European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:009OBA00128.22X.0124.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Arbeitsrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Die 1984 geborene Klägerin begehrt, die von der Beklagten am 15. 2. 2021 zum 31. 5. 2021 ausgesprochene Kündigung wegen Sozialwidrigkeit gemäß § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG für rechtsunwirksam zu erklären.
[2] Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren ab.
Rechtliche Beurteilung
[3] In ihrer gegen das Urteil des Berufungsgerichts erhobenen außerordentlichen Revision macht die Klägerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung gemäß § 502 Abs 1 ZPO geltend:
[4] 1. Der Nichtigkeitsgrund der mangelnden Begründung nach § 477 Abs 1 Z 9 ZPO ist nur dann gegeben, wenn die Entscheidung entweder gar nicht oder so unzureichend begründet ist, dass sie sich nicht überprüfen lässt (RS0007484). Die von der Revisionswerberin behauptete fehlende Begründung des Zulassungsausspruchs des Berufungsgerichts reicht dafür nicht aus.
[5] 2. Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Mangel im erstinstanzlichen Verfahren, der in der Berufung zwar geltend gemacht, vom Berufungsgericht aber verneint wurde, nicht mehr in der Revision erfolgreich gerügt werden (RS0042963). Dieser Grundsatz kann auch nicht durch die Behauptung umgangen werden, das Berufungsverfahren sei – weil das Berufungsgericht der Mängelrüge nicht gefolgt sei – mangelhaft geblieben (RS0042963 [T58]). Nur wenn das Berufungsgericht bei Erledigung einer Mängelrüge die Verfahrensvorschriften unrichtig anwendet oder wenn es sich mit einer Mängelrüge nicht oder unvollständig und daher mit gewichtigen Argumenten nicht befasste oder einen behaupteten Verfahrensmangel mit einer völlig unhaltbaren Begründung verneinte, können gerügte Mängel des Verfahrens erster Instanz noch in dritter Instanz aufgegriffen werden (RS0043086; RS0043144; RS0042963 [T37]). Einen dieser Fälle behauptet die Revisionswerberin gar nicht. Ihre weitere Behauptung, das Berufungsverfahren sei mangelhaft, weil das Berufungsgericht „nicht alle Berufungspunkte meritorisch erledigt“ hätte, bleibt unbegründet, sodass darauf nicht weiter einzugehen ist.
[6] 3. Die Revisionswerberin behauptet weiters eine Aktenwidrigkeit, weil das Berufungsgericht unrichtigen Tatsachenfeststellungen des Erstgerichts gefolgt sei, die mit den vorgelegten Urkunden in Widerspruch stünden. Der Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit liegt jedoch nur dann vor, wenn der Akteninhalt in einem wesentlichen Punkt unrichtig wiedergegeben wird: Aktenwidrigkeit liegt schon begrifflich nicht vor, wenn das Berufungsgericht keine eigenen Feststellungen getroffen, sondern ausschließlich diejenigen des Erstgerichts übernommen hat (RS0043324 [T2, T10]).
[7] 4.1 Eine erfolgreiche Anfechtung einer Kündigung wegen Sozialwidrigkeit nach § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG bedarf des Nachweises, dass die Kündigung wesentliche Interessen des Gekündigten beeinträchtigt (RS0051845; RS0051746). Dabei ist nicht nur die Möglichkeit der Erlangung eines neuen, einigermaßen gleichwertigen Arbeitsplatzes, sondern die gesamte wirtschaftliche und soziale Lage des Arbeitnehmers zu berücksichtigen (RS0051741; RS0051806; RS0051703). Ob die Sozialwidrigkeit der Kündigung nachgewiesen werden konnte, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und stellt – abgesehen von Fällen grober Fehlbeurteilung – in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO dar (8 ObA 46/22f mwH). Das ist auch hier nicht der Fall:
[8] 4.2 Da jede Kündigung die Interessen des Dienstnehmers beeinträchtigt und mit sozialen Nachteilen verbunden ist, müssen Umstände vorliegen, die eine Kündigung für den Arbeitnehmer über das normale Maß hinaus nachteilig machen (RS0051746 [T7]; RS0051753 [T5]). Das Berufungsgericht ist keineswegs bei der Beurteilung der Beeinträchtigung der Interessen der Klägerin durch die Kündigung nur vom prozentuellen Vergleich zwischen dem bisherigen und dem zu erwartenden Einkommen ausgegangen. Es hat vielmehr – worauf die Revision an anderer Stelle ohnehin hinweist – auf die Rechtsprechung Bedacht genommen, wonach bei den Einkommenseinbußen nicht auf starre Prozentsätze abgestellt werden darf (RS0051727 [T10]), sondern alle wirtschaftlichen und sozialen Umstände zueinander in Beziehung zu setzen und nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls zu gewichten sind (RS0110944 [T3]). Die Klägerin hat keine Sorgepflichten, sie kann mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb von sechs Monaten wiederum eine Vollzeitbeschäftigung als Sicherheitsdienst‑, Büro‑ oder Handelsangestellte erlangen. Das monatliche Nettogehalt der Klägerin bei der Beklagten betrug durchschnittlich 1.768,88 EUR, sie ist in der Lage, in Hinkunft ein monatliches Nettogehalt von 1.535,14 EUR zu beziehen. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, das in der voraussichtlichen Nettoeinkommenseinbuße von 13,21 % angesichts der konkreten Umstände des Einzelfalls noch keine ins Gewicht fallende Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lage des Klägers erblickte, hält sich im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung (vgl nur 8 ObA 46/22f mwH).
[9] 4.3 Die Klägerin behauptet unter Berufung auf die Entscheidung 9 ObA 54/12z, wonach für die Beurteilung, ob wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt sind, auch das Gesamteinkommen zu berücksichtigen sei, monatliche Fixkosten von 1.200 EUR, sodass ihr nicht einmal täglich 10 EUR für Grundnahrungsmittel verblieben: Sie übergeht dabei aber, dass es sich bei den genannten und von ihr nicht bestrittenen Beträgen um Nettobeträge exklusive Sonderzahlungen handelt (vgl Urteil des Berufungsgerichts Pkt 3.2). Auch in diesem Zusammenhang zeigt die Klägerin daher keine Korrekturbedürftigkeit der Entscheidung des Berufungsgerichts auf.
[10] 4.4 Bei der Beurteilung des Anfechtungsgrundes des § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG ist auf den Zeitpunkt der durch die angefochtene Kündigung herbeigeführten Beendigung des Arbeitsverhältnisses (Konkretisierungszeitpunkt) abzustellen (RS0051772). Künftige Entwicklungen der Verhältnisse nach der Kündigung sind nur dann in die Beurteilungsgrundlage einzubeziehen, wenn sie mit der Kündigung in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen. Die Interessenbeeinträchtigung muss im Rahmen einer rational nachvollziehbaren Prognose vorhersehbar sein, wobei es auf objektive Faktoren als Folge der Kündigung und deren Vorhersehbarkeit ankommt (9 ObA 81/22k mwH; RS0051785 [T3, T4, T5]). Der von der Revisionswerberin in diesem Zusammenhang behauptete sekundäre Verfahrensmangel liegt nicht vor: bereits das Berufungsgericht hat darauf hingewiesen, dass die Corona‑Krise als vermittlungshemmender Faktor vom berufskundlichen Sachverständigen ohnedies berücksichtigt wurde (Pkt 3.5). Die im Verfahren erster Instanz anwaltlich vertretene Klägerin begehrt erstmals in der Revision die „nunmehr vorherrschende hohe Inflation und die damit einhergehende Teuerungswelle“ zu berücksichtigen. Dabei handelt es sich aber jedenfalls um eine unbeachtliche Neuerung (§ 482 ZPO iVm § 63 Abs 1 ASGG).
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