OGH 10ObS144/21f

OGH10ObS144/21f14.12.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Bernhard Kirchl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Gabriele Svirak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Mag. Markus Hager, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Rehabilitationsgeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. Juni 2021, GZ 12 Rs 56/21 y‑22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 20. April 2021, GZ 28 Cgs 43/20h‑16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00144.21F.1214.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil zu lauten hat:

„Die klagende Partei hat über den Ablauf des 29. Februar 2020 hinaus für die Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 702,67 EUR bestimmten Kosten des Verfahrens (darin 117,11 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.“

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 609,67 EUR (darin 101,61 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit  418,78 EUR (darin 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf Weitergewährung von Rehabilitationsgeld über den 29. 2. 2020 hinaus.

[2] Mit Bescheid vom 2. 9. 2015 lehnte die Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der 1988 geborenen Klägerin auf Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension ab, weil Berufsunfähigkeit nicht dauerhaft vorliege. Da aber ab 1. 8. 2015 vorübergehende Berufsunfähigkeit im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten vorliege, bestehe ein Anspruch der Klägerin auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung. Im Rechtsmittelverfahren ist nicht mehr strittig, dass die Klägerin keinen Berufsschutz genießt und im Zeitpunkt der Gewährung von Rehabilitationsgeld berufsunfähig war.

[3] Im Vordergrund der Beschwerden der Klägerin steht eine Panikstörung mit Agoraphobie in der Form, dass Ängste bei Menschenmengen oder öffentlichen Plätzen bestehen. Im Rechtsmittelverfahren ist nicht mehr strittig, dass sich das Leistungskalkül der Klägerin im Entziehungszeitpunkt gebessert hat und sie wieder in der Lage ist, die Verweisungstätigkeiten etwa einer Reinigungskraft (Raumpflegerin), Küchengehilfin (Abwäscherin) oder gastgewerblichen Hilfskraft im Rahmen einer Teilzeitarbeit von 20 Stunden pro Woche, aufgeteilt auf fünf Arbeitstage zu je vier Stunden auszuüben.

[4] Der Klägerin ist allerdings weder eine Wohnsitzverlegung noch Wochenpendeln zumutbar. Sie ist nicht in der Lage, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen. Zu Fuß kann die Klägerin eine Wegstrecke von 500 m in einer Zeit von 20 bis 25 Minuten zurücklegen, wobei sie in der Phase der Eingewöhnung einer Wegstrecke zu einem neuen Arbeitsplatz für die Dauer von einigen Tagen eine Begleitperson benötigt. Im Umkreis von einem Kilometer vom Wohnort der Klägerin entfernt bestehen mehr als 30 Arbeitsplätze in den der Klägerin noch zumutbaren Verweisungstätigkeiten.

[5] Mit Bescheid vom 21. 1. 2020 sprach die beklagte Pensionsversicherungsanstalt aus, dass vorübergehende Berufsunfähigkeit nicht mehr vorliege und das Rehabilitationsgeld mit 29. 2. 2020 entzogen werde.

[6] Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Weitergewährung von Rehabilitationsgeld über den 29. 2. 2020 hinaus. Unter anderem sei sie aufgrund ihrer Therapiebedürftigkeit nicht in der Lage, einen Arbeitsplatz zu erreichen.

[7] Die Beklagte wandte ein, dass sich der Zustand der Klägerin gebessert habe, sodass vorübergehende Berufsunfähigkeit nicht mehr vorliege. Sie benötige lediglich anfangs ein paar Tage Begleitung auf dem Weg zur Arbeit, sodass in Analogie zu Blinden oder schwer Sehbehinderten keine Berufsunfähigkeit bestehe.

[8] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Klägerin könne eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen mit ihr zumutbaren Verweisungstätigkeiten auf einem regionalen Arbeitsmarkt zu Fuß erreichen. Dass sie dazu anfangs eine persönliche Begleitung benötige, sei ein unbeachtlicher persönlicher Umstand. Dabei handle es sich um einen mit einer kurzen Einschulung vergleichbaren Vorgang.

[9] Das Berufungsgericht gab der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung der Klägerin nicht Folge. Der Arbeitsweg sei zwar nicht mehr dem Privatbereich zuzurechnen, sodass die Rechtsprechung zu Hindernissen im privaten Bereich nicht herangezogen werden könne. Die Zurücklegung des Arbeitswegs sei andererseits aber noch keine Arbeitstätigkeit. Die Notwendigkeit einer Begleitperson für die Klägerin in den ersten Tagen einer neuen Arbeit könne daher nicht mit einer Einschulungsmaßnahme verglichen werden. Es bedürfte eines besonderen Entgegenkommens eines Arbeitgebers, die Klägerin – wenn auch nur wenigeTage – vor Arbeitsbeginn in ihrer Wohnung abzuholen und zur Arbeit zu begleiten. Allerdings sei auch keine medizinische Maßnahme der Rehabilitation erforderlich. Bestehe das Hindernis, einen Beruf auszuüben, nur darin, dass ein Versicherter nicht über ein dafür erforderliches Hilfsmittel verfüge, und unternehme der Versicherte nichts, um dieses Hilfsmittel zu erlangen, so entstehe aus der dadurch bedingten Behinderung mangels zumutbarer Mitwirkung des Versicherten kein Anspruch auf eine Leistung wegen geminderter Arbeitsfähigkeit. Zur Mitwirkung sei der Versicherte auch im Zusammenhang mit der Zurücklegung des Arbeitswegs verpflichtet. So sei er etwa, wenn dies medizinisch möglich sei, zur Verlegung des Wohnorts, zum Wochenpendeln oder zum Tagespendeln verpflichtet, um einen zumutbaren Arbeitsplatz zu erreichen. Im Interesse der Versichertengemeinschaft treffe den Versicherten auch bei der Zurücklegung des Arbeitswegs eine Mitverantwortung, weshalb er auch in einem gewissen Ausmaß Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen müsse. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin nicht in der Lage wäre, ihre Begleitung auf einem neuen Arbeitsweg in den ersten Tagen des Arbeitsverhältnisses – etwa durch ihren Freund oder Lebensgefährten – selbst zu organisieren. Die Revision sei zulässig, weil eine Klarstellung zur „Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen in zumutbarer Weise“ bzw zum Ausmaß der dem Versicherten bei medizinischen Einschränkungen zumutbaren Mitverantwortung geboten erscheine.

[10] Gegen diese Entscheidung richtet sich die von der Beklagten beantwortete Revision der Klägerin, mit der sie die Weitergewährung des Rehabilitationsgelds über den 29. 2. 2020 hinaus begehrt.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision ist zulässig und berechtigt.

[12] Die Klägerin macht in der Revision geltend, dass sie aus medizinischen Gründen in den ersten Tagen eines neuen Arbeitsverhältnisses nicht allein zur Arbeit gehen könne, sondern eine Begleitung brauche. Die Beklagte müsse daher als medizinische Maßnahme der Rehabilitation eine Begleitperson zur Verfügung stellen. Dies habe sie jedoch nicht angeboten. Aus den Feststellungen ergebe sich nicht, dass die Klägerin sich durch einen „Freund“, „Begleiter“ oder „Lebensgefährten“ begleiten lassen könne. Diese Personen träfe auch keine Beistandspflicht im Sinn des § 90 ABGB.

[13] Die Beklagte hält dem in der Revisionsbeantwortung entgegen, dass es keine medizinische Maßnahme der Rehabilitation darstelle, einen Versicherten für einige Tage auf dem Weg zur Arbeit zu begleiten. Darüber hinaus sei in Gesamtschau die Zurücklegung des Arbeitswegs dem privaten Lebensbereich zuzuordnen.

[14] 1.1 Die Entziehung einer laufenden Leistung wie des Rehabilitationsgelds ist nach § 99 Abs 1 ASVG nur zulässig, wenn eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zuerkennung eingetreten ist; ansonsten steht die materielle Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen (RIS‑Justiz RS0106704). Der für den Vergleich maßgebliche Zeitpunkt der ursprünglichen Leistungszuerkennung ist die Erlassung des Gewährungsbescheids. Es ist der Zustand im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheids über das Vorliegen vorübergehender Berufsunfähigkeit im Sinn des § 273b ASVG dem Zustand im Zeitpunkt der Entziehung gegenüberzustellen (RS0083876; 10 ObS 40/20k SSV‑NF 34/44 mwH).

[15] 1.2 Hier steht zwar fest, dass sich das Leistungskalkül der Klägerin im Entziehungszeitpunkt wesentlich gebessert hat, weil sie wieder in der Lage ist, ihr zumutbare Arbeitstätigkeiten in Verweisungsberufen auszuüben. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ist jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs unabhängig davon, ob der körperliche und geistige Zustand des Versicherten noch den mit der Berufstätigkeit selbst verbundenen Anforderungen entspricht, auch dann eingetreten, wenn die versicherte Person nicht mehr imstande ist, in zumutbarer Weise einen Arbeitsplatz zu erreichen (RS0085049 [T15]; 10 ObS 6/20k SSV‑NF 34/27). Der Arbeitsweg für die Beurteilung des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit ist nach dieser Rechtsprechung nicht dem „privaten“ Lebensbereich zuzuordnen. Zutreffend hat das Berufungsgericht den Fall, dass ein Versicherter Hilfe bei Vorbereitungshandlungen im privaten Bereich benötigt, um den Weg zur Arbeit anzutreten (10 ObS 120/90 SSV‑NF 4/78; RS0084929) von dem hier vorliegenden Fall unterschieden, dass der Arbeitsweg selbst nicht ohne fremde Hilfe zurückgelegt werden kann.

[16] 1.3 Die Klägerin ist nach den Feststellungen aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigungen nicht in der Lage, einen – beliebigen – Arbeitsweg während einer Eingewöhnungsphase am Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses für die Dauer von einigen Tagen, allein zu Fuß zurückzulegen. Sie benötigt dafür eine Begleitperson. Die Klägerin ist in diesem Umfang allein aus medizinischen, und damit für die Frage der Beurteilung des Vorliegens von Berufsunfähigkeit relevanten Gründen an der Zurücklegung des Arbeitswegs gehindert.

[17] 2.1 Die Klägerin ist nicht verpflichtet, während der Eingewöhnungsphase am Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses selbst dafür zu „sorgen“, dass sie am Arbeitsweg begleitet wird:

[18] 2.2 Persönliche Umstände, wie die Sprache, aber auch die persönlichen Einkommensverhältnisse und Vermögensverhältnisse oder die Krankenversicherung, sind bei Prüfung der Berufsunfähigkeit (der geminderten Arbeitsfähigkeit) nicht zu berücksichtigen (RS0107503). Auch die konkrete familiäre Situation kann weder zugunsten noch zu Lasten des Versicherten herangezogen werden (10 ObS 54/16p SSV‑NF 30/38). Es kommt schon daher nicht darauf an, ob die Klägerin über eine Begleitperson „verfügt“, die sie in den ersten Tagen eines neuen Arbeitsverhältnisses auf dem Arbeitsweg begleiten kann.

[19] 2.3 Nach der vom Berufungsgericht angewandten Rechtsprechung ist der Versicherte dann, wenn ein Hindernis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit nur darin besteht, dass ihm ein erforderliches Hilfsmittel fehlt, bis zu einem gewissen Grad verpflichtet, die Beistellung eines solchen Hilfsmittels zu erreichen. Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung 10 ObS 55/88 SSV‑NF 2/50 betreffend das Tragen einer geeigneten Prothese ausgeführt: „Benötigt ein Versicherter zur Wiederherstellung oder Erhaltung seiner Arbeitskraft ein Hilfsmittel, so liegt es an ihm, die nötigen Schritte zu unternehmen, um die Beistellung aus der Sozialversicherung zu erreichen. Besteht das Hindernis zur Ausübung eines Berufes nur darin, dass der Versicherte nicht über das erforderliche Hilfsmittel verfügt und unternimmt er nichts, um die Beistellung des Hilfsmittels zu erreichen, so kann er aus der dadurch bedingten Behinderung einen Anspruch auf eine Pensionsleistung wegen geminderter Arbeitsfähigkeit nicht ableiten. Nur dann, wenn über seinen Antrag die Anschaffung des Hilfsmittels verweigert würde oder die Anschaffung seine Leistungsfähigkeit überstiege, könnte ein Anspruch auf eine Pensionsleistung wegen geminderter Arbeitsfähigkeit bejaht werden. Eine andere Betrachtungsweise würde zu dem unhaltbaren Ergebnis führen, dass etwa ein Versicherter, der zufolge eintretender Weitsichtigkeit zur Durchführung seiner Tätigkeit eine Brille benötigt, dadurch, dass er keine Schritte zur Beistellung der Brille unternimmt, die Voraussetzungen für einen Pensionsanspruch wegen geminderter Arbeitsfähigkeit herstellen könnte.“ (vgl auch 10 ObS 13/93 SSV‑NF 7/14, Vermeidung einer Unterzuckerung durch regelmäßige Blutzuckerbestimmung; 10 ObS 17/97s SSV‑NF 11/15, Brille; 10 ObS 12/15k SSV‑NF 29/25, Augenklappe; RS0084985; RS0085029; Födermayr in SV‑Komm [252. Lfg] § 255 ASVG Rz 84; krit Auer‑Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung, 549ff).

[20] 2.4 Diese Rechtsprechung ist aber im vorliegenden Fall nicht anwendbar: Die Klägerin benötigt nicht ein Hilfsmittel, wie etwa eine Brille, um den Arbeitsweg in den ersten Tagen eines neuen Arbeitsverhältnisses zurücklegen zu können, sondern einen Menschen als Begleitperson. Ob eine Begleitperson – allenfalls auch aufgrund der familiären Situation – überhaupt vorhanden ist oder nicht, gehört wie ausgeführt zu jenen persönlichen Umständen, die weder zugunsten, noch zu Lasten der Klägerin berücksichtigt werden dürfen.

[21] 3. Nach § 302 Abs 1 ASVG, auf den § 253f Abs 1 ASVG verweist, umfassen die medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation die Unterbringung in Krankenanstalten, die vorwiegend der Rehabilitation dienen (Z 1), Maßnahmen der ambulanten Rehabilitation einschließlich der Telerehabilitation (Z 1a), Maßnahmen der medizinisch‑berufsorientierten Rehabilitation (Z 1b), die Gewährung von Körperersatzstücken, orthopädischen Behelfen und anderen Hilfsmitteln einschließlich der notwendigen Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung sowie der Ausbildung im Gebrauch der Hilfsmittel in sinngemäßer Anwendung des § 202 ASVG (Z 2) und die Gewährung ärztlicher Hilfe sowie die Versorgung mit Heilmitteln und Heilbehelfen, wenn diese Leistungen unmittelbar im Anschluss an eine oder im Zusammenhang mit einer der in § 302 Abs 1 Z 1 bis 2 ASVG genannten Maßnahmen erforderlich sind (Z 3). Bei medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation handelt es sich um medizinische Leistungen, die in der Verantwortung von Ärzten, praktisch jedoch schwerpunktmäßig von anderen Berufsgruppen erbracht werden (RS0130564). Zutreffend weist die Beklagte in der Revisionsbeantwortung darauf hin, dass die „Zurverfügungstellung“ einer Begleitperson keine Maßnahme der Rehabilitationsmedizin im Sinn dieser gesetzlichen Lage und Rechtsprechung ist.

[22] 4. Grundsätzlich darf eine versicherte Person auf eine Berufstätigkeit dann nicht verwiesen werden, wenn sie diese nur unter der Voraussetzung eines besonderen Entgegenkommens ihres Arbeitgebers verrichten kann (10 ObS 81/15g, SSV‑NF 30/14 mwH). Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass es eines besonderen Entgegenkommens eines Arbeitgebers bedürfe, um eine Begleitung für den Arbeitsweg der Klägerin auch nur während der ersten Tage eines neuen Arbeitsverhältnisses (in der „Eingewöhnungsphase“) zu organisieren, ist zutreffend und wird von der Beklagten in der Revisionsbeantwortung nicht in Frage gestellt.

[23] 5. Ausgehend davon ist die Klägerin weiterhin vorübergehend berufsunfähig, weil sich zwar ihr Leistungskalkül verbessert hat, sie aber nicht ohne ein besonderes Entgegenkommen eines neuen Arbeitgebers in der Lage wäre, einen Arbeitsplatz in einer ihr zumutbaren Verweisungstätigkeit während der ersten Tage des neuen Arbeitsverhältnisses (während der „Eingewöhnungsphase“) zu erreichen.

[24] 6.1 Negative Anspruchsvoraussetzung für das Rehabilitationsgeld ist nach der infolge des Stichtags 1. 8. 2015 anzuwendenden Rechtslage des SRÄG 2012, BGBl I 2013/3, die fehlende berufliche Rehabilitierbarkeit der Klägerin (§ 273b ASVG idF BGBl I 2015/2, SVAG, iVm § 271 Abs 1 Z 2 ASVG idF SVAG [§ 688 Abs 1 Z 2 ASVG]), obwohl sie nach dieser Rechtslage keinen Rechtsanspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation hat (§ 669 Abs 1 Z 2 und Abs 2 ASVG). Berufliche Maßnahmen der Rehabilitation umfassen gemäß § 303 Abs 1 ASVG, der (auch bereits in der Fassung des SRÄG 2012) auf § 198 ASVG verweist, insbesondere auch Hilfsmaßnahmen zur Ermöglichung einer Erwerbstätigkeit und die Hilfe zur Erlangung einer Arbeitsstelle oder einer anderen Erwerbsmöglichkeit. Diese Aufgabe kann nicht auf den Versicherten oder dessen Familienangehörige überwälzt werden (vgl 10 ObS 49/04k SSV‑NF 18/80 zu § 153 Abs 2 Z 3 BSVG).

[25] 6.2 Die Pensionsversicherungsanstalt hat im Gewährungsbescheid berufliche Maßnahmen der Rehabilitation als nicht zweckmäßig (§ 303 Abs 3 ASVG idF SRÄG 2012) angesehen, sodass die (negative) Anspruchsvoraussetzung im Gewährungszeitpunkt erfüllt war.

[26] 6.3 Auch im Anwendungsbereich des SRÄG 2012 ist das Rehabilitationsgeld zu entziehen, wenn berufliche Maßnahmen der Rehabilitation wieder zweckmäßig und zumutbar sind (§ 303 Abs 3 und Abs 4 ASVG idF SRÄG 2012; Sonntag in Sonntag, ASVG12 § 143a ASVG Rz 7). Mit dem SVAG wurde dieser Entziehungstatbestand ausdrücklich in § 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit cc ASVG normiert (rückwirkend in Geltung gesetzt mit 1. 1. 2014, § 688 Abs 1 Z 2 ASVG). Im Entziehungsbescheid hat sich die Beklagte jedoch nicht auf diesen Entziehungstatbestand berufen.

[27] 6.4 Gegenstand des Verfahrens vor der Beklagten und deren Entscheidung war der Anspruch auf Rehabilitationsgeld über den 29. 2. 2020 hinaus. Auch wenn im Verwaltungsverfahren in der Begründung des angefochtenen Bescheids als Entziehungsgrund allein die Besserung des Gesundheitszustands der Klägerin genannt wurde (§ 99 Abs 3 Z 1 lit a ASVG), ist der beklagte Sozialversicherungsträger berechtigt, im gerichtlichen Verfahren einen zusätzlichen Entziehungsgrund geltend zu machen. Dadurch wird im Gerichtsverfahren nicht über einen anderen Anspruch als im Verwaltungsverfahren – nämlich den Anspruch auf Rehabilitationsgeld über einen bestimmten Zeitpunkt hinaus – entschieden (10 ObS 35/21a mwH; RS0120568 [T1]).

[28] 6.5 Die Beklagte hat sich jedoch auch im gerichtlichen Verfahren nicht auf diesen Entziehungstatbestand berufen. Die Beweislast für das Vorliegen eines Entziehungsgrundes trifft den Versicherungsträger (vgl RS0083813; 10 ObS 40/20k SSV‑NF 34/44 ua). Eine amtswegige Prüfung des Entziehungsgrundes findet nicht statt (anders hingegen die amtswegige Prüfung des Vorliegens der negativen Anspruchsvoraussetzung der beruflichen Rehabilitierbarkeit im Rahmen des Zuerkennungsverfahrens, 10 ObS 52/16v SSV‑NF 30/66; 10 ObS 107/12a SSV‑NF 27/9).

[29] 6.6 Auf die allfällige Möglichkeit einer zweckmäßigen und zumutbaren beruflichen Maßnahme der Rehabilitation im Sinn einer Hilfestellung bei der Zurücklegung des Arbeitswegs in der Eingewöhnungsphase eines neuen Arbeitsverhältnisses der Klägerin ist daher im vorliegenden Fall nicht weiter einzugehen.

[30] 6.7 Das Gericht darf zwar die Parteien in seiner Entscheidung nicht mit einer Rechtsauffassung überraschen, die sie nicht beachtet haben und auf die sie das Gericht nicht aufmerksam gemacht hat (RS0037300). Überraschend ist eine Rechtsansicht des Gerichts, an die die Parteien mangels Erörterung nicht dachten oder denken mussten (RS0037300 [T24]). Das Rehabilitationsgeld dient, wie schon sein Name zeigt, der Umsetzung des Prinzips „Rehabilitation vor Pension“ und ist auch nach seinen Anspruchsvoraussetzungen untrennbar mit Fragen der Rehabilitation verknüpft (10 ObS 123/17m SSV‑NF 32/2 ua). Der Umstand, dass die Beistellung einer Begleitperson für die Klägerin bisher im Verfahren nicht als berufliche (sehr wohl aber als medizinische) Maßnahme der Rehabilitation erörtert worden ist, stellt keinen Aspekt dar, an den die Beklagte nicht hätte denken müssen, sodass es auch keiner weiteren Erörterung dieser Frage im Verfahren bedarf.

[31] Der Revision ist daher Folge zu geben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind im Sinne der Feststellung abzuändern, dass die Klägerin weiterhin Anspruch auf Rehabilitationsgeld hat (§ 143a Abs 1 letzter Satz ASVG).

[32] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm Abs 2 ASGG.

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