OGH 10ObS49/04k

OGH10ObS49/04k14.9.2004

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Hon. Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Jörg Krainhöfner und Eveline Umgeher (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Brigitta K*****, Landwirtin, *****, vertreten durch Mag. Johann Juster, Rechtsanwalt in Zwettl, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, Ghegastraße 1, 1031 Wien, vertreten durch Dr. Michael Stögerer, Rechtsanwalt in Wien, wegen Erwerbsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. November 2003, GZ 10 Rs 144/03z-28, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgericht vom 23. April 2003, GZ 7 Cgs 171/02h-23, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird mit der Maßgabe bestätigt, dass es anstelle des ersten Absatzes zu lauten hat:

"Der Anspruch der Klägerin auf Erwerbsunfähigkeitspension besteht dem Grunde nach ab dem 1. Februar 2002 zu Recht. Die Leistung fällt erst an, wenn die Klägerin die die Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nach dem BSVG begründende Erwerbstätigkeit aufgibt.

Der beklagten Partei wird aufgetragen, der Klägerin ab Aufgabe der die Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nach dem BSVG begründenden Erwerbstätigkeit bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von 100 EUR monatlich, jeweils am Monatsersten im Nachhinein zu erbringen."

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 333,12 EUR (darin 55,52 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 21. 3. 1959 geborene Klägerin hat 9 Klassen Volksschule besucht und danach in der kleinen Landwirtschaft ihrer Eltern gearbeitet. Während der Wintermonate 1974 hat die Klägerin einige Monate lang in einer Fabrik gearbeitet und hatte die Aufgabe, Holzsohlen für Schuhe abzuschleifen. Seit ihrer Eheschließung ist sie zusammen mit ihrem Mann Betriebsführerin in der Landwirtschaft mit einem Einheitswert von derzeit rund 1.400 EUR.

Die Klägerin hat eine Lenkerberechtigung nur für einen Traktor, nicht aber für einen PKW. Sie kann auch nicht mit einem Moped fahren. Die Klägerin wohnt in einem Weiler, der nicht an das öffentliche Verkehrsnetz angeschlossen ist; die nächsten Haltestellen eines öffentlichen Verkehrsmittels befinden sich in zwei jeweils 4 km vom Weiler entfernten Ortschaften. Von einer dieser Ortschaften verkehrt an jedem Werktag außer Samstag ein Bus in Richtung S***** bzw K*****, der um 5.40 Uhr bzw 5.45 Uhr abfährt, Ankunft jeweils 7.20 Uhr. Es verkehren auch Busse, die am Abend in die Gegenrichtung fahren.

Von einem rund 6 km vom Haus der Klägerin aus entfernten Ort kann Z***** an jeden Werktag in der Früh mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden; am Nachmittag oder Abend besteht auch eine Verbindung in der Gegenrichtung. Die Fahrzeit schwankt je nach Fahrtroute der Busse zwischen 30 und 60 Minuten.

Im Haushalt der Klägerin ist ein PKW vorhanden, der am 14. 12. 1947 geborene Ehemann der Klägerin hat auch eine Lenkerberechtigung für einen PKW. Bisher war der Ehemann der Klägerin als Landwirt tätig, allerdings wurde die Landwirtschaft der Klägerin und ihres Ehemanns in letzter Zeit durch Verkauf von bisher landwirtschaftlichen Grundstücken verkleinert. Der Ehemann der Klägerin ist beim Arbeitsmarktservice als arbeitssuchend gemeldet.

Im Vordergrund des Leidenszustandes der Klägerin steht eine rezidivierende depressive Störung. Die Klägerin ist nur gering psychisch belastbar, entsprechend der Tätigkeit eines Hilfsarbeiters bzw Bürogehilfen. Sie hält nur einfachem Zeitdruck Stand (zB Aufräumen einer Wohnung, Tätigkeiten eines Aktenträgers, Büroboten, Portiers und dergleichen). Das geistige Leistungsvermögen ist nur sehr einfach. Geeignet ist sie für Hilfsarbeiten im manuellen Bereich, die nur einer kurzen Unterweisung bedürfen und bei denen lediglich Aufsicht erforderlich ist, wie bei Gartenarbeiten, Verladearbeiten, Bürodiener, Hilfskräften in der Registratur etc.

Die Klägerin kann nur mehr tagespendeln, nicht aber wochenpendeln oder übersiedeln. Sie ist in den Produktionsbereich einer Fabrik einordenbar. Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist zumutbar, Tagespendeln mit einer Fahrzeit im Bus von 1 ½ bis 1 ¾ Stunden ist möglich. Die Klägerin kann einen Anmarschweg von 500 m zu einer Arbeitsstelle oder einer Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels zurücklegen.

Die Klägerin ist im gesamten Bereich der Landwirtschaft nicht mehr einsetzbar, weil dort in großem Maß kalkülsüberschreitende Hebe- und Tragetätigkeiten vorkommen. Am allgemeinen Arbeitsmarkt könnte sie eine Beschäftigung als Küchenhilfe oder Reinigungskraft finden.

Mit Bescheid vom 28. 6. 2002 hat die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Bauern den Antrag der Klägerin vom 22. 1. 2002 auf Erwerbsunfähigkeitspension abgelehnt.

Das Erstgericht hat die dagegen erhobene Klage abgewiesen. Es sei Sache der Klägerin, organisatorische Maßnahmen bzw eine Regelung zu treffen, die ihr das Erreichen des öffentlichen Verkehrsmittels bzw eines Arbeitsplatzes ermöglichen. So wäre denkbar, dass die Klägerin in der Früh von ihrem Ehemann zur Haltestelle des öffentlichen Verkehrsmittels oder zum Arbeitsplatz gebracht und am Abend wieder abgeholt werde oder sie sich einer privaten Fahrgemeinschaft anschließe. Derartige Fahrgemeinschaften seien in Orten mit ungünstiger oder fehlender Anbindung nicht unüblich. Es liege jedenfalls zumutbarerweise an der Klägerin, den Anmarschweg zu ihrem Arbeitsplatz im Rahmen der in ihrer Region üblichen Gegebenheiten zu gestalten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und sprach aus, dass der Anspruch der Klägerin auf Erwerbsunfähigkeitspension dem Grunde nach ab dem 1. 2. 2002 zu Recht bestehe. Die Leistung falle erst an, wenn die Klägerin die die Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nach dem BSVG begründende Erwerbstätigkeit aufgebe.

In rechtlicher Hinsicht führte das Berufungsgericht aus, dass der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit nach dem BSVG ebenso wie der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit nach dem ASVG auch dann eingetreten sei, wenn der Versicherte aus medizinischen Gründen nicht mehr im Stande ist, in zumutbarer Weise einen Arbeitsplatz zu erreichen. Nach der Rechtsprechung sei ein Versicherter so lange nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, als er ohne wesentliche Einschränkungen ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und vorher sowie nachher ohne zumutbare Pausen eine Wegstrecke von jeweils 500 m zurücklegen könne. Es sei nicht strittig, dass die Klägerin gesundheitlich in der Lage wäre, diesen Anforderungen hinsichtlich der Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen nachzukommen.

Wohl komme es bei Beurteilung der Frage der Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen grundsätzlich nicht auf die Verhältnisse am Wohnort des Versicherten, sondern am allgemeinen Arbeitsmarkt an. Im Allgemeinen habe somit der aktuelle Wohnort des Versicherten, sei er auch noch so abgelegen, als persönliches Moment so wie andere persönliche Umstände außer Betracht zu bleiben. Der Klägerin sei jedoch nur mehr Tagespendeln, nicht aber Wochenpendeln oder Übersiedeln möglich. Weiters stehe fest, dass zwar im Haushalt der Klägerin ein PKW vorhanden sei, jedoch lediglich der Ehegatte der Klägerin über eine Lenkerberechtigung verfüge. Die Klägerin selbst könne weder Autofahren noch Mopedfahren. Damit stehe aber fest, dass die Klägerin nicht mittels PKW oder Moped 4 bis 5 km zur nächsten öffentlichen Haltestelle zurücklegen könne, es sei denn, sie werde von ihrem Ehegatten täglich zur nächsten Haltestelle gebracht und abgeholt. Unter Bedachtnahme auf die sich aus dem Einheitswert von 1.410 EUR ergebenden wirtschaftlichen Verhältnisse, das Alter der Klägerin und ihre Schulausbildung könne ihr auch nicht zugemutet werden, eine Lenkerprüfung zu absolvieren, um dieses Manko auszugleichen. Der Wohnort der Klägerin sei ein kleiner Weiler, sodass nicht ohne Weiteres zugrunde gelegt werden könne, dass die Klägerin an einer Fahrgemeinschaft teilnehmen könnte. Bei den spezifischen Umständen dieses Einzelfalls ergebe sich somit, dass die Klägerin einen für sie in Betracht kommenden Arbeitsplatz nicht erreichen könne. Dies führe zu einer Abänderung des angefochtenen Urteils in klagestattgebendem Sinn.

Da die Klägerin nach wie vor zusammen mit ihrem Mann Betriebsführerin einer Landwirtschaft sei, deren Einheitswert nach den Angaben der beklagten Partei in der Klagebeantwortung zum Stichtag Jänner 2002 1.410,25 EUR betrage, sei ein Pensionsanfall aufgrund des Vorliegens der Pflichtversicherung nach dem BSVG nicht möglich.

Die ordentliche Revision sei zulässig, da keine Rechtsprechung vorliege, inwieweit bei Bewältigung der Anmarschwege auf die Mithilfe von Familienangehörigen zurückzugreifen sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagsabweisenden Sinn abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.

Die Begründung des angefochtenen Urteils ist zutreffend (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO). So wie eine bestimmte familiäre Situation bei der abstrakten Beurteilung der Verweisbarkeit nicht zugunsten des Versicherten von Bedeutung ist (RIS-Justiz RS0084939 [T9], RS0107503; zuletzt 10 ObS 154/02y), kann sie auch nicht zu Lasten des Versicherten herangezogen werden. Es läge an der beklagten Partei, im Rahmen der beruflichen Rehabilitation (§ 153 Abs 2 Z 3 BSVG) Hilfestellungen zu leisten, dass die Klägerin eine Arbeitsstelle erlangen kann. Diese Aufgabe kann nicht unter Berufung auf familiäre Beistandspflichten auf nahe Angehörige überwälzt werden.

Der Revision ist somit ein Erfolg zu versagen. Das angefochtene Urteil ist mit der Maßgabe zu bestätigen, dass dem beklagten Versicherungsträger gemäß § 89 Abs 2 ASGG eine ab dem Anfall der Leistung (Aufgabe der die Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nach dem BSVG begründenden Erwerbstätigkeit) bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheids zu erbringende vorläufige Zahlung aufzutragen ist (siehe 10 ObS 314/02b).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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