European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0110OS00122.22H.0829.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Fachgebiet: Sexualdelikte
Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Linz zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * K* eines Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1, Abs 3 erster Fall StGB, mehrerer Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (I) und mehrerer Verbrechen der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB idF BGBl 1974/60 (II) schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt.
[2] Danach hat er in K*
I zu unbekannten Zeitpunkten in den Jahren 1992 und 1993 bis (richtig:) zur Vollendung deren 14. Lebensjahres in mehreren Fällen mit der * 1979 geborenen, somit unmündigen M* den Beischlaf unternommen, indem er den vaginalen Geschlechtsverkehr an ihr vollzog, wodurch sie eine an sich schwere Körperverletzung verbunden mit einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung (§ 84 Abs 1 StGB), nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung und eine depressive Episode, einhergehend mit Intrusionen, Dissoziationen, andauerndem Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, vegetativen Symptomen, Schlafstörungen, psychosomatischen Beschwerden sowie Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefiziten, erlitt;
II in der Zeit von August 1990 bis (richtig:) zur Vollendung deren 14. Lebensjahres in wiederholten, etwa einmal im Monat stattgefundenen Angriffen die * 1979 geborene, somit unmündige M* auf andere Weise als durch Beischlaf zur Unzucht missbraucht, indem er sie unter der Kleidung im Scheidenbereich betastete und streichelte, sie veranlasste seinen Penis mit ihrer Hand zu umfassen, seinen Finger in ihre Scheide einführte sowie den Oralverkehr an ihr vornahm und an sich vornehmen ließ.
[3] Nach den hier wesentlichen Urteilskonstatierungen (US 3 ff) kam es zwischen dem Angeklagten und der * 1979 geborenen M* ab August 1990 rund einmal pro Monat zu Vorfällen, bei denen er ihre Scheide berührte, sie seinen Penis anfassen ließ, er sie digital und lingual penetrierte und Oralverkehr an sich vornehmen ließ. Zu einem weiteren nicht näher bekannten Zeitpunkt im Jahr 1992/Anfang 1993 fand schließlich der erste Geschlechtsverkehr zwischen dem Angeklagten und dem damals noch unmündigen Mädchen statt. Bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres des Opfers kam es in weiterer Folge zu mehrfachem Vaginalverkehr. M* war mit den sexuellen Handlungen überfordert, zumal sie sexuell noch gänzlich unerfahren war. Sie konnte die Taten vorerst nicht einordnen und war sich der Tragweite der sexuellen Übergriffe nicht bewusst. Schon als Kind litt sie an Belastungssymptomen wie Schlafstörungen, Unruhe, Anspannung und Ängsten, die auf die emotionale Überforderung hinweisen, verbunden aber auch mit positiven Gefühlen (fühlte sich geschmeichelt, erhielt Aufmerksamkeit), woraus sich zusätzliche Schuldgefühle entwickelten, weil sie sich eine Teilschuld zuschrieb. Erst im Alter von 41 Jahren begann sie sich im Zuge einer Psychotherapie mit den Vorfällen auseinanderzusetzen. Als Folge der Missbrauchshandlungen entwickelten sich bei dem Opfer ab der Auseinandersetzung mit den Übergriffen im Rahmen der psychotherapeutischen Therapie weitere Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer depressiven Episode. Ab der Anzeigeerstattung gegen den Angeklagten im September 2021 verschlechterte sich das Zustandsbild derart, dass vom Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung auszugehen ist, deren Ursache in den sexuellen Übergriffen liegt. Die im angefochtenen Urteil festgestellten (US 6 f) Schädigungen an der Gesundheit, in denen diese Belastungsstörung besteht, tragen deren Beurteilung als schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB).
Rechtliche Beurteilung
[4] Gegen dieses Urteil richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 5, 5a, 9 lit b und 10 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.
[5] Der Verfahrensrüge zuwider wurden durch die Abweisung des in der Hauptverhandlung am 19. Juli 2022 (ON 18 S 21) gestellten Antrags auf Vernehmung der Zeugin * P* „zum Beweis dafür, dass der Angeklagte die ihm vorgeworfenen Taten nicht begangen hat, insbesondere aber, dass die zeitlichen Zuordnungen zu den sexuellen Handlungen durch M* unrichtig sind, weil die sexuellen Kontakte erst mit ihrem Erwachsenenalter zum Angeklagten geknüpft wurden“, nicht verletzt. Der Antrag legte nämlich nicht dar, weshalb die begehrte Beweisaufnahme die (spekulativ) behaupteten Ergebnisse erbringen sollte und weshalb die Zeugin Derartiges bestätigen können sollte und war demnach auf eine im Hauptverfahren unzulässige Erkundungsbeweisführung gerichtet (RIS‑Justiz RS0118123, RS0118444, RS0099453; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 330 f).
[6] Das ergänzende Vorbringen der Nichtigkeitsbeschwerde unterliegt dem sich aus dem Wesen des Nichtigkeitsgrundes der Z 4 des § 281 Abs 1 StPO ergebenden Neuerungsverbot und ist demnach unbeachtlich (RIS‑Justiz RS0099618, RS0099117).
[7] Bezugspunkt der Mängelrüge (Z 5) sind die Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen (RIS‑Justiz RS0099429, RS0106268; zum Begriff siehe näher Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 398 ff).
[8] Undeutlichkeit (Z 5 erster Fall) liegt dann vor, wenn nicht unzweifelhaft erkennbar ist, ob eine entscheidende Tatsache in den Entscheidungsgründen festgestellt worden oder auch aus welchen Gründen die Feststellung entscheidender Tatsachen erfolgt ist (RIS‑Justiz RS0117995).
[9] Unvollständig (Z 5 zweiter Fall) ist ein Urteil dann, wenn das Gericht bei der für die Feststellung entscheidender Tatsachen angestellten Beweiswürdigung (§ 258 Abs 2 StPO) erhebliche, in der Hauptverhandlung vorgekommene (§ 258 Abs 1 StPO) Verfahrensergebnisse unberücksichtigt ließ (RIS‑Justiz RS0118316).
[10] Widersprüchlich sind zwei Urteilsaussagen, wenn sie nach den Denkgesetzen oder grundlegenden Erfahrungssätzen nicht nebeneinander bestehen können. Im Sinn der Z 5 dritter Fall können die Feststellungen über entscheidende Tatsachen in den Entscheidungsgründen (§ 270 Abs 2 Z 5 StPO) und deren Referat im Erkenntnis (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO), die Feststellungen über entscheidende Tatsachen in den Urteilsgründen, die zu den getroffenen Feststellungen über entscheidende Tatsachen angestellten Erwägungen sowie die Feststellungen über entscheidende Tatsachen in den Urteilsgründen und die dazu angestellten Erwägungen zueinander im Widerspruch stehen (RIS‑Justiz RS0119089).
[11] Offenbar unzureichend (Z 5 vierter Fall) ist eine Begründung, die den Gesetzen folgerichtigen Denkens oder grundlegenden Erfahrungssätzen widerspricht (RIS‑Justiz RS0116732 und RS0118317).
[12] Weiters ist voranzustellen, dass der Beschwerdeführer (nominell aus Z 5 erster bis vierter Fall) im Wesentlichen lediglich – jeweils unter Hervorkehrung einzelner Passagen der Aussagen des Opfers – Elemente der tatrichterlichen Argumentationskette isoliert herausgreift und daran die Kritik knüpft, dass jene die diesbezüglichen Feststellungen nicht zu tragen vermöchten. Solcherart verlässt das Rechtsmittel die insoweit gebotene Gesamtbetrachtung der Entscheidungsgründe (RIS‑Justiz RS0119370).
[13] Dies trifft auf die Behauptungen zu,
‑ das Erstgericht hätte lediglich eine Retraumatisierung, aber keine davor liegende Traumatisierung festgestellt, weil jene Urteilspassagen übergangen werden, wonach das Opfer bereits als Kind Schlafstörungen, Unruhe und Ängste empfand (US 14) und es durch die jahrelange Unterdrückung und Verdrängung nach der Therapie zu einer Retraumatisierung kam (insb US 6 f, 12 ff),
‑ mehrere Aussagen des Opfers, wonach es alles „als nicht so schlimm empfunden“, die Bedeutung nicht erfasst hätte und sich der Tragweite der sexuellen Handlungen nicht bewusst gewesen wäre, stünden in „krassem Widerspruch“ zu der vom Erstgericht festgestellten Traumatisierung (neuerlich US 6 f, 12 ff).
[14] Soweit auch im Übrigen bloße Aussagedetails thematisiert werden, genügt es zu erwidern, dass das Erstgericht entsprechend dem Gebot zu bestimmter, aber gedrängter Darstellung der Entscheidungsgründe (§ 270 Abs 2 Z 5 StPO) nicht verhalten ist, sämtliche Aussagen im Einzelnen zu erörtern und darauf zu untersuchen, inwieweit sie für oder gegen diese oder jene Geschehensvariante sprechen. Dass aus den Beweismitteln auch für den Angeklagten günstigere Schlussfolgerungen möglich wären, die Tatrichter sich aber (wie hier mit logisch und empirisch einwandfreier Begründung) für eine diesem ungünstigere Variante entschieden haben, ist als Akt freier Beweiswürdigung (§ 258 Abs 2 StPO) mit Mängelrüge nicht bekämpfbar (vgl RIS‑Justiz RS0098377). Der Vorwurf (Z 5 zweiter Fall) unterbliebener Erörterung einzelner (vom Beschwerdeführer eigenständig zu seinen Gunsten gewürdigter) Sätze der Aussage des Opfers geht daher ins Leere.
[15] Die Kritik, das Erstgericht habe aus der Aussage der Zeugin zu Unrecht den Schluss gezogen, dass der Angeklagte über deren Alter zu den Tatzeitpunkten Bescheid gewusst hätte, bekämpft wiederum bloß die Beweiswürdigung nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren gesetzlich nicht vorgesehenen Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld (§ 283 Abs 1 StPO).
[16] Ob schließlich neben den sexuellen Handlungen auch eine Beziehung „im sozialen, emotionalen Bereich“ zwischen dem Angeklagten und der Zeugin bestanden hat, ist nicht entscheidungswesentlich.
[17] Z 5a des § 281 Abs 1 StPO will als Tatsachenrüge nur geradezu unerträgliche Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen (das sind schuld- oder subsumtionserhebliche Tatumstände, nicht aber im Urteil geschilderte Begleitumstände oder im Rahmen der Beweiswürdigung angestellte Erwägungen) und völlig lebensfremde Ergebnisse der Beweiswürdigung durch konkreten Verweis auf aktenkundige Beweismittel (bei gleichzeitiger Bedachtnahme auf die Gesamtheit der tatrichterlichen Beweiswerterwägungen) verhindern. Tatsachenrügen, die außerhalb solcher Sonderfälle auf eine Überprüfung der Beweiswürdigung abzielen, beantwortet der Oberste Gerichtshof ohne eingehende eigene Erwägungen, um über den Umfang seiner Eingriffsbefugnisse keine Missverständnisse aufkommen zu lassen (RIS‑Justiz RS0118780). Die durch persönlichen Eindruck gewonnene Überzeugung der Tatrichter von der Glaubwürdigkeit einer Person ist mit Tatsachenrüge nicht bekämpfbar (RIS-Justiz RS0099649).
[18] Auf dieser Grundlage vermögen die – schon im Rahmen der Mängelrüge thematisierten – Aussagepassagen der Zeugin, sie habe (ua) das Geschehene „nicht als so schlimm empfunden“, „sich nicht zu Tode gefürchtet“, weswegen nach der in der Beschwerde wiedergegebenen gutachterlichen Beschreibung eines solchen kein traumatischer Vorfall (vgl US 14 f) stattgefunden haben könne, weiters ihre Tagebucheintragungen ab Herbst 1994 zu offenbar positiv erlebten sexuellen Handlungen mit dem Angeklagten (vgl US 10) sowie Erwägungen zu ihrem späteren Verhalten, der späteren Wiederaufnahme der Beziehung zum Angeklagten bei gleichzeitiger Beziehung zu einem anderen Mann – soweit nicht der Bereich statthaften Vorbringens überhaupt verlassen wird – beim Obersten Gerichtshof keine erheblichen Bedenken zu erwecken.
[19] Mit Spekulationen über den Zeitpunkt des Eintritts der nach den tatrichterlichen Konstatierungen durch sämtliche urteilsgegenständlichen sexuellen Übergriffe (mit‑)verursachten schweren Körperverletzung beim Opfer (US 6 f, 18 f – vgl dazu RIS‑Justiz RS0092036, RS0091997 [T2]) reklamiert die Rechtsrüge (Z 9 lit b) „unter Heranziehung des Strafmaßes vo[m]n 5. bzw 10 Jahren (§ 207/206 StGB)“ Strafaufhebung infolge Verjährung (vgl RIS‑Justiz RS0091923).
[20] Solcherart legt sie nicht methodengerecht dar (zum entsprechenden Erfordernis vgl RIS‑Justiz RS0116565), inwiefern der Zeitpunkt des Eintritts der schweren Verletzungsfolge im Sinn des § 206 Abs 3 erster Fall StGB bei Berechnung der Verjährungsfrist unter Heranziehung der hier maßgeblichen Anlaufhemmung (Marek in WK² StGB § 58 Rz 3) bis zur Vollendung des 28. Lebensjahres des Opfers nach § 58 Abs 3 Z 3 StGB (zur Berechnung unter Berücksichtigung der Änderungen durch das StRÄG 1998 [BGBl I 1998/153] und das 2. GeSchG [BGBl I 2009/40] vgl Marek in WK² StGB § 58 Rz 30) relevant sein sollte (vgl instruktiv 12 Os 65/16z; kritisch Seiler PK‑StGB § 58 Rz 1; ablehnend Leukauf/Steininger/Tipold, StGB4 § 58 Rz 6 und Juhász, Wiederaufleben der Verjährungsfrist bei „verspätetem“ Erfolgseintritt?, JBl 2011, 214; siehe auch Lewisch, WK‑StPO § 352 Rz 5 zur „wirklich begangene[n]“ Tat).
[21] Soweit die Rüge davon losgelöst ausgehend von einer Strafbefugnis des § 207 Abs 1 StGB idF BGBl 1974/60 von bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe hinsichtlich der Taten laut Schuldspruch zu II Feststellungen zu „verjährungshemmenden Ereignissen“ vermisst, ignoriert sie die Urteilskonstatierungen zur nachfolgenden Begehung der dem Verbrechen der Unzucht mit Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB, in einem Fall nach § 206 Abs 1, Abs 3 erster Fall StGB subsumierten (Schuldspruch zu I – zur einmaligen Anrechnung der schweren Folge vgl RIS‑Justiz RS0120828, RS0128224 [T3]), auf der gleichen schädlichen Neigung (§ 71 StGB) beruhenden (real konkurrierenden) Taten vor Ablauf der Frist des § 57 Abs 3 zweiter Fall StGB (§ 58 Abs 2 StGB; vgl Marek in WK² StGB § 58 Rz 2 und 6 sowie zur schuldspruchmäßigen Feststellung im gegenständlichen Urteil Rz 7 und RIS‑Justiz RS0092038).
[22] Damit verfehlt die Rechtsrüge ebenso die gesetzeskonforme Ausführung des materiell-rechtlichen Nichtigkeitsgrundes (vgl dazu RIS‑Justiz RS0099810) wie die Subsumtionsrüge (Z 10), die bloß losgelöst vom festgestellten Sachverhalt (US 6 f, 18 f) den Eintritt der schweren Folge im Sinn des § 206 Abs 3 erster Fall StGB bestreitet.
[23] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – entgegen der Stellungnahme der Generalprokuratur – bei der nichtöffentlichen Beratung gemäß § 285d Abs 1 StPO sofort zurückzuweisen, woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung folgt (§ 285i StPO).
[24] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)