OGH 11Os50/22w

OGH11Os50/22w28.7.2022

Der Oberste Gerichtshof hat am 28. Juli 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Ristic, BA, als Schriftführerin in der Strafsache gegen * D* wegen des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach §§ 15, 207 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Schöffengericht vom 11. Februar 2022, GZ 79 Hv 104/21g‑33, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0110OS00050.22W.0728.000

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld werden zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung gegen den Ausspruch über die Strafe werden die Akten dem Oberlandesgericht Graz zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * D* der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach §§ 15, 207 Abs 1 StGB idF BGBl I 1998/153 (I/1/a), eines solchen Verbrechens nach § 207 Abs 1 StGB idF BGBl I 1998/153 (I/1/b), des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1, Abs 3 erster Fall StGB und der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB „idF BGBl I 2009/40 bis 31. Juli 2013 und BGBl I 2013/116 ab 1. August 2013“ (I/2), der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 StGB idF BGBl 1974/60 (II/1), der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB idF BGBl I 2006/56 (II/2) und der Vergehen der sittlichen Gefährdung von Personen unter 16 Jahren nach § 208 Abs 1 StGB „idF BGBl I 2004/15 bis 31. Juli 2013 und BGBl I 2013/116 ab 1. August 2013“ (III) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er in D*

I) mit nachgenannten unmündigen Personen außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen an sich vornehmen lassen bzw vorgenommen, indem er

1) zu nicht näher konkretisierbaren Zeitpunkten im Zeitraum 19. November 2000 bis 18. November 2001 die am * 1995 geborene M*

a) mehrfach beim gemeinsamen Fernsehen auf der Couch dazu aufforderte, seinen entblößten steifen Penis anzufassen, wobei es jeweils beim Versuch blieb;

b) bei einem Vorfall aufforderte, mit ihrer Hand seinen entblößten steifen Penis anzufassen und diese zumindest zeitweise unter Führung mit seiner Hand an seinem Penis Masturbationsbewegungen bis zum Samenerguss durchführte;

2) zu nicht näher konkretisierbaren Zeitpunkten in den Jahren 2010 bis 2015, indem er unzählige Male, jedenfalls mehr als zehn Mal pro Jahr, die Hand der am * 2004 geborenen T* nahm, diese zu seinem Penis führte und bei einem Vorfall unter Führung mit seiner Hand den Handverkehr durchführte und gleichzeitig ihren Vaginalbereich äußerlich berührte, wobei die Taten eine an sich schwere Körperverletzung der Genannten, nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung mit dissoziativen und depressiven Anteilen, verbunden mit einer mehr als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung, zur Folge hatten;

II/1) durch die zu I/1/a) und b) dargestellten Handlungen die minderjährige M*, die seiner Aufsicht unterstand, unter Ausnützung dieser Stellung (US 5) zur Unzucht missbraucht;

II/2) durch die zu I/2) dargestellten Handlungen mit der mit ihm in absteigender Linie verwandten minderjährigen (Enkelin) T* jeweils geschlechtliche Handlungen vorgenommen und an sich vornehmen lassen;

III) zu nicht näher konkretisierbaren Zeitpunkten in den Jahren 2010 bis 2015 unzählige Male Handlungen, die geeignet sind, die sittliche, seelische oder gesundheitliche Entwicklung von Personen unter 16 Jahren zu gefährden, vor einer unmündigen Person vorgenommen, um sich dadurch geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, indem er sich in Anwesenheit der am * 2004 geborenen T* wiederholt selbst befriedigte.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die aus Z 4 des § 281 Abs 1 StPO ergriffene, irrig als Berufung wegen Nichtigkeit bezeichnete (RIS‑Justiz RS0099013 [T1 und T2]; Ratz, WK‑StPO § 285d Rz 9) Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.

[4] Entgegen der Verfahrensrüge (Z 4) wurden durch die Abweisung des Antrags auf („wie schon schriftlich in seine[m] Beweisantrag“ – vgl jedoch RIS‑Justiz RS0099099) „Einvernahme des H* K*, des Vaters von T* und Stiefvater von M*, welcher über den gesamten Tatzeitraum mit der Kindesmutter und auch mit den Kindern zusammengelebt hat, teilweise auch mit dem Vater im selben Haus gelebt hat und sich die Vorfälle in diesem Haus zugetragen haben und deswegen wäre es notwendig, H* K* dazu zu befragen, welche Wahrnehmungen er von diesen angeblichen Handlungen hat bzw was er mitbekommen hat bzw auch die Aussagen von S* K* im Verfahren mit der Vorverurteilung und mit ihrem Kenntnisstand zu diesen Geschehnissen wahrheitsgetreu sind.“ (ON 32 S 16), Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht verletzt.

[5] Grundsätzlich ist anzumerken, dass Beweisanträge in der Hauptverhandlung mündlich mit einem deutlich und bestimmt vorgetragenen Begehren zu stellen sind und auch der Verweis auf einen – hier nicht einmal bezeichneten – Schriftsatz diesen Kriterien genügen muss, um beachtlich zu sein (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 310 f, 313 mN aus der Judikatur).

[6] Beweisthemen müssen sich auf entscheidende Tatsachen oder erhebliche Tatumstände beziehen, also auf solche, die nach den Denkgesetzen und der Lebenserfahrung nicht gänzlich ungeeignet sind, den Ausspruch über eine entscheidende Tatsache, das heißt für Schuldspruch oder Subsumtion relevante Tatsachenfeststellungen zu beeinflussen (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 340 f). Schließlich muss gemäß § 55 Abs 1 letzter Satz StPO im Beweisantrag (soweit dies nicht auf der Hand liegt) angegeben werden, aus welchen Gründen zu erwarten ist, dass die Durchführung des begehrten Beweises das vom Antragsteller behauptete Ergebnis erbringen kann (RIS‑Justiz RS0099453, RS0099189).

[7] Der gegenständliche Antrag ließ nicht erkennen, welches Ergebnis (= Beweisthema) die beantragte Beweisaufnahme erwarten lasse und inwieweit dieses für die Schuld‑ oder Subsumtionsfrage von Bedeutung sein soll (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 321, 327).

[8] Zusätzlich wäre es erforderlich gewesen, darzulegen, warum sich H* K* mehr als sechs Jahre später an einen mehrere Jahre umfassenden Tatzeitraum lückenlos erinnern und warum der Genannte während dieses Zeitraums die Möglichkeit gehabt haben sollte, das Verhalten des Angeklagten lückenlos wahrzunehmen (RIS‑Justiz RS0118444 [insbesondere T9]).

[9] Soweit das Beweisbegehren darauf gerichtet war, die Glaubwürdigkeit der S* K* zu erschüttern, genügt der Hinweis, dass die Tatrichter den im Beweisantrag angesprochenen Angaben der Genannten keine schulderhebliche Bedeutung beimaßen (vgl US 8 – vgl Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 340, 350).

[10] Das den Antrag ergänzende Beschwerdevorbringen hat mit Blick auf das aus dem Wesen des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes resultierende Neuerungsverbot auf sich zu beruhen (RIS‑Justiz RS0099618, RS0099117).

 

[11] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – ebenso wie die in der Verfahrensordnung zur Anfechtung kollegialgerichtlicher Urteile nicht vorgesehene (vgl § 283 Abs 1 StPO) Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld – bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die verbleibende Berufung folgt (§ 285i StPO).

 

Bleibt anzumerken:

[12] Der in § 61 Abs 1 zweiter Satz StGB angeordnete Günstigkeitsvergleich ist für jede Tat (im materiellen Sinn) gesondert vorzunehmen (RIS‑Justiz RS0089011). Das Ergebnis dieser Prüfung ist entweder, dass – streng fallbezogen in einer konkreten Gesamtschau der möglichen Unrechtsfolgen (RIS‑Justiz RS0119085 [insbesondere T1], RS0119545 [T1], RS0089014) – die Strafgesetze zur Tatzeit günstiger oder jene zum Urteilszeitpunkt zumindest gleich günstig für den Täter sind (vgl RIS‑Justiz RS0112939; zur Auslegung des Begriffs „Strafgesetze“ in § 61 StGB Ratz, WK‑StPO § 288 Rz 36; zur Bedeutungslosigkeit von Aspekten der – einzelfallbezogenen – Strafbemessung [Z 11 zweiter und dritter Fall] für den Günstigkeitsvergleich siehe auch RIS‑Justiz RS0091928). Je nachdem ist die Subsumtion (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) der (einzelnen) Tat – in vollem Umfang (RIS‑Justiz RS0091798) – entweder nach den Tatzeit‑ oder nach den Urteilszeitgesetzen vorzunehmen. Eine Mischung verschiedener Rechtsschichten ist insoweit unzulässig (RIS‑Justiz RS0119085 [T4, T5], RS0088953).

[20] Davon ausgehend wäre die Subsumtion für jede der vom Schuldspruch umfassten Taten ausschließlich nach den zum Zeitpunkt der Urteilsfällung in erster Instanz geltenden Strafgesetzen vorzunehmen gewesen:

[20] § 207 Abs 1 StGB blieb sowohl während des Zeitraums, in dem die (jeweils einzelnen) Taten begangen wurden (I/1/a und b: Tatzeit 19. November 2000 bis 18. November 2001 und teilweise I/2: Tatzeit 2010 bis 2015) als auch seither bis zum Urteilszeitpunkt unverändert und normierte schon damals eine Strafdrohung von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe; § 212 Abs 1 StGB hatte durchgehend eine solche von bis zu drei Jahren. Solcherart waren die betreffenden Taten laut Schuldspruchpunkte I/a und b sowie korrespondierend II/1 (§ 212 Abs 1 Z 1 StGB) und jene teilweise laut Schuldspruchpunkt I/2 sowie korrespondierend II/2 (§ 212 Abs 1 Z 2 StGB) zur Zeit ihrer Begehung mit gleich strenger Strafe bedroht wie zum Urteilszeitpunkt. Demzufolge sind die Tatgesetze – in ihrer fallkonkreten Gesamtauswirkung – nicht günstiger als die Urteilszeitgesetze, sodass gemäß § 61 zweiter Satz StGB Letztere anzuwenden gewesen wären. Die Taten wären daher neben § 207 Abs 1 StGB § 212 Abs 1 Z 1 StGB (II/1) bzw § 212 Abs 1 Z 2 StGB (II/2) idgF zu unterstellen gewesen.

[13] Aus dem selben Grund wäre auch die Subsumtion zu I/2 des Schuldspruchs nach § 207 Abs 1, teils auch Abs 3 erster Fall StGB jeweils idgF vorzunehmen gewesen. Denn auch die Strafdrohung des (einmal begründeten) § 207 Abs 3 erster Fall StGB (Freiheitsstrafe von fünf bis zu fünfzehn Jahren bei Eintritt einer schweren Körperverletzung) blieb seit der Tatzeit (BGBl I 2009/40 und BGBl I 2013/116) bis zum Urteilszeitpunkt ebenso unverändert wie jene des (mehrmals begründeten § 207 Abs 1 StGB).

[14] Zu III des Schuldspruchs sahen die im Tatzeitraum (2010 bis 2015) geltenden Fassungen des § 208 Abs 3 StGB (BGBl I 2004/15 bis 31. Juli 2013 und BGBl I 2013/116 vom 1. August 2013 bis 31. Dezember 2015) eine Strafdrohung von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe vor. Demgegenüber normiert die seit 1. Jänner 2016 und damit im Zeitpunkt der Urteilsfällung erster Instanz geltende Fassung (BGBl I 2015/112) eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder (alternativ) eine Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen. Somit wäre die geltende Fassung anzuwenden gewesen, weil eine alternativ angedrohte Geldstrafe günstiger ist, als eine erst durch Strafumwandlung (§ 37 StGB) mögliche (RIS‑Justiz RS0088989 [T2]).

[15] Da jedoch die – für den für die Strafbemessung zur Verfügung stehenden Strafrahmen (§ 28 Abs 1 StGB; zur Einordnung einer alternativen Strafdrohung beim Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen vgl Ratz in WK2 StGB § 28 Rz 6) irrelevante – verfehlte Subsumtion (Z 10) unter die zur Tatzeit (anstelle der zum Urteilszeitpunkt) geltende Fassungen den Angeklagten in concreto nicht benachteiligt (§ 290 Abs 1 zweiter Satz StPO), hat es mit diesen Hinweisen sein Bewenden (siehe RIS‑Justiz RS0118870).

[16] Der Kostenausspruch gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

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