‑Novelle BGBl I 2002/140: Abs 3) die Bemessungsgrundlage aufgrund jener Beitragsgrundlagen zu errechnen, die für Versicherte derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend zutreffen (10 ObS 131/02s SSV‑NF 17/124; RS0110095).

[7] Abweichend davon ist die Bemessungsgrundlage nicht nur dann gemäß § 182 ASVG nach billigem Ermessen festzusetzen, wenn sie nach den §§ 179 bis 181b ASVG nicht errechnet werden kann (§ 182 Satz 1 Halbsatz 1 ASVG), sondern gemäß § 182 Satz 1 Halbsatz 2 ASVG – ausnahmsweise (RS0110094) – auch dann, wenn ihre Errechnung nach diesen Bestimmungen eine Unbilligkeit bedeuten würde (10 ObS 186/13w SSV‑NF 27/92).

[8] 1.2. Nach § 182 Satz 2 ASVG ist bei einer Feststellung der Bemessungsgrundlage nach billigem Ermessen auf die Fähigkeiten, die Ausbildung und die Lebensstellung des Versehrten, auf seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls, oder soweit er nicht gegen Entgelt tätig war, auf eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit Bedacht zu nehmen. Dabei ist die Gesamtsituation des Versicherten zu berücksichtigen. Die Bemessungsgrundlage soll ein Spiegel der wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten im letzten Jahr vor dem Unfall sein (RS0084405 [T4]; 10 ObS 145/11p SSV‑NF 25/112).

[9] 1.3. Dass § 182 ASVG nach der Rechtsprechung auch zur Festsetzung einer niedrigeren Bemessungsgrundlage führen kann, als sich nach § 179 Abs 4 ASVG ergeben würde, wird in der außerordentlichen Revision nicht in Zweifel gezogen.

[10] So bestätigte der Oberste Gerichtshof die Ermittlung der Bemessungsgrundlage nach § 182 ASVG anstelle der Anwendung der für den Versicherten günstigeren Regelung des (nunmehr) § 179 Abs 4 ASVG in einem Fall, in dem ein Pensionist, der in den neun Jahren seit der Pensionierung keine Versicherungszeiten erworben hatte, am vierten Tag eines auf wenige Tage befristeten Beschäftigungsverhältnisses einen Arbeitsunfall erlitt (10 ObS 226/90 SSV‑NF 4/88 = ZAS 1991/17, 174 [Gahleitner]) sowie im Fall eines Schülers, der als Ferialarbeiter am ersten Tag eines auf vier Wochen befristeten Dienstverhältnisses einen Arbeitsunfall erlitt (10 ObS 4/07x SSV‑NF 21/3). Auch in der Entscheidung 10 ObS 139/04w (SSV‑NF 18/87) wurde unter Bedachtnahme auf die (kurze) Dauer und das geringe Einkommen in den Beschäftigungsverhältnissen der dortigen Klägerin im Jahr vor dem Arbeitsunfall ein Abstellen auf ihr sieben Wochen hindurch erzieltes hohes Einkommen als Unbilligkeit qualifiziert.

[11] 1.4. Wann die Errechnung der Höhe der Bemessungsgrundlage nach den §§ 179 bis 181b ASVG eine Unbilligkeit bedeuten würde, kann nur nach den Besonderheiten des Einzelfalls entschieden werden (RS0110094 [T4]; 10 ObS 186/13w SSV‑NF 27/92).

[12] 2.1. Das Berufungsgericht hat die dargestellten Grundsätze in vertretbarer Weise auf den vorliegenden Einzelfall angewandt. Die außerordentliche Revision des Klägers vermag keine Überschreitung des den Vorinstanzen eingeräumten Ermessensspielraums aufzuzeigen.

[13] 2.2. Dass der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 156/98h (SSV‑NF 12/71), aus der die außerordentliche Revision zitiert,die Anwendung des § 182 ASVG mangels Vorliegens eines „atypischen“, insbesondere nur für kurze Dauer geschlossenen Dienstverhältnisses ablehnte, macht die Entscheidung der Vorinstanzen im vorliegenden Fall, in dem der Kläger im Jahr des Eintritts des Arbeitsunfalls sowie im vorangegangenen Kalenderjahr ausschließlich geringfügige Beschäftigungen ausgeübt hatte und das einen Tag vor dem Arbeitsunfall begonnene Vollzeit-Dienstverhältnis in der Probezeit gelöst wurde, keineswegs unvertretbar. Die Beurteilung des Berufungsgerichts steht vielmehr im Einklang mit dem Grundsatz, dass die Bemessungsgrundlage die wirtschaftliche Realität des Versicherten abbilden soll (vgl RS0084405 [T4]; vgl Albert, Bemessungsgrundlage in der Unfallversicherung nach dem ASVG [1999] 63).

[14] Inwiefern die in der außerordentlichen Revision vermisste (weitergehende) Berücksichtigung der Gesamtsituation des Klägers auch bei Anwendung des § 182 ASVG zu einer höheren Bemessungsgrundlage hätte führen sollen, wird nicht dargetan.

[15] 2.3. Damit wird insgesamt eine Rechtsfrage der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO in der außerordentlichen Revision nicht aufgezeigt.

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