European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0050OB00246.21V.0303.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der Beschluss des Rekursgerichts wird aufgehoben.
Dem Rekursgericht wird aufgetragen, über den Rekurs unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund zu entscheiden.
Ein Kostenersatz findet nicht statt.
Begründung:
[1] Die Obsorge für die beiden Kinder kommt den Eltern gemeinsam zu. Diese sind noch verheiratet, leben aber voneinander getrennt. Die Eltern haben die väterliche Großmutter mittels „Pflegschaftsvertrag“ vom 18. 11. 2019 mit der Obsorge für die Kinder bevollmächtigt und beauftragt; der Großmutter kommt nach dieser Vereinbarung die alleinige Entscheidung über Pflege, Erziehung, Bestimmung des Aufenthalts, Vermögensverwaltung und Vertretung in allen Lebensbereichen zu.
[2] Am 28. 7. 2021 brachte der Kinder‑ und Jugendhilfeträger die Kinder im Rahmen seiner Interimskompetenz nach § 211 Abs 1 Satz 2 ABGB in einer Kriseneinrichtung unter.
[3] Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger teilte dies als Gefahr‑im‑Verzug‑Maßnahme dem Erstgericht mit und stellte gleichzeitig den Antrag, die Obsorge für beide Kinder den Eltern zur Gänze zu entziehen und auf ihn zu übertragen.
[4] Der Vater beantragte, die Maßnahme des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers für unzulässig zu erklären. Die Großmutter stellte unter Hinweis auf die Rechtswidrigkeit der Maßnahme den Antrag, die beiden Kinder unverzüglich wieder in ihre Obsorge zu übergeben.
[5] Das Erstgericht erklärte die Maßnahme des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers für unzulässig. In einer Gesamtbetrachtung seien die festgestellten Obsorgeverfehlungen weder in ihrer Intensität noch in ihrer Konkretisierung ausreichend, um nach den strengen Maßstäben des § 211 Abs 1 Satz 2 ABGB das Setzen einer Maßnahme aufgrund von Gefahr im Verzug zu rechtfertigen. Die vorläufige Verbindlichkeit seinerEntscheidung schloss das Erstgericht ausdrücklich nicht aus.
[6] Gegen diesen Beschluss richtete sich der Rekurs des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers mit dem Antrag auf Abänderung dahin, dass festgestellt werde, dass die Maßnahme vorläufig zulässig sei. Die Maßnahme selbst hat der Kinder‑ und Jugendhilfeträger nach Zustellung der angefochtenen Entscheidung beendet; die Kinder sind in den Haushalt der Großmutter zurückgekehrt.
[7] Das Rekursgericht wies den Rekurs des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers zurück. Die Entscheidung des Gerichts über die Unzulässigerklärung der nach § 211 Abs 1 ABGB gesetzten Maßnahme könne der Kinder‑ und Jugendhilfeträger zwar grundsätzlich mit Rekurs anfechten. Voraussetzung dafür sei aber ein Rechtsschutzinteresse in der besonderen Form der Beschwer. Die Beschwer müsse zum Zeitpunkt der Erhebung des Rechtsmittels vorliegen und zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel noch fortbestehen; andernfalls sei das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen.
[8] Das für die Zulässigkeit des Rechtsmittels erforderliche Rechtsschutzinteresse fehle, wenn der Entscheidung nur mehr theoretisch‑abstrakte Bedeutung zukäme. Erkläre das Gericht die nach § 211 Abs 1 ABGB gesetzte Maßnahme für unzulässig, komme dieser Entscheidung vorläufige Verbindlichkeit zu, sofern das Gericht diese nicht ausschließe. Unterbleibe – wie in diesem Fall – ein solcher Ausschluss, sei der Kinder‑ und Jugendhilfeträger verpflichtet, die Maßnahme aufzuheben und umgehend wieder rückgängig zu machen. Diese Wirkung trete ex lege ein, einer gerichtlichen Anordnung bedürfe es nicht. Auch die Erhebung eines Rekurses durch den Kinder‑ und Jugendhilfeträger verhindere die (vorläufige) Verbindlichkeit der die Unzulässigkeit der Maßnahme feststellenden Entscheidung des Erstgerichts nicht. Daraus folge, dass der Kinder‑ und Jugendhilfeträger die Maßnahme ungeachtet seines Rekurses unverzüglich zu beenden gehabt habe und dessen gesetzlich vorgesehene Rekurslegitimation nun ohne praktische Bedeutung sei. Denn wenn eine Maßnahme bereits aufgehoben sei, könne in Erledigung eines Rekurses des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers nur ausgesprochen werden, dass die Maßnahme vorläufig zulässig gewesen wäre. Diese Entscheidung wäre aber rein theoretischer Natur; seinen eigentlichen Zweck, die Rechtswirkungen des angefochtenen Beschlusses durch dessen Abänderung zu beseitigen, könne der Rekurs des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers in diesem Fall nicht mehr erreichen. Für das Verfahren nach § 107a Abs 1 AußStrG gebe es auch keine dem § 20 Abs 2 Satz 3 UbG vergleichbare Regelung, wonach die Verweigerung der aufschiebenden Wirkung das Rekursrecht (dort des Abteilungsleiters) unberührt lasse.
[9] Bei einer solchen Sachlage sei das Rekursrecht des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers zu verneinen. Das in § 107a Abs 1 AußStrG geregelte Verfahren diene der Klärung, ob eine noch aufrechte Maßnahme bis zur endgültigen Entscheidung über einen Obsorgeantrag auch weiter aufrecht bleiben solle. In diesem Verfahren komme dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger die Wahrung eigener Interessen nicht zu; sein Rekursrecht diene auch nicht der Abwehr des mit der Feststellung der Unzulässigkeit verbundenen Vorwurfs einer Grundrechtsverletzung, enthalte doch die Entscheidung des Gerichts nach § 107a Abs 1 AußStrG keine Beurteilung der Frage, ob die Maßnahme ursprünglich berechtigt vorgenommen worden sei oder nicht.
[10] Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs zu, weil zur Frage der Beschwer des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers im Verfahren nach § 107a Abs 1 AußStrG nach Aufhebung der Maßnahme Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehle.
Rechtliche Beurteilung
[11] Der – von der Großmutter beantwortete –Revisionsrekurs des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig; er ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.
[12] 1. Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger hat die zur Wahrung des Wohls eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen. Bei Gefahr im Verzug kann er die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst treffen; er hat diese Entscheidung unverzüglich, jedenfalls innerhalb von acht Tagen, bei Gericht zu beantragen. Im Umfang der getroffenen Maßnahmen ist der Kinder‑ und Jugendhilfeträger vorläufig mit der Obsorge betraut (§ 211 Abs 1 ABGB).
[13] 2.1. In Verfahren über einen Antrag des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers nach § 211 Abs 1 zweiter Satz ABGB hat das Gericht auf Antrag des Kindes oder der Person, in deren Obsorge eingegriffen wurde, unverzüglich, tunlichst binnen vier Wochen, auszusprechen, ob die Maßnahme des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers unzulässig oder vorläufig zulässig ist. Ein solcher Antrag muss binnen vier Wochen nach Beginn der Maßnahme gestellt werden. Erklärt das Gericht die Maßnahme für unzulässig, so kommt dieser Entscheidung vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu, sofern das Gericht diese nicht ausschließt; im Übrigen gilt § 44 AußStrG sinngemäß. Die Frist für den Rekurs, mit dem die Unzulässigerklärung der Maßnahme angefochten wird, beträgt drei Tage. Gegen die vorläufige Zulässigerklärung ist ein Rechtsmittel nicht zulässig (§ 107a Abs 1 AußStrG).
[14] 2.2. Das in § 107a Abs 1 AußStrG geregelte Verfahren dient der Klärung, ob die vom Kinder‑ und Jugendhilfeträger aus eigenem gesetzte vorläufige Maßnahme bis zur endgültigen Entscheidung über seinen Obsorgeantrag aufrecht bleiben soll. Ein Antrag nach § 107a Abs 1 AußStrG zielt dabei auf die aus dem Ausspruch der Unzulässigkeit folgende Verpflichtung des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers ab, die Maßnahme nach § 211 Abs 1 Satz 2 ABGB umgehend rückgängig zu machen (8 Ob 127/19p mwN).
[15] 2.3. Zu einemAntrag nach § 107a Abs 1 AußStrG legitimiert sind nach dem klaren Wortlaut der Bestimmung das Kind und jene Person, in deren Obsorge eingegriffen wird, nicht jedoch auch der Kinder‑ und Jugendhilfeträger. Es steht letzterem also nicht offen, die von ihm vorgenommene Maßnahme in Zweifelsfällen oder zu seiner (haftungsrechtlichen) Entlastung einer vorläufigen Zulässigkeitsprüfung zuzuführen (6 Ob 118/13s; RS0128953).
[16] § 107a Abs 1 AußStrG ermöglicht auch nur die Überprüfung der vorläufigen Maßnahme des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers auf ihre aktuelle Zulässigkeit, mit der Folge, dass der Kinder‑ und Jugendhilfeträger die Maßnahme im Fall der Unzulässigkeit zu beenden hat. Diese Beurteilung hat das Gericht nach dem zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Erkenntnisstand vorzunehmen; ob die Maßnahme ursprünglich berechtigt war, ist also nicht Gegenstand der Entscheidung über einen Antrag nach § 107a Abs 1 AußStrG (3 Ob 135/16y; RS0130951; vgl auch RS0130950).
[17] § 107a Abs 2 AußStrG sieht allerdings ein eigenes, mit drei Monaten befristetes Antragsrecht für den Fall vor, dass eine die Obsorge betreffende Maßnahme des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers bereits beendet wurde. In diesem Fall hat das Gericht auf Antrag des Kindes oder der Person, in deren Obsorge eingegriffen wurde, auszusprechen, ob die Maßnahme unzulässig war. Da das Gesetz nicht unterscheidet, aus welchem Grund es zur Beendigung der Maßnahme gekommen ist, erfasst das Antragsrecht nach § 107a Abs 2 AußStrG sowohl Fälle, in denen das Gericht die Unzulässigkeit der Maßnahme nach § 107a Abs 1 AußStrG ausgesprochen hat, als auch die Fälle der sonstigen Beendigung der Maßnahme durch den Kinder‑ und Jugendhilfeträger (1 Ob 5/21y mwN).
[18] 3.1. Erklärt das Gericht in dem Verfahren nach § 107a Abs 1 AußStrG die vorläufige Zulässigkeit der Maßnahme, ist ein Rechtsmittel kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung des § 107a Abs 1 letzter Satz AußStrG nicht zulässig. Vielmehr hat das (Erst‑)Gericht nach einer solchen Entscheidung in seiner Stoffsammlung fortzufahren, bis es eine endgültige Entscheidung über den Antrag nach § 211 Abs 1 ABGB fällen kann (5 Ob 227/15s; RS0130499).
[19] 3.2. Hat das Gericht die Maßnahme für unzulässig erklärt, steht dagegen gemäß § 107a Abs 1 vorletzter Satz AußStrG der binnen drei Tagen zu erhebende Rekurs offen. Antragsgegner im Verfahren nach § 107a Abs 1 AußStrG ist der Kinder‑ und Jugendhilfeträger, der die Maßnahmen nach § 211 Abs 1 Satz 2 ABGB gesetzt hat (6 Ob 118/13s). Dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger kommt daher jedenfalls grundsätzlich die Rekurslegitimation zu.
[20] 3.3. Allgemeine Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels ist allerdings – als spezifische Erscheinungsform des Rechtsschutzinteresses für die Anrufung einer höheren Instanz – das Vorliegen einer Beschwer. Die Beschwer muss zum Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels vorliegen und zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel noch fortbestehen; andernfalls ist das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen (RS0041770). Dies gilt auch im Außerstreitverfahren (RS0006598). Das für die Zulässigkeit des Rechtsmittels erforderliche Rechtsschutzinteresse fehlt, wenn der Entscheidung nur mehr theoretisch‑abstrakte Bedeutung zukäme. Es ist nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanzen, über bloß theoretische Fragen abzusprechen (RS0002495; 6 Ob 185/10i).
[21] 3.4. Erklärt das Gericht die nach § 211 Abs 1 ABGB gesetzte Maßnahme für unzulässig, so kommt dieser Entscheidung vorläufige Verbindlichkeit zu, sofern das Gericht diese nicht ausschließt (§ 107a Abs 1 Satz 3 AußStrG). Unterbleibt – wie hier – ein solcher Ausschluss, ist der Kinder‑ und Jugendhilfeträger verpflichtet, diese Maßnahme umgehend zu beenden. Diese Wirkung tritt ex lege ein, einer gerichtlichen Anordnung bedarf es nicht (statt vieler Einberger in Schneider/Verweijen, AußStrG § 107a Rz 12). Die Erhebung eines Rekurses verhindert nicht die (vorläufige) Verbindlichkeit der die Unzulässigkeit der Maßnahme feststellenden Entscheidung des Erstgerichts. Daraus folgerte das Rekursgericht, dass hier zufolge Beendigung der Maßnahme die an sich gesetzlich vorgesehene Rekurslegitimation des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers nun ohne praktische Bedeutung sei, dieser daher die für die Zulässigkeit des Rekurses erforderliche Beschwer fehle.
[22] 3.5. Das Rekursgericht beruft sich dabei auf Beck (in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 107a Rz 17), sowie Thau (Überprüfbarkeit einer vom Kinder‑ und Jugendhilfeträger gesetzten Maßnahme – Gerichtliche Entscheidung über die [Un‑]Zulässigkeit der Maßnahme ist vorläufig verbindlich und vollstreckbar, iFamZ 2014, 152). Beide Autorinnen gesteheneinem Rekurs des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers im Fall der vorläufigen Verbindlichkeit der angefochtenen Entscheidung zwar nur mehr theoretische Bedeutung zu, sie ziehen daraus aber nicht den Schluss, dass der Rekurs in diesen Fällen mangels Beschwer überhaupt unzulässig sei. So betont auch Beck (in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 107a Rz 17 bzw in Beck, Kindschaftsrecht3 [2021] Rz 661)die gesetzlich ausdrücklich vorgesehene Rekurslegitimation des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers. Zur Ermöglichung einer grundsätzlichen Relevanz des Rechtsmittels für die weitere Betreuungssituation des Kindes werde das Gericht aber regelmäßig bereits anlässlich seines Ausspruchs über die Unzulässigkeit der Maßnahme die vorläufige Verbindlichkeit seiner Entscheidung ausschließen und dadurch einem auch nur möglichen Rekurs des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers aufschiebende Wirkung zuerkennen müssen; sonst sei die Maßnahme des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers ungeachtet seines Rekurses unverzüglich zu beenden und die gesetzlich ausdrücklich vorgesehene Rekurslegitimation des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers ohne praktische Bedeutung. Auch Thau (in Überprüfbarkeit einer vom Kinder‑ und Jugendhilfeträger gesetzten Maßnahme – Gerichtliche Entscheidung über die (Un‑)Zulässigkeit der Maßnahme ist vorläufig verbindlich und vollstreckbar, iFamZ 2014, 152 [152]), geht offensichtlich von der Zulässigkeit des Rechtsmittels aus, wenn sie meint, dass der vorläufigen Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit bzw deren Ausschluss eine zentrale Bedeutung zukomme, weil andernfalls „selbst ein erfolgreiches“ Rechtsmittel des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers nur mehr theoretische Bedeutung habe.
[23] 3.6. Auch sonst wird die Rekurslegitimation des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers (auch) bei vorläufiger Verbindlichkeit der angefochtenen Entscheidung in der Literatur nicht in Frage gestellt, vielmehr wird sie meist selbstverständlich vorausgesetzt (vgl etwa Fucik, Verfahren in Ehe‑ und Kindschaftsangelegenheiten nach dem KindNamRÄG 2013, ÖJZ 2013/32, 297 [305], ders, Familienrecht im Fluss – Kinderrechte – Elternrechte: Neustart mit dem KindNamRÄG 2013, iFamZ 2013, 212 [220]; Höllwerth, Gerichtliche Kontrolle der Interimskompetenz des Jugendwohlfahrtsträgers in Gitschthaler [Hrsg], Kindschaftsrechts‑ und Namensrechts‑Änderungsgesetz 2013 [2013] 227 [235 f]; ders, Die neue Prüfung der Interimskompetenz des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers, ÖJZ 2015/52, 389 [391]; Deixler‑Hübner, Obsorge einer anderen Person, in Deixler‑Hübner [Hrsg], Handbuch Familienrecht2 [2020] 531 [567]). Anderes gilt allenfalls für Deixler‑Hübner (in Rechberger/Klicka, § 107a AußStrG Rz 7), die ein Rekursrecht „in diesem Fall“ [wenn das Gericht die vorläufige Verbindlichkeit ausgeschlossen hat] zugesteht.
[24] 3.7. Eine ausdrückliche Stellungnahme zur Frage der Beschwer bei vorläufiger Verbindlichkeit der angefochtenen Entscheidung und Beendigung der Maßnahme findet sich bei Einberger (in Schneider/Verweijen, AußStrG § 107a Rz 14 mwN). Er vertritt die Auffassung, dass das Rechtsmittel des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers auch in dieser Konstellation nicht nur noch von theoretischer Bedeutung sei. Denn es sei anerkannt, dass dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger jedenfalls in einem Verfahren nach § 107a Abs 2 AußStrG ein Interesse an der Abwehr des mit der Feststellung der Unzulässigkeit verbundenen Vorwurfs einer Grundrechtsverletzung zukomme. Wenngleich dieses Interesse in Verfahren nach § 107a Abs 1 AußStrG weniger stark ausgeprägt sei, weil sich die Prüfung hier auf den Entscheidungszeitpunkt beschränke, falle es doch nicht ganz weg. Zudem bestehe auch ein Interesse daran, für die Zukunft abzuklären, ob die Maßnahme zulässig sei oder nicht, also ob sie vom Kinder‑ und Jugendhilfeträger unter den gegebenen Voraussetzungen neuerlich gesetzt werden dürfe. Die Beschwer des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers sei daher zu bejahen.
4. Dazu wurde erwogen:
[25] 4.1. § 107a Abs 1 vorletzter Satz AußStrG erklärt den Rekurs gegen die Unzulässigerklärung der Maßnahme ohne jede weitere Einschränkung für zulässig. Antragsgegner im Verfahren nach § 107a Abs 1 AußStrG ist der Kinder‑ und Jugendhilfeträger, der die für unzulässig zu erklärende Maßnahme nach § 211 Abs 1 Satz 2 ABGB gesetzt hat. Aus dem Wortlaut des § 107a Abs 1 vorletzter Satz AußStrG ist daher zumindest implizit abzuleiten, dass dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger das Rekursrecht jedenfalls, also nicht nur in dem Fall, dass die vorläufige Verbindlichkeit ausgeschlossen wurde, zukommen soll.
[26] 4.2. Das Verständnis des Rekursgerichts, der Rekurs des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers scheitere hier zwar nicht an der grundsätzlichen Rekurslegitimation, sondern an der konkret fehlenden Beschwer, führte dazu, dass das im Gesetz ausdrücklich vorgesehene Rekursrecht des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers lediglich in Ausnahmefällen gegeben wäre; und zwar nur in jenen Fällen, in denen das Erstgericht die Maßnahme des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers zwar mangels Kindeswohlgefährdung für unzulässig erklärt, sich jedoch entscheidet, diese Maßnahme aufrecht zu erhalten, indem es die vorläufige Verbindlichkeit seiner Entscheidung ausschließt. Im Hinblick darauf, dass eine unzulässige Interimsmaßnahme und damit auch deren Aufrechterhaltung ein Grundrechtseingriff ist (vgl 3 Ob 135/16y; 5 Ob 203/15m), wird das nur unter besonderen Umständen der Fall sein (können). Der Gesetzeswortlaut gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass das Rekursrecht derart beschränkt sein soll.Es wäre aber zu erwarten, dass der Gesetzgeber die in seiner Auswirkung so bedeutsame Einschränkung, dass das Rekursrecht lediglich besteht, wenn die Entscheidung des Erstgerichts für nicht vorläufig verbindlich erklärt wurde, im Gesetzeswortlaut selbst klargestellt.
[27] 4.3. Auch die Materialien rechtfertigen die Annahme nicht, die Rekurslegitimation des Kinder- und Jugendhilfeträgers sei gemäß dem normierten Verfahrensablauf im Ergebnis auf den Fall des Ausschlusses der vorläufigen Verbindlichkeit beschränkt. Der Justizausschuss, der den in der Regierungsvorlage vorgeschlagenen Verfahrensablauf veränderte, äußert sich nur zu den Wirkungen des Rekurses des Kinder- und Jugendhilfeträgers, nicht zu dessen Zulässigkeit (JAB 2087 BlgNR 24. GP 2; zum Gesetzwerdungsprozess ausführlich Beck in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 107a Rz 17; Höllwerth, Die neue Prüfung der Interimskompetenz des Kinder- und Jugendhilfeträgers, ÖJZ 2015/52, 389 [391, FN 32]; ders, Gerichtliche Kontrolle der Interimskompetenz des Jugendwohlfahrtsträgers in Gitschthaler [Hrsg], Kindschaftsrechts‑ und Namensrechts-Änderungsgesetz 2013 [2013] 227 [235 f]). Hätte der Justizausschuss den Rekurs, dem mangels Ausschlusses der vorläufigen Verbindlichkeit der Entscheidung keine aufschiebende Wirkung zukommt, als praktisch bedeutungslos und damit überhaupt als unzulässig angesehen, hätte er dies wohl zum Ausdruck gebracht. Das Verfahren nach § 107a Abs 2 AußStrG zeigt, dass der Gesetzgeber die Konsequenzen, die die Beendigung der Maßnahme für das Verfahren hat, grundsätzlich bedacht hat. Es ist daher davon auszugehen, dass der Gesetzgeber das Rechtsschutzinteresse des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers auch im Fall der Beendigung der Maßnahme nicht in Frage stellte und damit auch eine dem § 20 Abs 2 Satz 3 UbG vergleichbare Regelung, wonach die Verweigerung der aufschiebenden Wirkung das Rekursrecht (dort des Abteilungsleiters) unberührt lässt, für das Verfahren nach § 107a Abs 1 AußStrG nicht als notwendig erachtete.
[28] 4.4. Dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger kommt dieses Rechtsschutzinteresse, von dem der Gesetzgeber bei der Normierung des Rekursrechts im § 107a Abs 1 vorletzter Satz AußStrG offensichtlich ausgeht, auch zu. Es ist die in § 211 Abs 1 ABGB normierte gesetzliche Pflicht des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers, die zur Wahrung des Wohles eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen und bei Gefahr im Verzug die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung vorläufig selbst treffen. Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger weist in seinem Revisionsrekurs zutreffend daraufhin, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass sich die Sachlage nicht substantiell geändert hat und er daher zur Wahrung des Kindeswohls die Maßnahme wiederholen kann und wohl auch muss, wenn die Rechtsmittelinstanzen die Voraussetzungen dafür – anders als das Erstgericht – als gegeben ansehen. Der Erfolg des Rechtsmittels führt in einem solchen Fall zwar nicht zur automatischen Fortsetzung der vorläufigen Maßnahme. Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger muss vielmehr prüfen, ob die Voraussetzungen weiterhin vorliegen und gegebenenfalls eine neue Maßnahme setzen (Einberger in Schneider/Verweijen, AußStrG § 107a Rz 14 mwN). Dabei wird er auch das in der Revisionsrekursbeantwortung der Großmutter problematisierte „Hin und Her“ des Kindes entsprechend zu berücksichtigen haben (vgl auch Deixler-Hübner, Obsorge einer anderen Person, in Deixler-Hübner [Hrsg], Handbuch Familienrecht2 [2020] 531 [567]). Das Rechtsmittel ist daher für die Rechte und Pflichten des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers – nicht aus der Sicht seiner haftungsrechtlichen Entlastung, sondern im Hinblick auf dessen Aufgabe der Sicherung des Kindeswohls – nicht nur von theoretischer Bedeutung.
[29] 5.1. Zusammenfassend ist festzuhalten: Der im § 107a Abs 1 AußStrG vorgesehene Rekurs gegen die Unzulässigerklärung der Interimsmaßnahme steht dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger auch dann offen und das dafür erforderliche Rechtsschutzinteresse besteht auch dann, wenn der Kinder‑ und Jugendhilfeträger die Maßnahme mangels Ausschlusses der vorläufigen Verbindlichkeit der angefochtenen Entscheidung zu beenden hatte. Die vorläufige Verbindlichkeit ist nur für die Wirkung des Rekurses, nicht aber für dessen Zulässigkeit relevant.
[30] 5.2. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben und dem Rekursgericht ist die inhaltliche Behandlung des Rekurses aufzutragen.
[31] 5.3. In Verfahren über die Obsorge findet ein Kostenersatz nicht statt (§ 107 Abs 5 AußStrG).
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