OGH 10ObS14/22i

OGH10ObS14/22i28.7.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dora Camba (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Alexander Leitner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Mag. Nora Huemer-Stolzenburg, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, Josefstädter Straße 80, 1081 Wien, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. November 2021, GZ 9 Rs 109/21 x‑26, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00014.22I.0728.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Herabsetzung der der Klägerin aufgrund einer Fehlbeurteilung gewährten Versehrtenrente nach Eintritt einer Verbesserung ihres Gesundheitszustands.

[2] Die Klägerin erlitt am 16. 2. 2010 bei einem Arbeitsunfall Verbrühungen an mehreren Körperteilen sowie im Einzelnen festgestellte Verletzungen der Augen. Mit Bescheid vom 20. 1. 2012 erkannte ihr die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter für die Folgen dieses Unfalls ab 1. 2. 2012 eine Versehrtenrente in Höhe von 35 vH der Vollrente als Dauerrente zu. Zum Zeitpunkt der Erlassung des Gewährungsbescheids bestand aufgrund der Verbrühungen der Haut eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 5 vH sowie aufgrund der unfallkausalen Beeinträchtigungen der Augen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von zumindest 5 vH, insgesamt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von zumindest 10 vH.

[3] Mit Urteil des Erstgerichts vom 8. 10. 2015, GZ * (künftig: Vorprozess), wurde der Klage der Klägerin gegen den Herabsetzungsbescheid vom 9. 4. 2015, der eine Neufeststellung der Versehrtenrente im Ausmaß von 25 vH vorgesehen hatte, stattgegeben und die Weitergewährung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 35 vH der Vollrente mit der Begründung zugesprochen, es liege keine wesentliche Veränderung der Unfallfolgen vor.

[4] Zum Beurteilungszeitpunkt im vorliegenden Verfahren hat sich der Zustand der Haut der Klägerin gegenüber dem ursprünglichen Gewährungszeitpunkt dahin gebessert, dass daraus keine Minderung der Erwerbstätigkeit mehr resultiert. Auch der Zustand ihrer Augen hat sich seit dem Gewährungszeitpunkt in einer im Einzelnen festgestellten Art und Weise gebessert. Die daraus resultierende Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt dennoch 5 vH. Insgesamt verringerte sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Vergleich zwischen dem Gewährungszeitpunkt und dem Beurteilungszeitpunkt um zumindest 5 vH.

[5] Mit dem nunmehr bekämpften Bescheid vom 18. 2. 2021 setzte die Beklagte die Versehrtenrente der Klägerin auf 20 vH der Vollrente herab.

[6] Die Vorinstanzen wiesen die gegen die Herabsetzung gerichtete Klage ab, weil gegenüber dem Gewährungszeitpunkt eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse stattgefunden habe, die gemäß § 94 B-KUVG zur Neubemessung der Rente berechtige.

[7] Das Berufungsgericht ließ die Revision nicht zu.

[8] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision der Klägerin ist nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

[9] 1.1 Die Klägerin erblickt eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung darin, dass das Berufungsgericht den Eintritt einer wesentlichen Veränderung zu Unrecht im Hinblick auf den Gewährungszeitpunkt anstatt im Vergleich zum Beurteilungszeitpunkt des Urteils des Vorprozesses geprüft habe, gegenüber dem keine Verbesserung eingetreten sei.

[10] 1.2 Eine frühere unrichtige Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit kann nicht im Wege des § 183 Abs 1 ASVG – dieser Bestimmung entspricht § 94 Abs 1 B‑KUVG – korrigiert werden (10 ObS 336/89 SSV‑NF 3/140; RS0084142; RS0084151 [T1, T2]). Ausnahmen bestehen nur für Fälle, in denen nach der rechtskräftigen Entscheidung eine maßgebliche Änderung des Sachverhalts eingetreten ist (siehe etwa §§ 99 und 183 Abs 1 ASVG; §§ 40, 94 Abs 1 B‑KUVG). Eine unrichtige Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit könnte daher nur dann von Bedeutung sein, wenn seit der Zuerkennung der Rente eine (hier:) Besserung des Zustands eingetreten ist (10 ObS 336/89; RS0084151 [T1]). Ansonsten steht die materielle Rechtskraft der Gewährungsentscheidung (Urteil, Vergleich) der Entziehung oder Herabsetzung entgegen (vgl 10 ObS 181/19v SSV‑NF 34/6; 10 ObS 65/18h SSV-NF 32/62; 10 ObS 144/17z; RS0110119; RS0106704; RS0083941 [T1]). Als Vergleichsmaßstab ist der Tatsachenkomplex heranzuziehen, der jener Entscheidung zugrunde lag, deren Rechtskraftwirkung bei unveränderten Verhältnissen einer Neufeststellung der Rente im Weg steht (RS0084151).

[11] 1.3 Wenn einem Versehrten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 5 bis 10 vH aufgrund einer Fehlbeurteilung eine Dauerrente gewährt wird, rechtfertigt auch eine geringfügige Verbesserung seines Zustands, die zu einer etwa im Bereich von rund 5 bis 10 vH liegenden Änderung des Maßes der Minderung der Erwerbsfähigkeit führt, eine Entziehung der zu Unrecht gewährten Dauerrente (10 ObS 87/16s SSV‑NF 30/49; RS0084194 [T1], RS0110119 [T4], RS0084142 [T4], RS0084151 [T6]). Maßgeblich war die Erwägung, dass es schwer vertretbar wäre, wenn ein Versehrter, dem eine Dauerrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente zu Recht gewährt wurde, bei einer geringfügigen Verbesserung seines Zustands die Entziehung der Rente in Kauf nehmen muss, während einem Versehrten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von lediglich 5 bis 10 vH die aufgrund einer Fehleinschätzung gewährte Dauerrente trotz Vorliegens einer umfänglich gleichen Verbesserung nicht entzogen werden könnte (10 ObS 87/16s SSV-NF 30/49).

[12] 1.4 Diese Rechtsprechung wird in der Revision nicht in Zweifel gezogen; sie will allerdings den Beurteilungszeitpunkt im Vorprozess über einen früheren Herabsetzungsbescheid als Vergleichsmaßstab heranziehen.

[13] 2.1 Gemäß § 71 Abs 1 ASGG tritt in allen Leistungssachen (mit der hier nicht relevanten Ausnahme der Ersatzansprüche der Träger der Sozialhilfe gemäß § 65 Abs 1 Z 3 ASGG) der Bescheid des Versicherungsträgers durch die rechtzeitige Klageerhebung im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft. Bescheide, die durch den außer Kraft getretenen Bescheid abgeändert worden sind, werden insoweit aber nicht wieder wirksam (§ 71 Abs 1 Satz 2 ASGG). Das Sozialgericht prüft dann selbständig den durch die Klage geltend gemachten sozialversicherungsrechtlichen Leistungsanspruch (RS0084896 [T5]). Im Fall eines Herabsetzungbescheids hat es daher neu zu prüfen, ob etwa eine wesentliche Änderung des Grads der Minderung der Erwerbsfähigkeit eingetreten ist (Neumayr in ZellKomm Arbeitsrecht³ § 72 ASGG Rz 7). Gemäß § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG ist nach Einbringung der Klage die Leistungsverpflichtung, die dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspricht, als vom Versicherungsträger unwiderruflich anerkannt anzusehen. Die als unwiderruflich anerkannte Leistungsverpflichtung ist in den Urteilsspruch aufzunehmen (vgl 10 ObS 59/02b; 10 ObS 149/03i; vgl RS0085721; RS0084896 [T4]; RS0089217).

[14] Wird mit Bescheid eine Leistung herabgesetzt und kommt das Gericht zum Ergebnis, dass eine die Herabsetzung rechtfertigende Änderung der Sachlage nicht verwirklicht ist, entfaltet die ursprüngliche Gewährungsentscheidung zwar keine Sperrwirkung – es wird also die Einrede der Streitanhängigkeit bzw der entschiedenen Rechtssache abgeschnitten (vgl 10 ObS 276/00m; 10 ObS 183/91 SSV-NF 5/107; Neumayr in ZellKomm Arbeitsrecht³ § 72 ASGG Rz 7), aber eine Bindungswirkung für das Gericht. In diesem Fall ist der ursprüngliche Leistungsbefehl zu restituieren (Fink, Die sukzessive Zuständigkeit in Verfahren in Sozialrechtssachen [1995] 571 f; Sonntag in Köck/Sonntag, ASGG § 72 Rz 34).

[15] 2.2 Im vorliegenden Fall erfolgte die Leistungsgewährung mit Bescheid vom 20. 1. 2012.

[16] Im Vorprozess über die gegen den Herabsetzungsbescheid vom 9. 4. 2015 erhobene Klage wurde eine die materielle Bindungswirkung des Gewährungsbescheids durchbrechende Änderung der Verhältnisse nicht erkannt. Daher wurde – entsprechend der materiellen Bindungswirkung des Gewährungsbescheids vom 20. 1. 2012 – dessen Leistungsbefehl restituiert, die Leistung also weiterhin zugesprochen. Diese Beurteilung fußte, wie ausgeführt, auf dem Umstand, dass gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen, die dem Gewährungsbescheid zugrunde lagen, keine wesentliche Änderung eingetreten war.

[17] 2.3 Im vorliegenden Verfahren ist neuerlich zu beurteilen, ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iSd § 94 Abs 1 B-KUVG eingetreten ist. Zum Vergleich dafür, ob dies der Fall ist, ist der Tatsachenkomplex heranzuziehen, der jener Entscheidung zugrunde lag, deren Rechtskraftwirkung bei unveränderten Verhältnissen einer Neufestsetzung der Rente im Weg steht (vgl RS0084151).

[18] Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass hier auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen ist, die dem Gewährungsbescheid vom 20. 1. 2012 zugrunde lagen, weicht von den dargestellten Grundsätzen nicht ab. Der Gewährungsbescheid konnte nach der Klageerhebung gegen den ersten Herabsetzungsbescheid vom 9. 4. 2015 zwar nicht wieder aufleben (vgl § 71 Abs 1 ASGG), entfaltete aber im darüber geführten früheren Verfahren mangels einer hervorgekommenen wesentlichen Änderung der Verhältnisse weiterhin materielle Bindungswirkung (Fink, Sukzessive Zuständigkeit 572).

[19] 2.4 Für das Abstellen auf den der ursprünglichen Gewährung zugrunde liegenden Tatsachenkomplex als Vergleichsmaßstab spricht auch die Überlegung, dass nicht einzusehen wäre, wenn bei Versehrten, bei denen über einen längeren Zeitraum hinweg eine langsam voranschreitende Besserung ihres Gesundheitszustands und eine damit einhergehende Reduktion des Grades der Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit eintritt, die Rechtmäßigkeit einer Herabsetzung oder Entziehung der Versehrtenrente davon abhängen sollte, ob der Versicherungsträger in kürzeren Abständen mehrmals einen Herabsetzungs- oder Entziehungsbescheid erlässt, dem aufgrund der graduellen Verbesserungen gegenüber dem vorangegangenen Beurteilungszeitpunkt jeweils keine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinn des Gesetzes zugrunde läge, wohingegen dann, wenn der Versicherungsträger vor Erlassung eines Herabsetzungs- oder Entziehungsbescheids einen längeren Zeitraum verstreichen ließe, in dem insgesamt eine wesentliche Änderung der Verhältnisse stattfinden konnte, der Versicherte die Herabsetzung oder Entziehung der Versehrtenrente hinzunehmen hätte.

[20] 2.5 Indem das Berufungsgericht als Vergleichsmaßstab für eine wesentliche Änderung der Verhältnisse den dem Gewährungsbescheid zugrunde liegenden Tatsachenkomplex heranzog, ist es von der dargestellten Rechtsprechung und den dem Gesetz zugrunde liegenden Wertungen nicht abgewichen.

[21] 3.1 Die Tatsachenfeststellungen eines Gerichts, die es als zur Gewinnung des für die Subsumtion erforderlichen Tatbestands benötigt, erwachsen nicht in Rechtskraft (5 Ob 189/20k; RS0041342 [T4], RS0118570 [T1], RS0041285 [T2, T4]). Daher erfolgt die Feststellung von Tatsachen in jedem Rechtsstreit ohne Bindung an die Beurteilung in einem Vorprozess (RS0036826). Aus diesem Grund waren auch im vorliegenden Verfahren über die Herabsetzung der Versehrtenrente – unabhängig von den im Zuerkennungsverfahren oder im Vorprozess über den früheren Herabsetzungsbescheid allenfalls getroffenen Feststellungen – neuerlich Feststellungen über die für die Zuerkennung wesentlichen Tatsachen zu treffen (vgl RS0083884 [T3]).

[22] 3.2 Soweit die Revision damit argumentiert, nach den Ergebnissen des Vorprozesses sei festgestanden, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin bereits im Gewährungszeitpunkt nur 5 vH betragen habe, lässt sie außer Acht, dass die im Vorprozess getroffene Feststellung über die im Gewährungszeitpunkt vorliegende Minderung der Erwerbsfähigkeit keine Bindungswirkung für das vorliegende Verfahren entfaltet.

[23] 4. Insgesamt gelingt es der außerordentlichen Revision daher nicht, eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzuzeigen.

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