OGH 16Ok6/22a

OGH16Ok6/22a25.5.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Kartellrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek, den Hofrat Dr. Parzmayr, die Hofrätin Dr. Faber und die fachkundigen Laienrichter KR Mag. Herzele und KR Dr. Dernoscheg als weitere Richter in der Kartellrechtssache der Antragstellerin A* AG, *, vertreten durch die Reidlinger Schatzmann Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die Antragsgegnerinnen 1. Ö* Gesellschaft m.b.H., *, 2. C* AG, *, beide vertreten durch die Barnert Egermann Illigasch Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Abstellung (§ 26 KartG), über den Rekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Kartellgericht vom 21. Juni 2022, GZ 27a Kt 14/21t‑11, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0160OK00006.22A.0525.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

Parteien des Verfahrens:

[1] Die Antragstellerin ist Inhaberin einer Bewilligung für Landesausspielungen mit Glücksspielautomaten in Automatensalons nach § 5 GSpG in Niederösterreich und Kärnten. Ihre Muttergesellschaft hat eine diesbezügliche Bewilligung in der Steiermark. Die Konzession der Antragstellerin für Kärnten läuft bis 30. 10. 2025, ihre Konzession für Niederösterreich bis 21. 7. 2032. Über weitere Konzessionen nach dem GSpG verfügt die Antragstellerin nicht.

[2] Die Erstantragsgegnerin ist die einzige Konzessionärin des Bundes im Rahmen des Glücksspielmonopols gemäß § 14 GSpG und betreibt auf Basis dieser Konzession eine Reihe von Lotteriespielen. Seit der Einführung des elektronischen Glücksspiels ist sie auf Basis ihrer Konzession auch befugt, elektronische Lotterien und Online‑Glücksspiele anzubieten, die sie auf der Webseite www.win2day.at in ganz Österreich anbietet.

[3] Darüber hinaus berechtigt sie diese Lotteriekonzession auch zum Betrieb von Video Lotterie Terminals (künftig: VLT), die den Zugang zu elektronischen Lotterien ermöglichen. Dabei handelt es sich um gemäß § 12a Abs 2 GSpG zentralseitig vernetzte Terminals, die an ortsfesten, öffentlich zugänglichen Standorten (außerhalb von Spielbanken) betrieben werden. Operativ durchgeführt wird das VLT-Geschäft von einer 100 %‑Tochtergesellschaft der Erstantragsgegnerin unter der Marke „WINWIN“. Die Lotterienkonzession der Erstantragsgegnerin ist bis 30. 9. 2027 gültig.

[4] Die Erstantragsgegnerin betreibt in Niederösterreich drei VLT-Standorte mit 147 VLT. In Kärnten betreibt sie zwei Standorte mit insgesamt 90 VLT.

[5] Die Erstantragsgegnerin steht indirekt über die Ö* Holding GmbH (100 %‑Tochtergesellschaft der Zweitantragsgegnerin) zu ca 74 % im Eigentum der Zweitantragsgegnerin. Die restlichen Anteile an der Erstantragsgegnerin werden von der L* Holding gehalten. Die Erstantragsgegnerin wird letztlich von der Zweitantragsgegnerin allein kontrolliert. Die N* AG hält über mehrere Beteiligungsgesellschaften durchgerechnet einen Anteil vom 9,45 % an der Erstantragsgegnerin.

[6] Die Zweitantragsgegnerin verfügt in Österreich als einzige über sämtliche aufrechte Konzessionen für Spielbanken gemäß § 21 GSpG. Sie betreibt in Österreich insgesamt zwölf Spielbanken. In den Spielbanken befinden sich auch Automaten. Die Zweitantragsgegnerin betreibt eine Spielbank in Niederösterreich (Casino B*), in der sich 266 Glücksspielautomaten befinden, sowie eine Spielbank in Kärnten (Casino V*), in der sich 252 Spielautomaten befinden.

Relevante Märkte:

Im Bereich des Glücksspiels gibt es folgende sachlich und räumlich relevante Märkte:

[7] Spielbanken: Der Markt für Spielbanken (ohne Automatenglücksspiel) mit einem Einzugsradius von 60 Minuten rund um den Standort.

[8] Automatenglücksspiel: Dies umfasst das Automatenangebot in VLT‑Outlets, Automatensalons und Spielbanken (Markt für Automatenglücksspiel). Die räumlichen Märkte im Bereich des Automatenglücksspielmarkts sind bundeslandweit zu betrachten.

[9] Online‑Glücksspiel: Das in Österreich online angebotene Glücksspiel.

[10] Die Antragstellerin beantragte, soweit noch Gegenstand des Rekursverfahrens, den Antragsgegnerinnen aufzutragen, den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung gemäß § 5 KartG und Art 102 AEUV durch die Unterlassung näher bezeichneter Verhaltensweisen abzustellen. Die Antragsgegnerinnen hätten es zu unterlassen, (Punkt 1. des Antrags) gegenüber Kunden einen gemeinsamen Marktauftritt zu betreiben und in ihrem Marktauftritt Querverweise zum sowie gegenseitige Werbung für ihr jeweiliges Spieleangebot vorzunehmen, insbesondere indem

a) auf der Website der Zweitantragsgegnerin www.casinos.at das Angebot „win2day“ als „Die Spieleseite von Casinos Austria & den Österreichischen Lotterien“ bezeichnet und ein gemeinsames Spielangebot der Erst- und Zweitantragsgegnerin dargestellt wird;

b) auf der Website der Erstantragsgegnerin ein gemeinsames „Mission Statement“ der Erst- und Zweitantragsgegnerin angeführt wird, welches gegenüber Kunden ein einheitliches Spieleangebot und einheitliche Qualitäts-Standards suggeriert;

c) im Werbeauftritt der Erstantragsgegnerin Spiele beworben werden, die Konzessionen unterliegen, über die nur die Zweitantragsgegnerin verfügt bzw – umgekehrt – im Werbeauftritt der Zweitantragsgegnerin Spiele beworben werden, die Konzessionen unterliegen, über die nur die Erstantragsgegnerin verfügt.

[11] Sie hätten weiters (Punkt 3. des Antrags) Werbemaßnahmen zu unterlassen, die

a) das Glücksspiel als besonders vielfältig, emotional erfüllend und gewinnbringend (zB durch Schaltung von Werbekampagnen mit dem Slogan „Das Glück ist, wo du bist“) darstellen; und/oder

b) das Glücksspiel als Problemlösung zur Bewältigung finanzieller Schwierigkeiten oder als erstrebenswerte Alternative zur Erwerbstätigkeit (zB durch Schaltung von Werbekampagnen, die bedeutende Gewinne in Aussicht stellen und/oder Werbekampagnen mit dem Slogan „Alles ist möglich.“) darstellen; und/oder

c) Kinder und Jugendliche sowie andere vulnerable Gruppen besonders ansprechen (zB durch Verwendung von Comic-Figuren, wie insbesondere dem „Lotto-Schweinchen“ und dem Rubbellos-Adventkalender); und/oder

d) falsche bzw übertriebene Gewinnwahrscheinlichkeiten kommunizieren (zB durch Schaltung von Werbekampagnen mit dem Slogan „1 Mio EUR garantiert“).

[12] Hilfsweise begehrte die Antragstellerin die Feststellung, dass die Antragsgegnerinnen durch die zu Punkt 1. und Punkt 3. beschriebenen Verhaltensweisen gegen § 5 KartG und Art 102 AEUV verstoßen hätten (Punkt 4. und 6. des Antrags).

[13] Die zu Punkt 2. und 4. gestellten Anträge, den Antragsgegnerinnen zu untersagen, auf ihrer Website und den von ihr betriebenen VLT Glücksspiele anzubieten, die im terrestrischen Bereich im Rahmen von Landesausspielungen mit Glücksspielautomaten angeboten würden, hilfsweise, diese Verhaltensweise als Verstoß gegen § 5 KartG und Art 102 AEUV festzustellen, wurden rechtskräftig abgewiesen und sind nicht Gegenstand des Rekursverfahrens.

[14] Soweit für das Rekursverfahren relevant, brachte die Antragstellerin zusammengefasst vor, Erst- und Zweitantragsgegnerin seien kartellrechtlich betrachtet Teil desselben Unternehmens (Ö*/C*-Gruppe). Sie seien gemeinsam im Bereich des Automatenglücksspiels, des Online-Glücksspiels und der Spielbanken marktbeherrschend. Sie stünden in Niederösterreich und Kärnten im Wettbewerb mit der Antragstellerin, weil ihr Spielangebot im Bereich des Online-Glücksspiels und das Spielangebot auf den in Spielbanken betriebenen Glücksspielautomaten weitgehend die gleichen Spiele umfasse wie sie auf den Glücksspielautomaten der Antragstellerin angeboten würden.

[15] Die Antragsgegnerinnen behinderten die Antragstellerin und alternative Anbieter – soweit rekursgegenständlich – dadurch, dass sie ihr Spielangebot als integriertes, einheitliches Angebot darstellten, obwohl die Produkte auf unterschiedlichen Konzessionen beruhten, sowie dadurch, dass sie für ihr Angebot exzessive, den einschlägigen Vorschriften zuwider laufende Werbung betrieben.

[16] Durch die Querverweise auf den Websites der Erst- und der Zweitantragsgegnerin auf das Angebot der jeweils anderen würden Spieler leichter in andere Glücksspielsparten gelockt. Die Bewerbung eines integrierten Angebots entfalte eine stärkere Sogwirkung als die Bewerbung einzelner Produkte. Hingegen könne die Antragstellerin ihre Werbung nur am eigenen, nicht auch in benachbarten Märkten platzieren. Die Antragsgegnerinnen betrieben eine extensive Werbestrategie, um Neukunden zu gewinnen und Kunden aus anderen Glücksspielsparten dem Online-Glücksspiel zuzuführen. Ihre Werbestrategie verstoße zumindest zum Teil gegen die vom EuGH entwickelten und vom GSpG normierten Anforderungen an Glücksspielwerbung.

[17] Durch das Verhalten der Antragsgegnerinnen würden Marktteilnehmer wie die Antragstellerin auf lange Sicht vom Markt für Automatenglücksspiel verdrängt. Im Zeitraum 2017 bis 2021 sei der Marktanteil des Online‑Segments innerhalb des Gesamt-Glücksspielmarkts gestiegen, während das stationäre Marktsegment rückläufig gewesen sei.

[18] Die Antragsgegnerinnen nutzten ihre Monopolstellung in den Märkten für Online-Glücksspiel („elektronische Lotterien“) und Spielbanken, sowie ihre (gemeinsam mit anderen Marktteilnehmern) bestehende marktbeherrschende Stellung auf dem Markt für Automatenglücksspiel, um Neukunden anzuwerben, Kunden von Wettbewerbern aus dem Bereich der Landesausspielungen abzuwerben und um andere Marktteilnehmer gezielt vom Markt abzuschotten. Es bestehe ein zunehmender wechselseitiger Wettbewerb zwischen Online- und Offline‑Glücksspiel. Dabei handele es sich um benachbarte, eng miteinander verbundene Märkte; mittlerweile sei sogar von einem einheitlichen Markt für Automatenglücksspiel auszugehen, der auch Online-Glücksspiel umfasse.

[19] Rechtlich sei auch das sogenannte Leveraging, die Ausdehnung einer marktbeherrschenden Stellung auf einen nicht beherrschten, etwa einen benachbarten oder vor- bzw nachgelagerten Markt, verpönt.

[20] Im konkreten Fall bedienten sich die Antragsgegnerinnen nicht marktkonformer Mittel, indem sie ihr Spielangebot als einheitlich darstellten, obwohl es auf unterschiedlichen Konzessionen beruhe und exzessive, gegen die einschlägigen Vorschriften verstoßende Werbung betreibe. Diese Verhaltensweisen seien geeignet, den Markt für Automatenglücksspiel in Niederösterreich und Kärnten für die Antragstellerin abzuschotten, weil Kunden auf diesen Märkten zu den „Monopolmärkten“ der Antragsgegnerinnen abgesaugt werden könnten. Wettbewerber der Antragsgegnerinnen im Bereich des Automatenglücksspiels hätten nicht die Möglichkeit eines gleich umfassenden Kundenanspruchs. Darüber hinaus beschränke sich die Werbung der Antragsgegnerinnen nicht auf das Maß, das erforderlich sei, um die Verbraucher zu den legalen Spielmöglichkeiten zu lenken, sondern diene der Gewinnung von Neukunden. Die Werbestrategie werde der besonderen Verantwortung der Antragsgegnerinnen als marktbeherrschende Unternehmen nicht gerecht.

[21] Die Antragsgegnerinnen beantragten die Antragsabweisung. Sie bestritten einen einheitlichen Marktauftritt oder Cross-Promotion, aus denen sich ein Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung ergebe. Die Bezeichnung des Angebots von „win2day“ als „Die Spieleseite von Casinos Austria & den Österreichischen Lotterien“ habe sich nur in der Vergangenheit auf der Website der Zweitantragsgegnerin gefunden. Nur in Zeiten behördlich angeordneter Covid-Schließungen von Casino-Standorten der Zweitantragsgegnerin habe sich auf deren Website ein Hinweis auf das Spielangebot von „win2day“ gefunden. Das gerügte einheitliche „Mission-Statement“ enthalte keine Werbung oder Details zum Spielangebot und sei üblich. Die behauptete Sogwirkung der „Querverweise“ sei unwahrscheinlich, weil die unterschiedlichen Glücksspiel-Segmente weitestgehend unterschiedliche Kundensegmente bedienten. Selbst wenn eine Sogwirkung hin zum Online-Glücksspielangebot der Erstantragsgegnerin entstünde, entspräche dies ihrem Auftrag, das Online-Glücksspiel hin zum legalen Angebot und von den in diesem Bereich höchst präsenten konzessions- und bewilligungslos agierenden Anbietern weg zu kanalisieren. Der Vorwurf, der einheitliche Marktauftritt gehe zu Lasten der Wettbewerber im Bereich des terrestrischen Glücksspiels greife nicht, weil die Antragsgegnerinnen nicht gegen das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung verstießen.

[22] Die einzelnen Werbemaßnahmen (Slogans) der Antragsgegnerinnen seien (aus näher ausgeführten Gründen) nicht in der vorgeworfenen Art und Weise problematisch. Sie stünden im Einklang mit dem Unionsrecht und dem GlSpG und seien erforderlich, um Spieler von konzessionslos agierenden Online-Anbietern hin zum legalen Angebot zu kanalisieren.

[23] Es treffe nicht zu, dass die Antragsgegnerinnen aufgrund des gesetzlichen Glücksspielmonopols keinem Wettbewerb ausgesetzt seien, weil die Erstantragsgegnerin im Bereich elektronischer Lotterien im Wettbewerb mit Unternehmen stehe, die jedenfalls in Österreich über keine Konzession verfügten; die Spielbanken stünden im Wettbewerb mit im Ausland gelegenen Casinos und im Hinblick auf das Automatenangebot mit Automatensalons. Es bestehe kein einheitlicher Markt für Automatenglücksspiel, der neben dem terrestrischen Spiel auch Online-Glücksspiel umfasse. Dass Online-Glücksspiel einen benachbarten Markt zum Automatenglücksspiel darstellen könne, sei denkbar, könne aber dahinstehen, weil das Verhalten der Antragsgegnerinnen nicht missbräuchlich sei. Aus demselben Grund könne auch dahinstehen, ob die Antragsgegnerinnen auf dem Markt für Automatenglücksspiel in Niederösterreich und Kärnten marktbeherrschend seien.

[24] Der behauptete Abschottungseffekt auf den Märkten für Automatenglücksspiel in Niederösterreich und Wien durch ein Absaugen von Kunden hin zu den „Monopolmärkten“ der Antragsgegnerinnen sei tatsächlich nicht beobachtbar. Unter anderem habe die Antragstellerin im Jahr 2020 einen geringeren Rückgang ihres Brutto‑Spielertrags hinnehmen müssen, als dem Anteil der Corona‑bedingten Schließtage von Automatensalons entspreche.

[25] Das den Antragsgegnerinnen vorgeworfene Verhalten entspreche keiner der in der Rechtsprechung anerkannten Fallgruppen. Die Antragsgegnerinnen würden auch keine exzessive Werbung betreiben, sondern lediglich in dem Maß, das erforderlich sei, um die Verbraucher zu den kontrollierten legalen Spielenetzwerken zu lenken.

[26] Das Kartellgericht wies die Anträge ab.

[27] Rechtlich erörterte es, die Beurteilung, ob den Antragsgegnerinnen auf den Märkten für Automatenglücksspiel in Kärnten und in Niederösterreich sowie auf dem Markt für Online-Glücksspiel eine marktbeherrschende Stellung zukomme, könne offen bleiben, weil die beanstandeten Verhaltensweisen die Grenze zur Missbräuchlichkeit iSd § 5 KartG bzw Art 102 AEUV nicht überschritten. Soweit für das Rekursverfahren relevant, führte das Erstgericht dazu aus:

[28] Die den Antragsgegnerinnen vorgeworfenen (noch rekursgegenständlichen) Verhaltensweisen fielen in keine der etablierten Fallgruppen nach § 5 KartG bzw Art 102 AEUV. Sonstige Verhaltensweisen des Marktbeherrschers, durch die Wettbewerber, Handelspartner oder Verbraucher geschädigt oder die Strukturen des Markts beeinträchtigt würden, könnten den Vorwurf des Missbrauchs im Sinn der Generalklausel des § 5 KartG bzw Art 102 AEUV nur bei Hinzutreten weiterer Tatumstände wie etwa dem Fehlen objektiver Rechtfertigungsgründe, der Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der Verwendung unlauterer oder leistungsfremder Mittel sowie einer erheblichen Behinderung des Restwettbewerbs begründen.

[29] Unter „Leveraging“ verstehe man den Einsatz einer Hebelwirkung durch ein marktbeherrschendes Unternehmen, mit dem es seine marktbeherrschende Stellung ausnütze, um selbige auf einem anderen Markt auszudehnen. Nach der europäischen Rechtsprechung könne darin ein Marktmissbrauch liegen. Zur Entfaltung einer Hebelwirkung kämen unterschiedliche Verhaltensweisen in Betracht, insbesondere Kopplungen, Liefer- bzw Geschäftsverweigerungen und Preisunterbietungen (Diskriminierungsmissbrauch). Nach der Entscheidung des EuGH Tetra Pak II könnten nur besondere Umstände eine Anwendung von Art 102 AEUV auf ein Verhalten rechtfertigen, das auf dem verbundenen, nicht dem beherrschten Markt festgestellt worden sei und sich dort auswirke. Die bisherige Entscheidungspraxis zum Marktmachttransfer basiere im Wesentlichen auf der Fallgruppe der Kopplung und betreffe komplementäre Güter bzw Dienstleistungen auf eng verbundenen Märkten, bei denen die Bedarfsmarktträger des einen Markts notwendigerweise als potentielle Kunden des anderen Markts in Frage kämen. Den Entscheidungen zum Marktmachttransfer (EuGH Tetra Pak II; EuG T-201/04 Microsoft; T-612/17 Google Shopping; OGH 16 Ok 11/04 TikTak-Tarif; Décision 14-D-04 PMU der französischen Wettbewerbsbehörde)sei immanent, dass sich Unternehmen ihre auf einem Markt bestehende Marktmacht zunutze machten, um auf einem Komplementärmarkt, auf dem Wettbewerb bestehe, Marktmacht zu erlangen oder diese auszubauen.

[30] Im vorliegenden Fall behaupte die Antragstellerin nicht, dass die Antragsgegnerinnen ihre Marktmacht (jedenfalls) im Bereich des konzessionierten Glücksspielmarkts als Hebel zur Ausweitung ihrer Marktmacht im Bereich des terrestrischen Automatenglücksspiels nützten: Sie wende sich vielmehr allgemein gegen die Verdrängung des terrestrischen Automatenglücksspiels durch das Online-Glücksspiel. Der Trend zur Digitalisierung müsse aber nicht weiter untersucht werden, weil die den Antragsgegnerinnen als Leveraging vorgeworfenen Verhaltensweisen mit den inkriminierten Verhaltensweisen in den zitierten Entscheidungen, gemessen am Beispielkatalog des § 5 KartG und Art 102 AEUV, nicht annähernd vergleichbar seien.

[31] Zwar seien der Markt für Automatenglücksspiel und der Markt für Online-Glücksspiel verwandt, die Kunden des einen Markts seien aber nicht notwendiger Weise potentielle Kunden des anderen Markts. Dass potentiellen Kunden am Markt für Automatenglücksspiel ein besonderer Anreiz zur Inanspruchnahme des Spielangebots der Antragsgegnerinnen geboten werde, behaupte die Antragstellerin nicht einmal.

[32] Allein die – gesetzlich nicht verbotene – gegenseitige Bewerbung und der gemeinsame Marktauftritt der iSd § 7 Abs 4 KartG iVm § 15 Abs 2 AktG verbundenen Unternehmen wichen nicht von den Mitteln eines leistungsgerechten Dienstleistungswettbewerbs ab.

[33] Soweit die Antragstellerin ein missbräuchliches Verhalten der Antragsgegnerinnen darin erblicke, dass diese ihr Spielangebot in exzessiver und rechtswidriger Weise bewerben würden, judiziere der Oberste Gerichtshof in Übereinstimmung mit dem Verfassungsgerichtshof und dem Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass das österreichische System der Glücksspielkonzessionen nach gesamthafter Würdigung aller tatsächlichen Auswirkungen auf den Glücksspielmarkt und unter Bedachtnahme auf die auch vorliegend inkriminierten Werbemaßnahmen der Konzessionäre nicht gegen das Unionsrecht verstoße. Wenn im Rahmen einer Gesamtwürdigung die Werbemaßnahmen der Konzessionärinnen den strengen unionsrechtlichen Vorgaben, die den freien Wettbewerb am europäischen Markt bezweckten, genügten und zur Zielerreichung der Kanalisierung weg vom illegalen Glücksspiel erforderlich erschienen, könnten sie auch nicht die Schwelle der Missbräuchlichkeit iSd § 5 KartG bzw Art 102 AEUV überschreiten.

[34] Die Werbemaßnahmen, die die Antragstellerin deshalb als nicht dem verantwortungsvollen Maßstab entsprechend qualifiziere, weil sie das Glücksspiel als vielfältig, emotional erfüllend und gewinnbringend, als Problemlösung zur Bewältigung finanzieller Schwierigkeiten und Alternative zur Erwerbstätigkeit darstellten, Kinder, Jugendliche und andere vulnerable Gruppen ansprächen und übertriebene Gewinnerwartungen weckten, enthielten darüber hinaus ausschließlich für das gesamte Glücksspiel geltende Botschaften. Die Antragstellerin lege nicht plausibel dar, inwiefern diese Werbeaussagen geeignet sein könnten, sie oder andere Wettbewerber vom Markt für Automatenglücksspiel in Niederösterreich oder Kärnten zu verdrängen. Es fehle daher insgesamt an den vom EuGH geforderten besonderen Umständen für einen Marktmissbrauch iSd § 5 KartG oder Art 102 AEUV.

[35] Dagegen richtet sich der auf die Rekursgründe der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, der Aktenwidrigkeit, der erheblichen Bedenken gegen die Richtigkeit entscheidungswesentlicher Tatsachen und der Mangelhaftigkeit des Verfahrens gestützte Rekurs der Antragstellerin, mit dem sie beantragt, den angefochtenen Beschluss dahin abzuändern, dass den Abstellungsanträgen, hilfsweise den Feststellungsanträgen, stattgegeben werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[36] Die Antragsgegnerinnen beantragen in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[37] Der Rekurs ist nicht berechtigt.

Zur Aktenwidrigkeit

[38] 1.1. Eine Aktenwidrigkeit ist nur gegeben, wenn Feststellungen auf aktenwidriger Grundlage getroffen werden, das heißt, wenn der Inhalt einer Urkunde, eines Protokolls oder eines sonstigen Aktenstücks in einem wesentlichen Punkt (RIS‑Justiz RS0043324 [T2]) unrichtig wiedergegeben wird, was dazu führt, dass ein fehlerhaftes Sachverhaltsbild der rechtlichen Beurteilung unterzogen wurde (vgl RS0043347; RS0007258; 16 Ok 4/20d Rz 129 ff).

[39] 1.2. Als aktenwidrig rügt der Rekurs die Ausführungen des Erstgerichts im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung, dass „Kunden des einen Markts nicht notwendiger Weise potentielle Kunden des anderen Markts“ seien. Aus dem Gesamtzusammenhang ergibt sich allerdings, dass das Erstgericht ohnehin rechtlich davon ausging, dass der Markt für Automatenglücksspiel und der Markt für Online-Glücksspiel verwandt sind: Insofern stehen seine Ausführungen mit der Erörterung in der mündlichen Verhandlung am 21. 6. 2022 im Einklang, wonach zwischen den Parteien Einigkeit darüber besteht, dass „der Markt für Online-Glücksspiel zum Markt für Automatenglücksspiel ein benachbarter Markt ist und dass Kunden des Automaten-Glücksspielmarkts auch Kunden des Online-Glücksspielmarkts sein könnten“. Die beanstandeten Ausführungen des Erstgerichts stehen zu dieser Erörterung weder im Hinblick auf den tatsächlichen Aspekt (Kundenkreise) noch im Hinblick auf die rechtliche Qualifikation als benachbarte Märkte im Widerspruch. Ausgedrückt wird lediglich die vom Erstgericht gezogene Schlussfolgerung, dass es sich nicht um Komplementärmärkte in dem Sinn handelt, dass die auf beiden Märkten gehandelten Dienstleistungen nur gemeinsam verwendet werden können, sodass Kunden, die Bedarfsträger des einen Markts sind, notwendig als potentielle Kunden auf dem anderen Markt in Frage kommen (wie dies etwa in der Entscheidung 16 Ok 4/11, TikTak-Tarif, zu Anschlussleistungen für Festnetztelefonie und Verbindungsentgelten der Fall war [ErwGr 1.1.1.]).

[40] Eine Aktenwidrigkeit ist in den beanstandeten Ausführungen daher nicht zu erblicken.

Zur Tatsachenrüge

[41] 2.1. Nach § 49 Abs 3 KartG kann sich der Rekurs auch darauf gründen, dass sich aus den Akten erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der der Entscheidung des Kartellgerichts zugrunde liegenden Tatsachen ergeben. Nach der auf § 49 Abs 3 KartG übertragbaren Rechtsprechung zu § 281 Abs 1 Z 5a StPO ist dafür erforderlich, dass aktenkundige Beweisergebnisse vorliegen, die nach allgemein menschlicher Erfahrung gravierende Bedenken gegen die Richtigkeit der bekämpften Feststellungen aufkommen lassen, somit intersubjektiv – gemessen an Erfahrungs- und Vernunftsätzen – eine unerträgliche Fehlentscheidung qualifiziert nahe legen (16 Ok 3/22k, BWB/Facebook, Rz 78 f mwN).

[42] 2.2. Im vorliegenden Fall wendet sich der Rekurs gegen die auch als aktenwidrig beanstandeten Ausführungen des Erstgerichts und strebt die Feststellung an, dass Kunden auf dem einen Glücksspielmarkt auch zumindest potentielle Kunden auf anderen Glücksspielmärkten sein könnten.

[43] Ein Fall des § 49 Abs 3 KartG wird damit nicht aufgezeigt. Vielmehr sind zugestandene Tatsachen, über die zwischen den Parteien Einigkeit besteht (hier: im Sinn der Erörterung in der mündlichen Verhandlung am 21. 6. 2022), der Entscheidung ohnehin ohne weiteres zugrunde zu legen (vgl RS0040110). Dass die Kunden des einen Glücksspielmarkts notwendiger Weise potentielle Kunden auch des anderen Glücksspielmarkts wären, wird hingegen im Rekurs gar nicht behauptet.

Zur Mangelhaftigkeit des Verfahrens

[44] 3.1. Auch im kartellgerichtlichen Verfahren muss ein Verfahrensmangel wesentlich, also geeignet sein, eine unrichtige Entscheidung des Kartellgerichts herbeizuführen (RS0043027 [T12]; vgl auch RS0043049), was vom Rechtsmittelwerber darzulegen ist (RS0043027 [T13]).

[45] 3.2. Mangelhaft soll das Verfahren des Erstgerichts geblieben sein, weil dieses weder von Amts wegen noch durch Aufnahme von seitens der Antragstellerin angebotenen Beweisen (Offenlegung von Nutzerdaten betreffend Querverweise auf Webseiten der Antragsgegnerinnen sowie Einholung eines werbepsychologischen Gutachtens) ein Beweisverfahren dazu durchführte, ob der einheitliche Marktauftritt der Antragsgegnerinnen geeignet sei, Spieler zu den Spielangeboten der Antragsgegnerinnen überhaupt beziehungsweise „über ihren Kanalisierungsauftrag hinaus“ hinzuleiten.

[46] Mit diesem Vorbringen ist die Relevanz der unterbliebenen Beweisaufnahmen schon deshalb nicht dargetan, weil gar nicht vorgebracht wird, dass sich bei Durchführung des Beweisverfahrens ein Einfluss des Marktauftritts der Antragsgegnerinnen konkret auf die Märkte für Automatenglücksspiel in Niederösterreich und Kärnten ergeben hätte. Dass der Marktauftritt und Werbemaßnahmen schlechthin und ohne Spezifizierung der betroffenen Märkte Spieler angezogen hätten, reicht für die Annahme eines Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung iSv § 5 KartG und Art 102 AEUV nicht aus.

Zur Rechtsrüge

[47] 4.1. Vorauszuschicken ist, das der Oberste Gerichtshof die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts sowohl im Ergebnis als auch in der methodischen Ableitung billigt, sodass darauf verwiesen werden kann (§ 60 Abs 2 AußStrG).

[48] 4.2. Nach § 5 Abs 1 KartG ist der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung verboten. Dieser Missbrauch kann insbesondere in den in § 5 Abs 1 Z 1 bis 5 KartG aufgezählten Verhaltensweisen bestehen.

[49] Nach Art 102 Abs 1 AEUV ist die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Dieser Missbrauch kann insbesondere in den in Art 102 Abs 2 lit a bis d AEUV angeführten Verhaltensweisen bestehen.

[50] Nach ständiger Rechtsprechung sind für die Beurteilung der Generalklausel und der beispielhaft angeführten Missbrauchstatbestände nach dem Kartellgesetz auch Art 102 AEUV und die dazu ergangenen Entscheidungen heranzuziehen (RS0110382 [T5]).

[51] 4.3. Beide Normen sind in Form einer Generalklausel mit beispielhafter Aufzählung strukturiert (Lewisch in Jaeger/Stöger, EUV/AEUV, Art 102 AEUV, Stand 1. 10. 2021, rdb.at, Rz 4, 100, 269; Reidlinger/Erharter in Egger/Harsdorf-Borsch, Kartellrecht [2022] § 5 Rz 5). Mögliche, gemäß der Generalklausel erfassbare missbräuchliche Verhaltensweisen lassen sich der Natur der Sache gemäß nicht abschließend bestimmen (Lewisch in Jaeger/Stöger, EUV/AEUV, Art 102 AEUV Rz 271).

[52] 4.4. Nach der ständigen europäischen Rechtsprechung sowie der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs werden sämtliche Verhaltensweisen eines Unternehmers in beherrschender Stellung als missbräuchlichbezeichnet, die die Struktur eines Markts beeinflussen können, auf dem der Wettbewerb gerade wegen der Anwesenheit des fraglichen Unternehmers bereits geschwächt ist, und die die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder dessen Entwicklung durch die Verwendung von Mitteln behindern, die von den Mitteln eines normalen Produktwettbewerbs oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistungen der Marktbürger abweichen (grundlegend EuGH 85/76 , Hoffmann-La Roche Rz 91; vgl die weiteren Nw bei Bulst in Bunte, Kartellrecht Bd 214 [2022] Art 102 AEUV Rz 86; zur österreichischen Rechtsprechung siehe RS0063530; jüngst 16 Ok 1/20p, Simulcrypt-Vereinbarung, ErwGr 2.1.1.).

[53] Insofern ist bei der Prüfung, ob eine missbräuchliche Ausnützung einer marktbeherrschenden Stellung vorliegt, stets eine sorgfältige Abwägung der einander widerstreitenden Interessen vorzunehmen (RS0063530 [T11] = RS0114137 [T4]).

[54] 4.5. Aus dieser Missbrauchsdefinition ergibt sich auch, dass die marktbeherrschende Stellung als solche nicht tatbestandsmäßig ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH hat Art 102 AEUV keineswegs das Ziel, zu verhindern, dass ein Unternehmen auf einem Markt aus eigener Kraft eine beherrschende Stellung einnimmt; ebenso wenig soll diese Vorschrift gewährleisten, dass sich Wettbewerber, die weniger effizient sind als das Unternehmen in beherrschender Stellung, weiterhin auf dem Markt halten. Der Wettbewerb wird also nicht unbedingt durch jede Verdrängungswirkung verzerrt. Leistungswettbewerb kann vielmehr definitionsgemäß dazu führen, dass Wettbewerber, die weniger leistungsfähig und daher für die Verbraucher im Hinblick insbesondere auf Preise, Auswahl, Qualität oder Innovation weniger interessant sind, vom Markt verschwinden oder bedeutungslos werden (EuGH C-413/14P , Intel, Rz 134; EuG T-612/17 , Google Shopping, Rz 157, je mwN).

[55] Das Unternehmen, das eine beherrschende Stellung innehat, trägt jedoch eine besondere Verantwortung dafür, dass es durch sein Verhalten einen wirksamen und unverfälschten Wettbewerb auf dem Gemeinsamen Markt nicht beeinträchtigt (EuGH C-413/14P , Intel, Rz 135; C‑23/14 , Post Danmark II, Rz 71; C‑209/10 , Post Danmark, Rz 23, je mwN).

[56] 4.6. Zur Frage der Marktdivergenz sprach der Oberste Gerichtshof bereits in der Entscheidung 16 Ok 11/04, TikTak-Tarif, unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH aus, dass missbräuchliches Verhalten eines Unternehmens auf einem anderen Markt als dem, den es beherrscht, gegen das kartellrechtliche Missbrauchsverbot verstößt, wenn beide Märkte so eng miteinander verbunden sind, dass Kunden des einen Markts zugleich auch als potentielle Kunden auf dem anderen Markt in Frage kommen (16 Ok 11/04 ErwGr 1.1.1. unter Hinweis auf EuGH C‑333/94 , Tetra Pak II, Rz 28 ff; vgl RS0119533).

[57] 5.1. Die Antragstellerin rügt in ihrem Rekurs, das Erstgericht lege seiner Missbrauchsprüfung ein zu enges rechtliches Verständnis zugrunde. Missbräuchliche Verhaltensweisen, die nach der Generalklausel beanstandet würden, müssten keine „höhere Schwelle“ erreichen, indem zusätzliche Tatumstände hinzutreten müssten. Es komme rein darauf an, ob das Marktgeschehen durch Mittel, die nicht dem Leistungswettbewerb entsprächen, negativ beeinflusst werde. Sie nimmt damit Bezug auf die Ausführungen des Erstgerichts, wonach die „geforderten besondere Umstände“ für die Qualifikation der beanstandeten Verhaltensweisen als Missbrauch iSd § 5 KartG und Art 102 AEUV nicht vorlägen.

[58] 5.2. In der Literatur wird von manchen Autoren ein – wenn auch nur relativer – praktischer Unterschied zwischen den normierten Beispielfällen und der Generalklausel darin gesehen, dass ein marktbeherrschendes Unternehmen bei Erfüllung eines der in Art 102 Abs 2 AEUV angeführten Beispieltatbestände in aller Regel auch missbräuchlich iSd Abs 1 handle, während sonstige Verhaltensweisen des Marktbeherrschers, durch die Wettbewerber, Handelspartner oder Verbraucher geschädigt oder die Strukturen des Markts beeinträchtigt würden, nur bei Hinzutreten weiterer Tatumstände den Vorwurf des Missbrauchs begründeten. Zu diesen Umständen zählten das Fehlen objektiver Rechtfertigungsgründe, die Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, die Verwendung unlauterer oder leistungsfremder Mittel sowie eine erhebliche Behinderung des Restwettbewerbs (Schröter/Bartl in Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europäisches Wettbewerbsrecht² [2014] Art 102 AEUV Rz 175 mNw der Rechtsprechung des EuGH zu den genannten Umständen).

[59] Andere Autoren erkennen in der Rechtsprechung zu Art 102 AEUV (insgesamt) primär eine fallgruppenbezogene Vorgehensweise, die zu befürworten sei, weil die normierten Regelbeispiele zu viele Lücken, Zufälligkeiten und Überschneidungen aufwiesen, um als Grundlage einer systematischen Auslegung des Missbrauchsbegriffs dienen zu können. Angesichts der Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe in den Regelbeispielen lasse sich nicht einmal die Aussage treffen, dass sich dort ein Missbrauch substanziell leichter feststellen lasse als bei einer Anwendung der Generalklausel (Fuchs in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht6 [2019] Art 102 AEUV Rz 133).

[60] 5.3. Auf die in der Literatur unterschiedlich vorgenommene Systematisierung der Rechtsprechung zu Art 102 AEUV – wonach bestimmte Umstände entweder als Charakteristikum einer Fallgruppe oder als „weiterer Tatumstand“ eingeordnet werden – kommt es allerdings im vorliegenden Fall nicht entscheidend an.

[61] Die Antragstellerin geht vielmehr selbst davon aus (Rekurs Rz 24), dass es im vorliegenden Fall, in dem unstrittig keiner der in Art 102 Abs 2 AEUV und § 5 Abs 1 Z 1 bis 5 KartG aufgezählten Beispieltatbestände erfüllt ist, primär darauf ankommt, ob die Antragsgegnerinnen Mittel einsetzen, die nicht dem normalen Leistungswettbewerb zugeordnet werden können. Eine „höhere Schwelle“ im Sinn eines zu engen Prüfungsmaßstabs ist mit diesem Erfordernis nicht verbunden und wurde vom Erstgericht, das einerseits den Einsatz von außerhalb des Leistungswettbewerbs liegenden Mitteln, andererseits das Vorliegen einer von der Rechtsprechung anerkannten Fallgruppe verneinte, in der konkreten Beurteilung des vorliegenden Falls – ungeachtet der Formulierung, es fehle an den „geforderten besonderen Umständen“ – auch nicht zugrunde gelegt.

[62] 6.1. Bei der Hebelwirkung (Leveraging) handelt es sich um einen Sammelbegriff, der sich auf die Auswirkungen bezieht, die eine auf einem Markt angewandte Praxis auf einem anderen Markt entfalten kann (EuG T‑612/17 , Google Shopping, Rz 163). Nach der europäischen Rechtsprechung kann im Einsatz einer Hebelwirkung im Sinn eines Marktmachttransfers ein Marktmissbrauch liegen (EuGH C‑333/95 4P, Tetra Pak II, Rz 22 ff; EuG T‑612/17 , Google Shopping Rz 163). Wie vom Erstgericht herausgearbeitet, wurde in der nationalen und europäischen Rechtsprechung ein Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung durch Marktmachttransfer (Leveraging) insbesondere in Fällen der Kopplung von komplementäre Gütern oder Dienstleistungen erkannt. Dies betraf eng verbundene Märkte, die so strukturiert waren, dass die Bedarfsmarktträger des einen Markts notwendigerweise als potentielle Kunden des anderen Markts in Frage kamen (EuGH C‑333/95 4P, Tetra Pak II, Rz 29; vgl EuG T‑201/04 , Microsoft, Rz 921 ff; OGH 16 Ok 11/04, TikTak-Tarif [ErwGr 1.1.1.]).

[63] Die Entscheidung 16 Ok 11/04 (TikTak-Tarif) des Obersten Gerichtshofs wertete nicht das bloße Anbieten von Verbindungsleistungen durch das den Markt für Anschlussleistungen (für Festnetz-Telefonie) monopolartig beherrschende Unternehmen als missbräuchlich, sondern den Umstand, dass die dortige Antragsgegnerin ihren Kunden die komplementären Dienstleistungen Anschlussleistung und Verbindungsentgelt als – von den übrigen Marktteilnehmern nicht vergleichbar und konkurrenzfähig anbietbare – Kombination mit erheblichen wirtschaftlichen Anreizen (Anschlussleistung gratis oder kostenvermindert und Freiminuten) anbot.

[64] In der Entscheidung Microsoft (EuG T‑201/04 ) wurde Microsoft vorgeworfen, sein Quasi-Monopol auf dem Markt für Betriebssysteme für Client-PCs mittels einer Hebelwirkung zur Beeinflussung des Markts für Betriebssysteme für Arbeitsgruppenserver zu nutzen. Als missbräuchlich wurde nicht die beherrschende Marktmacht an sich angesehen, sondern die Weigerung von Microsoft, ihren Konkurrenten Interoperabilitätsinformationen zur Verfügung zu stellen. Das zweite missbräuchliche Verhalten bestand darin, dass Microsoft die Bereitstellung des Windows-Betriebssystems vom gleichzeitigen Erwerb des Windows Media Player abhängig machte.

[65] Die Entscheidung des EuG Google Shopping (T‑612/17 ) erkannte einen Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung darin, dass Google durch die auf seinen allgemeinen Suchergebnisseiten gezielt vorgenommene bessere Platzierung seines eigenen Produktvergleichsservice im Vergleich zu Produktvergleichsdiensten von Mitbewerbern den Markt für derartige Dienste abschottete und Wettbewerber und den Wettbewerb schwächte.

[66] In einem Verfahren vor der französischen Wettbewerbsbehörde gegen den Monopolisten im Bereich von Offline-Pferdewetten, PMU, wurde zwar nicht über den Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung durch das „Pooling“ von Offline- und Online-Pferdewetten abgesprochen, das Verfahren wurde aber durch Verpflichtungszusagen beendet. Das beanstandete Verhalten bestand darin, dass die Monopolistin im terrestrischen Wettbereich durch das „Pooling“ von Einsätzen in der Lage war, einen wesentlich größeren Gewinntopf auch für alle online Wettenden zu generieren (Autorité de la concurrence, Entscheidung 14-D-04).

[67] Unter dem Sammelbegriff der Hebelwirkung können darüber hinaus auch Praktiken der Margenbeschneidung oder Treuerabatte fallen (vgl EuG T‑612/17 , Google Shopping, Rz 163 unter Hinweis auf T‑336/07 , Telefónica und Telefónica de España/Kommission sowie T‑203/01 , Michelin/Kommission).

[68] 6.2. Der Rekurs tritt den rechtlichen Ausführungen des angefochtenen Beschlusses, mit denen das Erstgericht Unterschiede zwischen dem vorliegend behaupteten Sachverhalt und den in der Rechtsprechung entschiedenen Fällen herausarbeitete, nicht konkret entgegen. Er rügt aber den vom Erstgericht mit der bestehenden Rechtsprechung vorgenommenen Vergleich als rechtlich zu kurz greifend.

[69] 6.3. Allein aus dem im Rekurs hervorgehobenen Umstand, dass die Generalklauseln der § 5 KartG und Art 102 Abs 1 AEUV auch neuartige, in der unionsrechtlichen und nationalen wettbewerbsrechtlichen Rechtsprechung noch nicht behandelte Sachverhaltskonstellationen erfassen können, ist aber für die Antragstellerin nichts gewonnen, weil damit über den konkreten Fall nichts ausgesagt ist.

[70] 6.4. Soweit die Antragstellerin ihr Vorbringen wiederholt, die Unternehmensgruppe der Antragsgegnerinnen sei der einzige umfassend tätige Glücksspielkonzern in Österreich, sodass nur die Antragsgegnerinnen Angebote konzernübergreifend bewerben und dadurch potentielle Spieler zu ihren Angeboten hin „absaugen“ könnten, wird damit nicht dargetan, dass sich die Antragsgegnerinnen von den Mitteln des leistungsgerechten Dienstleistungs‑wettbewerbs entfernen. Ebenso ergibt sich daraus nicht, dass es sich beim gemeinsamen Außenauftritt und den „Querverweisen“ um Verhaltensweisen handelt, die den Antragsgegnerinnen aufgrund ihrer besonderen Verantwortung als marktbeherrschende Unternehmen nicht zustünden.

[71] Bei der Werbung für eigene wie auch für von Konzernunternehmen angebotene Produkte handelt es sich nämlich grundsätzlich um Mittel des Leistungswettbewerbs; ein Marktmissbrauch durch den von der Antragstellerin gerügten Marktauftritt und die „Querverweise“ käme daher nur aufgrund der „besonderen Verantwortung“ von marktbeherrschenden Unternehmen in Betracht.

[72] In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen des Erstgerichts zur wettbewerbsbeschränkenden Qualität der beanstandeten Handlungen zu sehen. Das Erstgericht führte aus, die Antragstellerin habe gar nicht behauptet, dass potentiellen Kunden am Markt für Automatenglücksspiel ein besonderer Anreiz zur Inanspruchnahme des Spielangebots der Antragsgegnerinnen geboten würde. Diese Begründung streicht die besonders geringe Eingriffsintensität des vorgeworfenen Verhaltens hervor, das nicht nur keiner der anerkannten Fallgruppen des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung zugeordnet werden kann, sondern sich davon auch qualitativ unterscheidet: Die Auswirkungen eines gemeinsamen Marktauftritts, eines gemeinsamen „Mission Statements“ und von „Querverweisen“ auch auf Produkte des verbundenen Unternehmens beschränken sich auf bloß psychologische Werbeeffekte ohne Anreize wirtschaftlicher Natur oder rechtliche Beschränkungen, wie dies in den in der Rechtsprechung anerkannten Fällen von Behinderungswettbewerb etwa durch Rabattsysteme (vgl etwa EuGH C‑23/14 , Post Danmark II; T‑203/01 , Michelin/Kommission) oder vertragliche Bindungen (zu solchen etwa EuGH C‑333/94P , Tetra Pak II) der Fall ist.

[73] Ausgehend davon hat das Erstgericht im vorliegenden Fall zutreffend den vorgeworfenen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung auch aufgrund einer besonderen Verantwortung der Antragsgegnerinnen verneint.

[74] 6.5. Die gerügten rechtlichen Feststellungsmängel zur marktbeherrschenden Stellung der Antragsgegnerinnen und deren konkretem Ausmaß liegen nicht vor, weil dem behaupteten Verhalten die Missbrauchseignung nicht zu entnehmen ist.

[75] Dass die Unternehmensgruppe der Antragsgegnerinnen als einzige in Österreich alle Glücksspielsegmente abdecken kann, ergibt sich bereits aus den Feststellungen, dass die Erstantragsgegnerin einzige Konzessionärin des Bundes im Rahmen des Glücksspielmonopols gemäß § 14 GSpG ist und die Zweitantragsgegnerin in Österreich über sämtliche aufrechten Konzessionen für Spielbanken gemäß § 21 GSpG verfügt. Auch in diesem Zusammenhang liegen daher keine rechtlichen Feststellungsmängel vor.

[76] 6.6. Aufgrund der Beurteilung des Marktauftritts und der „Querverweise“ der Antragsgegnerinnen als Verhaltensweisen innerhalb eines zulässigen Leistungswettbewerbs muss auch auf die Ausführungen des Erstgerichts, wonach „Kunden des einen Markts nicht notwendiger Weise potentielle Kunden des anderen Markts“ seien, nicht weiter eingegangen werden.

[77] 6.7. Auf konkrete Beanstandungen einzelner Werbemaßnahmen kommt der Rekurs nicht mehr zurück.

[78] 7. Dem Rekurs war daher insgesamt nicht Folge zu geben.

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